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In der Thomas-Mann-Forschung herrscht eine große Begriffsverwirrung
der beiden
Termini 'Mythos' und 'Mythologie'.
211
Oft werden beide sogar gleichgesetzt. Bereits ein
Blick ins Lexikon oder in die einschlägige Fachliteratur zeigt, daß schon der Begriff
'Mythos' ganz verschieden verstanden wird. Da Thomas Mann verschiedenste Mythos-
Konzeptionen rezipiert hat,
212
wäre eine klare Definition umso dringender erforderlich.
Um zu dieser Verwirrung nicht noch beizutragen, wird im Folgenden unterschieden
zwischen 'Mythos' und 'Mythologie', wobei die Mythos-Definition Thomas Manns
übernommen wird, die er 1942 in seinem Vortrag zu Joseph und seine Brüder gegeben
hat
213
: Das Mythische, sagt er dort, sei "das Typische,
Immer-Menschliche, Immer-
Wiederkehrende, Zeitlose" (M,XI,656). In Abgrenzung davon kann man von
mythologischen Figuren oder einem mythologischen Handlungsverlauf sprechen, wenn
eine Romanfigur oder ein Handlungsstrang eindeutig mythologischen Vorbildern folgt.
214
In der autobiographischen Studie On myself
215
berichtet Thomas Mann, daß,
als er
einzelne Kapitel der Buddenbrooks im Familien- und Freundeskreis vorgelesen habe,
alle geglaubt hätten, dieses Buch sei "eine ganz private Angelegenheit", ein "Familienspaß
ohne öffentliche Bedeutung" (M,XIII,139). Als der Roman dann gedruckt erschienen
war, stellte Thomas Mann erstaunt fest, daß er offensichtlich "ein Stück deutscher
Seelengeschichte" geschrieben hatte
216
(M,XI,383). Nicht mehr nur ein kleiner Kreis,
sondern eine ganze Nation teilte und bestätigte die Erfahrungen, die er individuell,
persönlich, subjektiv beschrieben hatte. Als sich diese Erfahrung in der Folge der
zahlreichen Übersetzungen auf das europäische Ausland ausweitete, kommentierte
Thomas Mann: "Man gibt das Persönlichste und ist überrascht, das Nationale getroffen
zu haben. Man gibt das Nationalste - und siehe, man hat das Allgemeine und
Menschliche getroffen" (M,XI,385). Im Glauben, persönliche und ureigene Erfahrungen
zu beschreiben, hatte er das Allgemein-Menschliche, das Typische getroffen.
Viele Jahre später setzt er in seinem Vortrag zu Joseph und seine Brüder (1942)
das "Typische, Immer-Menschliche, Immer-Wiederkehrende, Zeitlose" gleich mit dem
Mythischen: "Denn das Typische ist ja das Mythische schon (...), zeitloses Schema und
von je gegebene Formel, in die das Leben eingeht" (M,XI,656).
211
Vgl. u.a. Helmut Jendreiek: Thomas Mann. Der demokratische Roman, Düsseldorf 1977, S.126,
Lämmert:
Interpretation, S.223 und Ebel:
Integration, S.133
212
Schopenhauer, Goethe, Freud, Bachofen, Jung, Rohde und Kerényi, vgl. hierzu Jendreiek:
demokratischer Roman, S.20, Hans Wysling:
Mythos und Psychologie bei Thomas Mann, Zürich
1969, S.16 und Agnes Schlee: Wandlungen musikalischer Strukturen im Werke Thomas Manns.
Vom Leitmotiv zur Zwölftonreihe, Frankfurt am Main, Bern 1981, S.45
213
Thomas Mann:
Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag, in: M,XI, S.654-669
214
Vgl. z.B. folgende Studien: Singer:
Helena, Koopmann:
Der schwierige Deutsche. Studien zum
Do'stlaringiz bilan baham: