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Die überschaubaren, eingegrenzten Welten in
Buddenbrooks (die Stadt Lübeck), im
Zauberberg (das Sanatorium 'Berghof') oder im
Joseph repräsentieren in ihrer
Abgeschlossenheit, als Mikrokosmos, jeweils die Menschheit in ihrer Totalität.
Paradigmatisch werden sie zur Wirkungsstätte ewig gleicher, ewig gültiger Gesetze, zum
Schauplatz immer gleicher Phänome und Ereignisse. Die Welten in den genannten
Romanen sind hermetisch abgeschlossen von der Außenwelt, von anderen Zeiten und
Räumen. Was in Buddenbrooks nicht in Lübeck oder Travemünde geschieht, wird
entweder durch die Familienchronik oder durch Berichte und Briefe übermittelt. In
dieser äußersten Konzentration auf einen bestimmten räumlichen und zeitlichen Rahmen
wird eine fiktive Welt geschaffen, die über sich selbst hinaus repräsentativ ist, die auf die
Menschheit als Ganzes verweist, und die den immer gleichen Gesetzen des Seins
unterworfen ist. Das Gleiche gilt für die Welt des Sanatoriums im Zauberberg: Diese
Welt "hier oben" ist alleiniger Schauplatz des Romans, über die Ereignisse im
"Flachland" wird nur berichtet.
"Was in den Buddenbrooks noch ohne programmatische Konzeption (...) wirksam
ist", wird sich später zur mythischen Form "entwickeln und zu theoretischer Bewußtheit
steigern." Schon in Buddenbrooks finden sich Ansätze der späteren mythischen
Konzeption: Bereits dort erhält der Leser "Einblick in die universale Dimensionalität des
Einzelfalles und seine repräsentative Allgemeinheit".
217
Es wäre ein Anachronismus, Thomas Mann bereits zur Zeit der Buddenbrooks-
Niederschrift die Absicht, einen mythischen Roman schreiben zu wollen, zu unterstellen.
Doch wenn man die Entwicklung seiner Romankunst und seiner Romantheorie
betrachtet, so läßt sich bereits in der Anfangsphase seiner schriftstellerischen Tätigkeit
der Keim zu seinem späteren Mythosverständnis entdecken.
218
Nicht zuletzt erklärbar
durch den Einfluß Schopenhauers auf Thomas Mann findet sich bereits in dessen
Frühwerk das Mythische als "das Ewige im Vergänglichen und Notwendige im
Zufälligen".
219
Die
Erkenntnisse der Psychoanalyse, Freuds und Jungs, haben Thomas
Manns Mythosbegriff entscheidend beeinflußt, und dies geschah erst lange, nachdem die
Buddenbrooks abgeschlossen waren; doch Dierks meint, daß
Thomas Mann in den
Erkenntnissen dieser beiden letztlich die altbekannte schopenhauersche Weltsicht
wiederbegegnet sei.
220
Dies bestätigt Thomas Mann in seinem Aufsatz
Freud und die
Zukunft
221
(M,IX,484). Er meint sogar, in Schopenhauers Essay
Transcendente
Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen
217
Jendreiek: demokratischer Roman, S.126. Vgl. hierzu auch Schleifenbaum: Gestaltanalyse, S.160
218
Vgl. Cecil A. M. Noble: Dichter und Religion: Thomas Mann - Kafka - T. S. Eliot, Frankfurt am
Main, New York, Paris 1987, S.47
219
Jendreiek:
demokratischer Roman, S.19
220
Noble:
Dichter, S.47f.
221
Thomas Mann:
Freud und die Zu kunft , in: M,IX, S.478-501
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seien wichtige Entdeckungen und Erkenntnisse der Psychoanalyse bereits
vorweggenommen (M,IX,487).
Was bei Thomas Mann zu Beginn Repräsentativität war, wird später zum
Mythischen.
222
In dem Vortrag zu Joseph und seine Brüder schreibt er, daß sich sein
früherer "Geschmack an allem bloß Individuellen und Besonderen, dem Einzelfall", mit
zunehmendem Alter zum Interesse am Typischen, das identisch mit dem Mythischen sei,
gewandelt habe (M,XI,656). Das ist Gegensatz und Kontinuität zugleich: In
Do'stlaringiz bilan baham: