Unbefangenheit unerträglich aufreizenden Tohuwabohu" geworden ist (M,I,494,
Hervorhebungen v.d.V.). Mit achtundvierzig Jahren rechnet Thomas bereits mit seinem
Tod (M,I,650). Er ist so einsam und isoliert, und sein Wunsch nach Ruhe und Frieden
ist so groß, daß es ihm manchmal scheint, "daß er schon nicht mehr eigentlich mit den
Seinen zusammensitze, sondern, in eine gewisse, verschwommene Ferne entrückt, zu
ihnen herüberblicke" (M,I,651).
Der betäubende Rausch der Zigaretten wird zeitweise durch den metaphysischen der
schopenhauerschen Philosophie ersetzt. Verlockend ist diese für ihn vor allem deshalb,
weil sie angesichts des Todes seine dringenden Fragen beantwortet. "Der Tod ist die
größte Infragestellung der Bürgerlichkeit, denn er macht alles Erworbene" zunichte. Er
"verhöhnt den Willen zur Leistung und zur Form. Er ist schmutzig, ekelhaft, körperlich
und formlos".
115
Zumindest ist er es in Buddenbrooks bei denen, für die die Form
besonders wichtig ist: bei der Konsulin und bei Thomas. Das Erlösende an der
schopenhauerschen Philosophie ist für Thomas der Gedanke der steten Ewigkeit, des
nunc stans: "Nichts begann und nichts hörte auf. Es gab nur eine unendliche Gegenwart"
(M,I,659). Doch "Thomas Buddenbrook gelingt es noch nicht, dieses Erlebnis
festzuhalten. Die Bürgerlichkeit holt ihn am anderen Tage noch einmal ein".
116
Nicht lange danach jedoch fährt er auf Anraten seines Arztes ans Meer, nach
Travemünde. Und dort begegnet ihm das schopenhauersche nunc stans wieder, das
113
Vgl. Kirchhoff: Fest, S.33
114
Vgl. Kirchhoff: Fest, S.33
115
Hermann Kurzke: Thomas Mann. Epoche - Werk - Wirkung, München 1985, S.76
116
Kurzke: Epoche, S.78
53
schon Tony und Hanno dort, im Seewind, "welcher einen angenehmen Schwindel
hervorrief, eine gedämpfte Betäubung, in der das Bewußtsein von Zeit und Raum und
allem Begrenzten still selig unterging..." (M,I,632), kennengelernt haben. Gemeinsam mit
Tony schreitet er noch einmal alle Stationen ihres früheren Glücks mit Morten ab.
Es ist Herbst, es regnet, die Dämmerung bricht herein (M,I,671). Tonys und Hannos
glückliche Travemünde-Aufenthalte wurden einst beide beendet durch die
Unerbittlichkeit des Lebens, die in der beide Male fast wörtlich übereinstimmenden
Beschreibung des Meeres versinnbildlicht war: "Die trübe, zerwühlte See war weit und
breit mit Schaum bedeckt. Große, starke Wogen wälzten sich mit einer unerbittlichen
und furchteinflößenden Ruhe heran, neigten sich majestätisch (...) und stürzten lärmend
über den Sand" (M,I,142/635, Hervorhebungen v.d.V.).
Was bei Hanno und Tony nur gleichnishaft in der Meeresschilderung ausgedrückt
war, faßt Thomas nun in Worte: "Breite Wellen... (...). Wie sie daherkommen und
zerschellen, daherkommen und zerschellen, eine nach der anderen, endlos, zwecklos,
öde und irr. Und doch wirkt es beruhigend und tröstlich, wie das Einfache und
Notwendige" (M,I,672, Hervorhebung v.d.V.). Hier, im immer gleichen Spiel der
Wellen, findet er die Entsprechung dessen, was er bei Schopenhauer als nunc stans
kennengelernt hat. Thomas begreift, daß er zu der Sorte Menschen gehört, die "der
Monotonie des Meeres den Vorzug" gegenüber der "Vielfachheit" des Gebirges geben
(M,I,672). Er erkennt in der "Weite des Meeres, das mit diesem mystischen und
lähmenden Fatalismus seine Wogen heranwälzt" (M,I,672), die Notwendigkeit, das
ewige Gesetz des Daseins. "Zwecklos, öde und irr" erscheint es oft dem Betrachter und
unterliegt dennoch der Ordnung des festgelegten Schicksals.
