Buddenbrooks, so fällt eine große Diskrepanz auf. Hanno wirkt fast erwachsen mit
seinem altklugen Blick, der einen Bewußtseinsstand voraussetzt, den ein vier Wochen
altes Kind nicht haben kann, ganz abgesehen von dem Mangel an Erfahrungen, die einer
solchen Haltung vorausgehen müssen.
Ganz nur passives Dasein, nicht rezeptives, geschweige denn wertendes Bewußtsein
zeichnet die neugeborene Clara aus, die "rasch und geräuschvoll Luft holte", einen
"warmen, gutmütigen und rührenden Duft" ausströmte und deren "gelbe, runzlige
Fingerchen eine verzweifelte Ähnlichkeit mit Hühnerklauen besaßen" (M,I,59). Noch
über die bereits ein Jahr alte Tochter Erikas, Elisabeth, wird gesagt, es sei "unmöglich,
über ihren Gemütszustand zu urteilen." Das Kind "hielt seine Daumen in die winzigen
Fäuste geklemmt, sog an seiner Zunge, blickte mit etwas hervortretenden Augen starr
vor sich hin und ließ dann und wann einen kurzen, knarrenden Laut vernehmen, worauf
das Mädchen es ein wenig schaukeln ließ" (M,I,531f.).
Das Bewußtsein dieser kleinen Kinder befindet sich noch in einem Dämmerzustand,
der es ihnen unmöglich macht, über die Welt zu urteilen. Anders ist es bei Hanno.
Thomas Mann verläßt hier den Boden der realistischen Schilderung und erzählt nicht mit
realistischer, sondern mit poetischer Folgerichtigkeit. Hanno stirbt mit sechzehn Jahren,
und dieses Sterben am Typhus wird als sein bewußter Willensakt dargestellt.
134
Wer mit
sechzehn Jahren nicht mehr leben möchte, sich sogar fragt: "womit werde ich beißen,
wenn ich dreißig, vierzig Jahre alt bin?" (M,I,744), weil alle seine Zähne unterminiert
sind, und sich dann, vor die Wahl gestellt, weiterzuleben oder zu sterben, für den Tod
entscheidet, der muß früh eine Anlage in dieser Richtung entwickelt haben.
Die bläulichen Schatten in den Augenwinkeln, die Hanno von Gerda geerbt hat,
deuten bereits auf seine Dekadenz und körperliche Fragilität einerseits, auf seine
134
Vgl.M,I,754 und diese Arbeit, gleiches Kapitel , S.68ff.
61
Vorliebe für die Musik andererseits hin.
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Hannos Geburt ist die einzige aller im Roman
erwähnten Geburten, bei der Doktor Grabow eine wichtige Rolle zufällt,
136
der doch
sonst nur bei Krankheiten und Todesfällen zu Rate gezogen wird. Auch dies deutet auf
Hannos zahlreiche Krankheiten und seinen frühen Tod voraus.
Die Wahl der Taufpaten ist ebenfalls bezeichnend. Es ist zum einen der über
achtzigjährige Bürgermeister Oeverdieck, der so schwach ist, daß er am Stock und auf
Thomas gestützt geht, zum andern Justus Kröger, der kaum noch finanzielle Rücklagen
hat, seit seine Frau alles Geld heimlich dem nach Amerika geflohenen Sohn geschickt
hat. Einer der Paten ist zwar noch gesellschaftlich repräsentativ, dafür aber
altersschwach und gebrechlich, der andere ist gesellschaftlich bereits in unbedeutende
Kreise abgestiegen und wird nur aus Familiensinn gewählt.
137
In beiden ist Hannos
schwache Konstitution und sein Nichtbestehenkönnen vor der Gesellschaft bereits
angedeutet.
In engerer Auswahl als Pate war auch Stephan Kistenmaker, der, wie gezeigt wurde,
kurz vor dem Tod Thomas Buddenbrooks als Todesbote auftritt. Sein sprechender
Name und sein Amt als Testamentsvollstrecker hätten ihn durchaus auch zu einem Paten
für Hanno prädestiniert.
138
Daß er in Erwägung gezogen wurde, ist also ebenfalls ein
Hinweis auf Hannos Zukunft, der jedoch erst beim zweiten Lesen des Romans als
solcher verstanden werden kann, da Thomas erst Jahre nach der Taufe Hannos stirbt.
Ebenfalls auffällig ist die bedeutsame kleine Abwandlung bei Sesemis stereotypem
Segensspruch. Ihr sonst immer wörtlich gleicher Wunsch "Sei glöcklich, du gutes
Kend!" (M,I,165,446) wird bei Hanno auf das Bruchstück "Du gutes Kend!" (M,I,400)
"sinnschwer verkürzt".
139
Zwar gehen Sesemis gutgemeinte und in unerschütterlichem
Optimismus ausgesprochene Wünsche ohnehin nie in Erfüllung, doch angesichts dieses
Täuflings scheint sogar sie Zweifel an seiner glücklichen Zukunft zu haben, denn
fürsorglich gibt sie ihm, was ebenfalls ungewöhnlich ist, "zwei Küsse" (M,I,400) statt
einen.
Bedeutsam ist schließlich auch der Auftritt des letzten Gratulanten, des
Speicherarbeiters Grobleben. Er überreicht "ein großes Bouquet von blassen, ein wenig
zu weit erblühten Rosen, die sich zum Teil langsam auf den Teppich entblättern"
135
Bei Gerda werden die bläulichen Schatten fast nur an Stellen erwähnt, an denen sie musiziert oder
Musik aufnimmt.
136
Doktor Grabow wird von der Konsulin zu Rate gezogen, als sich bei Thomas und Gerda nach
mehreren Ehejahren kein Nachwuchs einstellt. Er verordnet Kuren, vgl. M,I,364.
137
Vgl. Schwan: Festlichkeit, S.24
138
Vgl. diese Arbeit, Kapitel II.2.3., S.55
139
Matthias: Erzählweise, S.51. Vgl. auch Charlotte Jolles: Sesemi Weichbrodt: Observations on a
Do'stlaringiz bilan baham: |