Buddenbrooks sind die Figuren trotz einiger typenhafter Charaktere teilweise noch sehr
individuell gestaltet, besonders Figuren wie Hanno oder Thomas Buddenbrook, denen
durch die ausführliche Darlegung ihrer Innenperspektive ein Großteil Subjektivität
zugestanden wird. Hier wird die Existenz des einzelnen noch nicht verstanden als ein "In-
Spuren-Gehen" (M,IX,492) in den Spuren anderer, wie später in Joseph und seine
Brüder. Doch bereits hier steht das Individuelle, Persönliche nie für sich selbst, es ist nie
nur Selbstzweck, sondern verweist immer auf das Ganze, ermöglicht einen Ausblick auf
das Allgemein-Menschliche, Bleibende, Immergültige. Durch die Ausgestaltung der
Einzelheit, der individuellen Existenz, wird diese "zum Modellfall der universalen Totalität
des Humanen".
223
Wysling spricht von einer "kopernikanischen Wendung" Thomas Manns durch den
Josephsroman: "Während Thomas Mann im Frühwerk versucht, das Individuelle ins
Typisch-Mythische auszudehnen, indem er es auf vorgegebene Substrate bezieht, geht
er hier umgekehrt vom Mythisch-Vorgeprägten aus und überdeckt es mit verschiedenen
in der Tradition und im eigenen Erleben gegebenen 'Wiederholungen'".
224
Dem fatalistischen Weltbild im schopenhauerischen Sinne, wie es sich in
Buddenbrooks darstellt, und dem mythischen Weltbild, wie es in Joseph und seine
Brüder erscheint, ist gemeinsam, daß in beiden das Schicksal als im voraus festgelegt
verstanden wird. Das "Immer-Wiederkehrende, Zeitlose" (M,XI,656) bestimmt die
jeweilige Romanhandlung, und die wechselnden Individuen stehen jeweils immer für die
gleiche Idee, was im Josephsroman bis zum Verschwimmen der Identitätsgrenzen, bis
zur vollständigen Identifikation mit einer anderen Person gehen kann.
225
222
Vgl. Jendreiek: demokratischer Roman, S.20
223
Jendreiek: demokratischer Roman, S.10
224
zitiert nach Gunilla Bergsten: Thomas Mann und der dokumentarische Roman, in: Beatrix Bludau,
Eckhard Heftrich und Helmut Koopmann (Hrsg.): Thomas Mann 1875-1975. Vorträge in München,
Zürich und Lübeck , Frankfurt am Main 1977, S.677-687, S.681. Vgl. auch Wysling: Mythos, S.15 ff.
225
Vgl. etwa Jaakobs Identifikation mit Abraham (M,IV,104ff.), Eliezers Ähnlichkeit und
Identifikation mit Abrahams Knecht Eliezer, so daß er "ich" sagt, wenn er von diesem erzählt
(M,IV,421), Josephs Rechtfertigung, daß er Rahels Schleiergewand tragen dürfe, weil er nun die
Mutter sei (M,IV,500), die Quasi-Identität Jaakobs mit Rebekka, als er Joseph verabschiedet
(M,IV,527f.), usw.
87
Vorstufen dessen finden sich bereits in den Buddenbrooks. So stellt z.B. Tony ihre
Tochter Erika mit genau den gleichen Worten vor die Entscheidung, Weinschenk nach
dessen Verurteilung zu verlassen oder bei ihm zu bleiben, mit denen ihr Vater sie
angesichts Grünlichs Bankrotts zur Entscheidung brachte. Neben der Verwendung
identischer Wendungen weist der Erzähler noch explizit darauf hin, daß sich bei Erika
Tonys Schicksal bis in die Einzelheiten wiederholt: Beide geraten in der Hoffnung, eine
gute Partie zu machen, an einen Betrüger, und beide werden mit den gleichen Worten
genötigt, diesen zu verlassen (M,I,640). Auch daß Tony und Hanno viele Einzelheiten
ihres Travemünde-Aufenthaltes und ihrer Rückkehr nach Lübeck gleich erleben, wird
durch wörtliche Entsprechungen und teilweise ganze wörtlich gleiche Absätze
verdeutlicht.
