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III.3. M
oiren - Garanten der Ordnung im Schicksalsverlauf
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben,
So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.
Goethe
Sehr viel versteckter als im Fall der Götterstatuen und des Spruches über der
Haustür sind transzendente Mächte in Buddenbrooks auch in der Gestalt von Moiren
präsent.
Als Grünlich nach Travemünde kommt, um dem Liebesverhältnis Tonys mit Morten
ein Ende zu bereiten, ist Mortens Mutter mit dem Stopfen von Strümpfen beschäftigt
(M,I,150). Grünlichs Eingreifen beendet Tonys unbeschwerten Sommeraufenthalt und
bewirkt die am nächsten Morgen offiziell erklärte Verlobung. In der Nacht vor dem
Ausflug nach Schwartau, auf dem sich Tony mit Permaneder verloben wird, berät sie
sich mit Ida. "Die treue Preußin stopfte Strümpfe für die kleine Erika" (M,I,337,
Hervorhebung v.d.V.). An dem Abend, an dem Tony ihrem Bruder vorschlägt, die
Pöppenrader Ernte auf dem Halm zu kaufen, stattet sie auch Ida einen Besuch ab. Diese
"stopfte Hannos Strümpfchen" (M,I,460, Hervorhebung v.d.V.).
In allen drei Fällen steht eine wichtige Entscheidung bevor, die für Familie und Firma
von Bedeutung sein wird. Untersucht man nun den Roman nach weiteren Stellen, an
denen wichtige Ereignisse oder Handlungsumschwünge von handarbeitenden Frauen
begleitet werden, so kommt man zu folgendem Ergebnis:
Bei Grünlichs erstem Auftritt im Buddenbrookschen Garten ist die Konsulin mit einer
Seidenstickerei beschäftigt (M,I,93). Am Tag des Ausbruchs der "Revolution" in
Lübeck, an dem Leberecht Kröger sterben wird, stricken Clara und Klothilde
(M,I,179). Als man im Landschaftszimmer versammelt auf Jean wartet, der kurz darauf
einem Herzanfall erliegen wird, häkelt Ida (M,I,247). Als Thomas Hermann Hagenström
und Makler Gosch durch das Haus führt, das Hagenström kaufen möchte, strickt Tony
(M,I,606). Und als man aus der Zeitung erfährt, daß Maiboom sich umgebracht hat,
sind Gerda und Tony mit Handarbeiten beschäftigt (M,I,616f.).
Nun ist es an und für sich nicht erstaunlich, daß so viele handarbeitende Frauen in
Buddenbrooks begegnen, es erklärt sich aus dem Rollenverständnis der Frau in der
damaligen Zeit: In Gesellschaften, sogar im engen Familienkreis, galt "die Regel, wer von
den Damen nicht in Betreuung der Herren tätig ist, muß stricken", und "fast zwanghaft
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drückt man weiblichen Wesen eine Arbeit, meist einen Strickstrumpf, in die Hand".
196
In
diesem Sinne folgt Thomas Mann der gängigen Ikonographie der im Roman
beschriebenen Epoche. Aber erschöpft sich seine Darstellungsweise darin,
wirklichkeitsgetreue Genrebilder zu vermitteln?
Es ist darauf hingewiesen worden, daß die handarbeitenden Frauen nicht zu
beliebigen Zeiten erwähnt werden, sondern - ähnlich wie die Götterfiguren - an
bedeutenden Stellen, an denen sich das Schicksal der Buddenbrooks zum Unguten
wendet. Wir können also zunächst feststellen, daß sie, wie die Götterstatuen, auf zu
erwartende negative Ereignisse vorausdeuten. Bei diesen Ereignissen handelt es sich fast
immer entweder um Hochzeiten oder um Todesfälle.
Die Tätigkeit des Spinnens ist bereits bei Homer kennzeichnendes Attribut der
griechischen Schicksalsgöttin Moira.
197
Am Tag der Geburt spinnt sie den Lebensfaden
des Menschen, dessen
Schicksal damit unentrinnbar, unabänderlich feststeht. Meist
begegnet die Moira nicht allein, sondern in Gestalt dreier Schwestern: Klotho, die den
Lebensfaden spinnt,
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Lachesis, die das Leben zuteilt, und
Atropos, die den
Lebensfaden abschneidet.
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Diese Tätigkeiten erklären, warum die Moiren in engem
Zusammenhang mit
Geburt, Hochzeit und
Tod gesehen werden.
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Geburt und Tod,
Zeugung und Lebensende liegen in ihrer Hand, sie gewähren und begrenzen die
Lebenszeit der Menschen. Damit erscheinen sie als die Vertreterinnen und
Vollstreckerinnen eines "großen Welt- und Sittlichkeitsgesetz(es)", das "in
Notwendigkeit und Ordnung" angewandt wird.
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Anfang und Ende, aber auch der
Verlauf des Lebens selbst, werden von ihnen geregelt und geordnet.
Es ist also denkbar, daß die offenbar so bewußt an bedeutenden Romanstellen
plazierten handarbeitenden Frauen das stille Wirken der Schicksalsgöttinnen
symbolisieren sollen, zumal sie häufig vor Hochzeiten und Todesfällen erwähnt werden,
so daß sie diese Ereignisse regelrecht anzukündigen scheinen, die auch das
Wirkungsfeld der Moiren sind. Dies würde unsere These, daß in Buddenbrooks ein
fatalistisches Weltbild herrscht, stützen: Die Moiren garantieren den ordnungsgemäßen,
geregelten Wechsel von Geburt und Tod, sie regeln die individuellen, vergänglichen
196
Hildegard Westhoff-Krummacher: Katalog zur Ausstellung "Als die Frauen noch sanft und
engelsgleich waren. Die Sicht der Frau in der Zeit der Aufklärung und des Biedermeier" im
Westfälischen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster, Münster 1995, S.47, vgl.
auch S.139-169
197
Vgl. Hanspeter Padrutt:
Und sie bewegt sich doch nicht. Parmenides im epochalen Winter,
Zürich 1991, S.398
198
Eine der strickenden Frauen in Buddenbrooks heißt Klothilde.
199
Vgl. Padrutt: Parmenides, S.397
200
Vgl. Padrutt: Parmenides, S.398
201
W. H. Roscher: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Hildesheim
1965, Band II/2, Sp. 3092
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Einzelschicksale im ewig gleichen Sein mit strenger Unerbittlichkeit. Zudem ist das
Schicksal jedes Menschen bereits bei dessen Geburt unabänderlich festgelegt. Der
Verlauf des Lebens unterliegt folglich dem Gesetz einer strengen Notwendigkeit.
Do'stlaringiz bilan baham: