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Wunden entstellten Totenantlitzes einerseits und des "wie im Leben"
frisierten Haupt-
und Barthaars andererseits. Wie seine Mutter holt der Tod ihn "mit jener häßlichen
Körperlichkeit, der Thomas immer aus dem Wege gegangen ist, und erklärt seine
makellose Gepflegtheit höhnisch für nichtig. Das Verdrängte erscheint" - wie bei der
Konsulin - im Tod "als die wahre Realität, die bürgerliche Form als ihre vordergründige
Draperie".
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Kurz bevor Thomas seinen letzten Atemzug tut, beginnt Tony, ein Gebet aufzusagen,
wobei "sie nicht erwog, daß sie die Strophe gar nicht zu Ende wisse und nach dem
dritten Verse jämmerlich steckenbleiben müsse" (M,I,685). Das ist Tony mit einem
anderen religiösen Text schon einmal passiert: "Was ist das. Was - ist das..." (M,I,9).
Bereits ganz am Anfang des Romans strauchelt Tony beim Rezitieren des Katechismus'.
Doch der Tradition und Geborgenheit vermittelnde Familienkreis kann diese Entgleisung
noch auffangen. Tonys abwärtsführende Gedanken von der Schlittenfahrt jedoch, die
ihre Rezitation begleiten, verweisen bereits auf den allgemeinen Abstieg im Roman und
auf Thomas' Tod, angesichts dessen sie wieder steckenbleibt. Diesmal hilft ihr jedoch
niemand weiter, sondern jeder "zog sich zusammen vor Geniertheit" (M,I,685).
Das "Abendrot" (M,I,170) eines Wintertags verbindet die Sterbeszene Thomas' mit
derjenigen, in der er Abschied von seiner Geliebten, dem Blumenmädchen Anna, nimmt
(M,I,684). Der Weg zu Annas Blumenladen führt ihn ebenso wie der von Zahnarzt
Brecht nach Hause die Fischergrube hinunter. Beide Male wird betont, daß die
Fischergrube - eine Parallelstraße zur Mengstraße - "in gleicher Richtung mit der
Mengstraße steil zur Trave hin abfiel" (M,I,167/684, Hervorhebung v.d.V.). Auf das
Abfallen dieser beiden Straßen wird im gesamten Roman immer wieder hingewiesen
(M,I,43,44,550,637,680,692). Zum einen ist mit diesem Hinweis in der
Abschiedsszene bereits ein Hinweis auf Thomas' Tod gegeben, zum anderen ist er, da
immer wieder auf dieses Detail verwiesen wird, eine Andeutung des Abstiegs der
Buddenbrooks. Auch die Mengstraße fällt ab zur Trave. Dort also beginnt bereits der
Abstieg. Tatsächlich wird schon im ersten noch so heiter und unbeschwert wirkenden
Teil des Romans erwähnt, daß die Mengstraße "abschüssig zur Trave hinunterführte"
(M,I,43).
Als Thomas nach dem Abschied von Anna den Blumenladen verließ, "schickte schon
die Wintersonne sich an, unterzugehen. Ein zartes, reines und wie auf Porzellan gemalt
blasses Abendrot schmückte jenseits des Flusses den Himmel" (M,I,170,
127
Kurzke:
Epoche, S.66. Vgl. hierzu auch Höpfner:
Physiognomie, S.103: Höpfner vergleicht den
Tod Thomas Buddenbrooks mit dem des Kaufmannssohns in Hofmannsthals Märchen der 672.
Nacht. Beide sterben den "Tod des Ästheten:
einen Tod, dessen Häßlichkeit und Banalität das
vorangegangene Leben in Eleganz und Exklusivität der Lüge überführt."
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Hervorhebungen v.d.V.). Im Untergang der Abendsonne und im Verweis auf das
"Jenseits" des Flusses ist Thomas' Tod bildhaft vorweggenommen.
128
Zwischen Thomas und Anna gibt es eine zweite Abschiedsszene: Anna bittet Tony,
den Aufgebahrten noch einmal sehen zu dürfen. Beim ersten Abschied arbeitete sie noch
in einem "ganz bescheidenen Blumenladen mit (...) dürftigem Schaufensterchen"
(M,I,167). Inzwischen hat sie den Besitzer dieses Ladens geheiratet. Ihre
Blumengebinde und Kränze haben die fröhlichen Anlässe der Buddenbrooks
(einhundertjähriges Firmenjubiläum, Richtfest von Thomas' neuem Haus) ebenso wie die
traurigen (Begräbnisse) begleitet. Während es bei Buddenbrooks bergab geht, macht sie
"Geschäfte großen Stils" (M,I,689) mit ihren Kränzen, die anläßlich der Beerdigungen
gekauft werden. Und nun steht sie, "guter Hoffnung wie gewöhnlich" (M,I,689), an der
Bahre ihres früheren Geliebten.
Dem Abstieg der Buddenbrooks entgegengesetzt, verläuft der Aufstieg anderer
Familien, z.B der Hagenströms, Iwersens und Möllendorpfs. Als Anna noch arm ist,
sind die Buddenbrooks auf der Höhe ihres Erfolges. Als Buddenbrooks aufsteigen, ist
der Erfolg der Ratenkamps vorbei. Die Notwendigkeit des Schicksals gilt nicht nur für
die Einzelschicksale in der Buddenbrookschen Familie. Sie umfaßt das gesamte
Geschehen, sie ordnet die ganze Romanwelt.
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