226
Hanno vollzieht damit nicht nur, ohne es zu wissen, Tonys Erleben nach,
es entsteht zudem der Eindruck, die Zeit sei aufgehoben, eine Wirkung, die auch durch
das Leitmotiv erreicht wird.
227
Die Zeitlosigkeit aber nennt Thomas Mann in seinem
Joseph-Vortrag als ein wichtiges Charakteristikum des Mythischen (M,XI,656).
Der Unterschied zwischen Buddenbrooks und dem Josephsroman besteht darin,
daß in letzterem einige Figuren sich ihres "In-Spuren-Gehens" (M,IX,492) bewußt sind
und beginnen, mit den verschiedenen Identitäten zu spielen. So sagt Joseph zu Jaakob:
"Das ist aber der Vorteil der späten Tage, daß wir die Kreisläufe schon kennen, in
denen die Welt abrollt, und die Geschichten, in denen sie sich zuträgt und die die Väter
begründeten" (M,IV,106).
In Kreisläufen vollzieht sich das Geschehen in der Welt schon in Buddenbrooks, das
Ineinanderzahnen von Anfang und Ende, das wechselnde Aufsteigen und Untergehen
der Ratenkamps, Buddenbrooks und Hagenströms zeigen dies. Doch im Unterschied zu
Joseph und seine Brüder ist diese Gesetzmäßigkeit, diese zyklische Struktur, nur
romanimmanent vorhanden, sie ist aus dem Handlungsverlauf und aus bestimmten
Hinweisen des Erzählers zu erkennen, den Romanfiguren jedoch bleibt sie meist
verborgen. Das Erkennen dieser Kreisläufe und das souveräne Spiel mit ihnen ist erst
den Figuren des Josephsromans möglich.
228
Sie erkennen, wie sehr ihr Leben "Formel
und Wiederholung, ein Wandeln in tief ausgetretenen Spuren ist" (M,IX,494). Und sie
bejahen dieses Leben, denn sie verfügen über "das lächelnde Wissen vom Ewigen,
Immerseienden, Gültigen, vom Schema, in dem und nach dem das vermeintlich ganz
Individuelle lebt" (M,IX,493).
229
Bei Schopenhauer liest Thomas Buddenbrook von den "Gitterfenstern seiner
Individualität" (M,I,657), durch die hindurch er sehnsüchtig auf den Tod als einzig
226
Vgl. M,I,124/630,129/631,142/635,155/636
227
Vgl. Schlee: Wandlungen, S.24
228
Vgl. Michielsen: Preparation, S.109
229
Vgl. Wysling: Mythos, S.18 und Lundgren: Weltnabel, S.183ff.
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mögliche Befreiung blickt. Joseph dagegen erfährt: "Der Charakter ist eine mythische
Rolle" (M,IX,494). Aus dem Wissen, daß das eigene Schicksal bereits feststeht,
resultiert kein Gefühl des Ausgeliefertseins; vielmehr verleiht gerade dieses Wissen
Joseph Sicherheit, da er sich aufgehoben im vergangenen Geschehen weiß. "Die
Möglichkeit zum 'Wiedererkennen' (...) kann genutzt werden zur Erkenntnis der
geheimen 'Vorgeschriebenheit' des Dargestellten. Ohne daß man darum den
Jugendroman schon als eine mythische Erzählung bezeichnen müßte, läßt sich an seinen
Ansätzen zur Typisierung der so peinlich genau geschilderten Vorgänge und Charaktere
doch die Richtung erkennen, die Thomas Manns Erzählkunst nimmt: die Richtung auf
den Ausgleich und die heitere Durchdringung von Psychologie und Mythos".
230
So zeigt
es sich, daß das mythische Weltbild, wie es Joseph und seine Brüder bestimmt,
bereits in dem fatalistischen Weltbild der Buddenbrooks im Keim enthalten ist.
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten,
So mußt du seyn, dir kannst du nicht entfliehen...,
und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
Goethe
230
Lämmert: Interpretation, S.224
89
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