117
Wie ganz zu Beginn sein Vater Jean von der Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit
sprach, mit der "das Schicksal erfüllt werde" (M,I,25), so deutet nun auch Thomas die
menschliche Existenz als etwas, das bestimmten Gesetzen und nicht der Willkür des
Zufalls unterliegt. Und diese Einsicht ist tröstlich: "Denn es gilt von den inneren
Umständen, was von den äußeren, daß es nämlich für uns keinen wirksamern Trost
giebt, als die volle Gewißheit der unabänderlichen Nothwendigkeit." Nichts ist
"wirksamer zu unserer Beruhigung (...), als das Betrachten des Geschehenen aus dem
Gesichtspunkte der Nothwendigkeit, aus welchem alle Zufälle sich als Werkzeuge eines
waltenden Schicksals darstellen und wir mithin das eingetretene Uebel als durch den
Konflikt innerer und äußerer Umstände unausweichbar herbeigezogen erkennen, also
der Fatalismus" (S,II,384). Dieser "Fatalismus höherer Art", der Thomas hier das
Gesetz des Daseins erkennen läßt, setzt sich, so Schopenhauer, "aus den Erfahrungen
117
Vgl. Ernst Keller: Leitmotive und Symbole, in: Moulden, von Wilpert: Buddenbrooks-Handbuch,
S.129-143, S.139f.
54
des eigenen Lebens allmälig ab", und man kommt schließlich zu der Überzeugung, "daß
der Lebenslauf des Einzelnen, so verworren er auch scheinen mag, ein in sich
übereinstimmendes, bestimmte Tendenz und belehrenden Sinn habendes Ganzes sei"
(S,VII,224f.).
Wie sehr dies für Thomas Buddenbrooks Existenz zutrifft, ist an der frühen
Andeutung seines Todes durch die Erwähnung seiner maroden Zähne und seiner
schlechten Gesundheit gezeigt worden. Auch auf den früh sich ausprägenden Gegensatz
von makelloser Fassade und dahinter sich verbergender Verletzlichkeit und Schwäche,
die zu leugnen an Thomas' Kräften zehrt, ist hingewiesen worden.
118
Doch wie nach der
Schopenhauer-Lektüre geht Thomas auch nach seinem Travemünde-Erlebnis wieder zur
Tagesordnung über.
119
Die aus beiden Erlebnissen gewonnenen Einsichten werden ihm
nicht zu einer Gewißheit, die seinen Alltag verändern könnte. Die Frage, warum diese
beiden einschneidenden Erfahrungen Thomas zu keiner wirklichen Wandlung
veranlassen, beantwortet Vogt mit einer schopenhauerischen Erklärung: "Dort, wo ein
jeder durch seinen 'intelligiblen Charakter' determiniert ist, kann die punktuelle
Erleuchtung, wie der Senator sie erfährt, nicht ohne weiteres zur Befreiung führen." Er
muß vielmehr, so Schopenhauer, "vom Anfang seines Lebens bis zum Ende desselben
den von ihm mißbilligten Charakter durchführen und gleichsam die übernommene Rolle
bis zu Ende spielen".
120
Thomas Buddenbrook verschanzt sich wieder hinter der Maske
des tadellosen Elégants, und darum ist sein Tod auch nicht weniger grausam als der der
Konsulin.
Im ersten der beiden Kapitel, in denen Thomas' Sterben und Tod geschildert
werden,
121
findet sich noch einmal konzentriert eine Fülle von Hinweisen und
Anspielungen auf seinen unmittelbar bevorstehenden Tod.
122
Es soll daher hier
ausführlicher analysiert werden.
An Thomas' Todestag herrscht Tauwetter, das den Schnee in eine "mit Sand und
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