Vgl. Klein: Infektionskrankheiten, S.45
Vgl. Fiebig: Beziehungen, S.86f.
70
Des Menschen Thaten und Gedanken, wißt!
Sind nicht wie Meeres blind bewegte Wellen.
Die innre Welt, sein Mikrokosmos, ist
Der tiefe Schacht, aus dem sie ewig quellen.
Sie sind notwendig, wie des Baumes Frucht,
Sie kann der Zufall nicht verwandeln.
Hab' ich des Menschen Kern erst untersucht,
So weiß ich auch sein Wollen und sein Handeln.
Schiller
Die ausführliche Analyse der vier beispielhaft herausgegriffenen Biographien hat
gezeigt, wie folgerichtig und keineswegs zufällig die einzelnen Lebensläufe auf den
individuellen Tod hin angelegt sind. "Der Standort der jeweiligen Person in der
Entwicklung auf den Verfall hin ist das allgemein motivische Fundament der besonderen
Umstände des Todes dieser Figur (und deren Beschreibung)".
164
Je weiter der Abstieg
der Buddenbrooks fortschreitet und offensichtlich wird, desto häufiger werden
Symptome genannt, und desto früher zeigen sie sich im Leben der einzelnen Figuren.
Auch nehmen die Schilderungen des Sterbens immer mehr Raum ein. Stellen sich die
Tode Johann Buddenbrooks d.Ä., seiner Frau Antoinette, Jeans und Bethsys trotz der
vereinzelt aufgetretenen Vorausdeutungen noch eher überraschend ein, so rechnet man
bei Thomas und besonders bei Hanno relativ früh mit dem Tod.
Harmlos und sanft sind die Symptome, die die Tode in der ersten Generation
einleiten (Johann und Antoinette). Jeans und Bethsys Tode dagegen haben etwas
Gewaltsames, Unheimliches an sich. Jean und Thomas sterben beide, weil sie die
Warnungen ihres Körpers vor Überarbeitung nicht ernst nehmen; Thomas' und Bethsys
Tode verbindet, daß sie die widerliche Kehrseite ihrer auf glänzende Fassade und
äußerliche Akuratesse bedachten Existenz bloßlegen. Bei Hanno bestätigen die
Symptome der Krankheit, an der er stirbt, nur diejenigen, die er immer schon kannte
und die seinem Wesen besonders entsprechen.
"Der Tod ist die zusammenfassende Schlußcharakteristik; d.h. jeder stirbt einen ihm
gemäßen Tod (...), jede Beschreibung des Todes ist der betroffenen Figur angemessen,
ist aus ihrer besonderen Charakteristik entwickelt".
165
So ergänzt
die eingehende
Betrachtung der einzelnen Tode die jeweilige Personencharakteristik, beziehungsweise
sie bestätigt sie.
166
Der Tod bricht nicht unvermittelt herein, sondern Todesursache und
individuelles Sterben entsprechen der jeweiligen Person. Der Tod "erhält dramatische
Notwendigkeit, indem er das verlöschende Leben retrospektiv deutet".
167
Das Sterben
als physiologischer Vorgang wird psychologisch motiviert.
164
Fiebig:
Beziehungen, S.85
165
Fiebig:
Beziehungen, S.85
166
Vgl. hierzu: Schleifenbaum:
Gestaltanalyse, S.138
167
Höpfner:
Physiognomie, S.99
71
So vermittelt die genaue Analyse der verschiedenen Tode im Hinblick auf den
jeweiligen Charakter des Sterbenden die Einsicht, daß "alles, was der Einzelne tut und
alles, was ihm zustößt (...), nichts (ist) als die dramatische Entfaltung dessen, was er
recht eigentlich ist".
168
Die Technik der Vorausdeutung in Buddenbrooks dient also in
diesem Fall der Vermittlung der Erkenntnis, daß der
Charakter einer Figur zu ihrem
Schicksal in Beziehung steht. Die Vorausdeutungstechnik
ist ein Mittel, dies zu
veranschaulichen und Zusammenhänge und Folgerichtigkeit des Geschehens erkennbar
zu machen.
Der Zusammenhang von Charakter und Schicksal ist auch bei Schopenhauer ein
zentraler Gedanke. Er meint, daß das Schicksal jedes Menschen durch zwei Faktoren
bestimmt werde, zum einen durch seinen Charakter, der von Geburt an unabänderlich
festgelegt sei, zum anderen durch "die Motive: diese liegen außerhalb, werden durch den
Weltlauf nothwendig herbeigeführt und bestimmen den gegebenen Charakter, unter
Voraussetzung seiner feststehenden Beschaffenheit, mit einer Nothwendigkeit, welche
der mechanischen gleichkommt" (S,VII,229, Hervorhebungen v.d.V.). Charakter und
Schicksal, "Motive" und "Weltlauf", werden bei jedem Menschen auf ganz individuelle
Weise verknüpft, und jedes Individuum hat eine eigene Art, mit den von außen
einwirkenden Umständen umzugehen, sich an sie zu assimilieren. Charakter und
Schicksal stimmen also überein, sie gehen bei jedem Menschen eine einzigartige
Verbindung ein. Wichtig ist, daß Schopenhauer auch hier wieder den Begriff der
Notwendigkeit verwendet. In Schopenhauers Weltbild geschieht alles mit
Notwendigkeit und Folgerichtigkeit. Die Einheit von Schicksal und Charakter ist nur ein
Teil des gewaltigen Systems von Zusammenhängen, die alle miteinander verbunden sind.
Im ersten Satz des Zauberbergs wird vom Erzähler ausdrücklich darauf
hingewiesen, daß Hans Castorps Geschichte "seine Geschichte ist, und daß nicht jedem
jede Geschichte passiert" (M,III,9). Wie Schopenhauer ist auch Thomas Mann von der
Einheit von Schicksal und Charakter überzeugt,
169
und das ist vor dem
Zauberberg
bereits in den Buddenbrooks deutlich zu erkennen.
170
Die ausführliche Analyse der vier
Biographien im Zusammenhang mit den jeweiligen Toden hat gezeigt, wie sich bei den
einzelnen Figuren unter Einwirkung der jeweiligen Lebensumstände der ganz individuelle,
jedem Charakter entsprechende Lebenslauf und Tod entwickelt. Bereits in frühen
Stadien des Romans zeichnet sich oft folgerichtig das Ende ab.
168
Heller: ironischer Deutscher, S.15
169
Vgl. Reents: Rezeption, S.221
170
Vgl. Gustaf Lundgren: Das Ich als Weltnabel. Schicksalsphilosophie in Thomas Manns Joseph-
Roman, in:
Neue Rundschau - Sonderausgabe zu Thomas Manns 70. Geburtstag (1945), S.183-187,
S.183