Am Ende dieses Kapitels wird Thomas "auf das nasse Pflaster" fallen, sein Pelz mit
"Schneewasser bespritzt" sein, und seine Hände werden "in einer Pfütze" liegen
(M,I,680). Von diesem Ende aus gesehen, ist die Anfangsbeschreibung bereits eine
Vorausdeutung auf die Bedingungen, unter denen Thomas zusammenbrechen wird. In
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lebenden Fische, ist die ganze Härte des Lebenskampfes versinnbildlicht.
123
Das
Leiden
der Tiere greift voraus auf Thomas' quälende Zahnschmerzen: "Einige (...) lagen mit
fürchterlich glotzenden Augen und arbeitenden Kiemen zählebig und qualvoll auf ihrem
Brett und schlugen hart mit dem Schwanze, bis man sie endlich packte und ein spitzes,
blutiges Messer ihnen
mit Knirschen die Kehle zerschnitt" (M,I,673, Hervorhebungen
v.d.V.). Eine schmerzliche, blutige Behandlung steht auch Thomas bevor, wenn sie auch
bei ihm nicht sofort tödlich enden wird.
"Manchmal zog ein starker Butt sich krampfhaft zusammen und schnellte sich in
seiner tollen Angst weit vom Brette fort auf das schlüpfrige, von Abfällen
verunreinigte Pflaster" (M,I,673, Hervorhebungen v.d.V.) - dieser Fall des Butts
nimmt sogar Thomas' Sturz auf das schmutzige Pflaster vorweg.
Es folgt eine anscheinend belanglose Beschreibung des bunten Getümmels in der
Innenstadt. Doch bei genauem Hinsehen erkennt man darin lauter wichtige
Lebensstationen Thomas Buddenbrooks. In chronologischer Reihenfolge laufen einzelne
Bilder seines Lebens noch einmal an unserem geistigen Auge vorüber. Wir sehen ihn als
Schulkind (M,I,673), dann unter den jungen "Kaufmannslehrlinge(n) aus guter Familie"
(M,I,673); schließlich wird der Senat genannt, der wenige Jahre zuvor Schauplatz der
Senatorenwahl Thomas' war - und damit zugleich Schauplatz des Höhepunktes seiner
Karriere -; und sogar auf Gerdas Verhältnis mit dem Leutnant von Throta ist angespielt
in der Erwähnung eines Offiziers, "der den Spuren irgendeines Mamsellchens folgte"
(M,I,674).
Nun erscheint Thomas selbst, und sofort fällt wieder die Diskrepanz zwischen seiner
äußeren Erscheinung, die "korrekt, tadellos sauber und elegant" (M,I,675) ist, und
seiner inneren Verfassung auf: Er sieht "übernächtig" aus, und am Spiel der
Schläfenmuskeln ist erkennbar, daß er die Zähne zusammenbeißt (M,I,675). Es kommt
nun zu einer bedeutenden Begegnung, so belanglos auch das Gespräch anmuten mag:
Stephan Kistenmaker nämlich, so wird nebenbei erwähnt, übt auch das Amt des
Testamentsvollstreckers aus (M,I,676). Er wird später Thomas' Nachlaß verwalten.
124
Zudem ist der Name sprechend: Kisten-Maker - die Assoziation mit dem Sargmacher
liegt nahe.
Im Wartezimmer des Zahnarztes hockt der Papagei Josephus in seinem Käfig. Hier
wird das Bild des gefangenen Tieres vom Fischmarkt wieder aufgegriffen und variiert:
Bei Schopenhauer hat Thomas Buddenbrook vom Tod als der "Befreiung von den
widrigsten Banden und Schranken" gelesen (M,I,656/S,VI,595), und Josephus hinter
123
Vgl. Lehnert: Neue Interpretation, S.33, Christian Grawe: Struktur und Erzählform, in: Moulden,
von Wilpert (Hrsg.):
Buddenbrooks-Handbuch, S.69-107, S.101 und Michielsen:
Preparation, S.71
124
Vgl. Matthias:
Erzählweise, S.36
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seinen Gitterstäben steht für den Menschen, der "durch die Gitterfenster seiner
Individualität (...) hoffnungslos auf die Ringmauern der äußeren Umstände starrt, bis der
Tod kommt und ihn zu Heimkehr und Freiheit ruft" (M,I,657). Das "Knacken und
Knirschen", mit dem der Papagei in sein Gitter beißt, steht zum einen für Thomas'
Wunsch, seinem Dasein zu entkommen, zum anderen nimmt es, wie schon das
Knirschen des Messers auf dem Fischmarkt, das "Knirschen (...), Knacken und
Krachen" (M,I,678) der Zahnbehandlung vorweg.
Als Thomas endlich ergeben im Behandlungsstuhl sitzt, denkt er: "Gott befohlen!"
(M,I,678). Bereits ganz zu Beginn des Romans taucht diese Wendung, sogar gleich
zweimal, auf. Und zwar in den Reflexionen des Arztes Doktor Grabow, der über die
ungesunde Lebensweise der Kaufleute nachdenkt, die er ihnen nicht austreiben kann
und die sie irgendwann eines vermeintlich plötzlichen Todes sterben läßt (M,I,37). Auch
Thomas hat Grabow ermahnt, sich mehr Ruhe zu gönnen, doch dieser antwortete: "'Oh,
mein lieber Doktor! So weit bin ich noch nicht" (M,I,419). Daß er nun "so weit" ist,
signalisiert die Wendung, die uns an Grabows Äußerung vom Anfang erinnert. Es bedarf
gar nicht mehr des Auftritts der Schwester Leandra, die auch das Sterben der Konsulin
begleitet hat (M,I,683), um den letzten Zweifel daran, daß Thomas Buddenbrook
sterben wird, auszuräumen.
Und nun wird, durch den Sturz in die schmutzige Gosse, durch den qualvollen Tod,
durch den Einbruch des Häßlichen, Schmutzigen, Abstoßenden in Thomas' äußerlich
perfekte Erscheinung die zu Lebzeiten mühsam intakt gehaltenen Fassade so plötzlich
zerstört, daß selbst die sonst so kalte, teilnahmslose Gerda Entsetzen zeigt.
125
Thomas
Buddenbrook "hat zwei Gesichter: ein öffentliches und ein sorgsam verborgenes,
heimliches. Erst der Tod veröffentlicht das andere Gesicht, und plötzlich erscheint er
auch seiner Umwelt in seiner tiefen Verletzlichkeit".
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Dieser Kontrast, der seine
Existenz bestimmt hat, zeichnet sich auf seinem Totenantlitz sichtbar ab. Mühsam hat
man bei seiner Aufbahrung die Fassade zu rekonstruieren versucht, doch der
erbärmliche Eindruck infolge der Wunden überwiegt: "Sein Gesicht war stellenweise
zerschunden, und besonders die Nase zeigte Quetschungen. Aber sein Haupthaar war
wie im Leben frisiert, und der Schnurrbart, von dem alten Herrn Wenzel noch einmal mit
der Brennschere ausgezogen, überragte starr und lang seine weißen Wangen"
(M,I,690).
Diese Beschreibung entspricht teilweise sogar wörtlich der der aufgebahrten
Konsulin (M,I,570). Was bei ihr der entsetzliche Kontrast von starrer, eingefallener
Greisenmiene und jugendlicher Frisur war, ist bei Thomas der Gegensatz des durch
125
Vgl. Ernst Keller: Die Figuren und ihre Stellung im "Verfall", in: Moulden, von Wilpert (Hrsg.):
Do'stlaringiz bilan baham: