I. Begriff und Bedeutung der Phonostilistik
Die Geschichte der Kodifikation einer Aussprachenorm für das Deutsche zeugt davon, dass man jahrzehntelang versucht hat, die höchste Präzisionsstufe der Aussprache - die Musteraussprache, die so genannte Bühnenaussprache - zu fixieren. Probleme der alltäglichen dialektneutralen Kommunikation blieben dabei fast unberücksichtigt. Alles unterhalb der Bühnenaussprache Liegende wurde als fehlerhaft oder unzulässig qualifiziert. Die neunzehn Auflagen des „Siebs“ und das Duden-Aussprachewörterbuch geben ein beredtes Zeugnis davon. Trotzdem sah M. Weller [68, S. 93] in der Aussprache des Sprechtheaters die Dreigliederung der „reinen“ Bühnenaussprache: die hohe Verssprache für das klassische Drama von Goethe „Iphigenie“, die flüssige Aussprache für die Prosa-Komödie von Lessing „Minna von Barnhelm“ und das dialektneutrale „Geplauder“ des Konversationsstils für die Komödien von Kurt Götz.
Diese Gliederung hat auch im Russischen und im Englischen analoge Varianten. Darüber sprachen viele Wissenschaftler, indem sie eine Drei- bzw. Viergliederung der phonetischen Stile vornahmen. Hier sind solche Namen der Linguisten zu nennen wie L.V. Ščerba, R.J. Awanessow, L.L. Bulanin, S.M. Gaidučik, G. Meinhold u.a.
Der russische Linguist L. V. Ščerba unterscheidet neben dem „vollen Stil“ der Aussprache den sog. „neutralen Stil“ und den „umgangssprachlichen Stil“ [139], er spricht also über drei Aussprache Varianten.
In jeder Sprache gibt es spezifische phonetische Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich die stilistischen Aussprachevarianten realisieren.
Die linguistische Disziplin, die sich mit den Aussprachevarianten der Rede befasst, heißt Phonostilistik. Die Phonostilistik ist der jüngste Zweig der funktionalen Stilistik. Sie untersucht ausschließlich die gesprochene Sprache, also mündliche Äußerungen. Die funktionale Stilistik hat vor allem die Schriftsprache, den geschriebenen Text zum Gegenstand der Analyse.
Der Anstoß zur Schaffung der Phonostilistik wurde von N.S. Trubetzkoy gegeben, der den Begriff „Lautstilistik“ eingeführt hat.
S.M. Gajdučik definiert den Begriff „Phonostilistik“ folgenderweise: „Der phonetische Stil ist der Komplex der phonetischen Mittel, der einer sprachlichen Äußerung in ihrer betreffenden Form und Situation und in einer bestimmten Sphäre der sprachlichen Kommunikation eigen ist“ [15]. Auf Grund experimentell-phonetischer Analyse versuchte S.M. Gajdučik, relevante Intonations- und Aussprachemerkmale jedes phonetischen Stils festzustellen. Er unterscheidet fünf phonetische Stile, verbindet sie aber mit funktionalen Stilen, die eigentlich Objekt der funktionalen Stilistik sind.
Während die funktionale Stilistik den Sprachbereich analysiert, geht die Phonostilistik von dem Bedingungsbereich der Kommunikation aus, wobei sie die Redeerzeugung und die Redeaufnahme in den Vordergrund stellt.
II. Phonostilistische Varianten der deutschen Standardaussprache.
„Die deutsche Standardaussprache (Hochlautung) ist kein homogenes Phänomen“, schreibt G. Meinhold in seinem berühmten Buch „Deutsche Standardaussprache. Lautschwächungen und Formstufen“ (39).
Die deutsche Standardaussprache ist gliedbar in verschiedene Formstufen, deren Anwendungsbereiche sich durch bestimmte Kommunikationssituationen erklären lassen. G. Meinhold unterscheidet in der deutschen Standardaussprache eine vierstufige Gliederung, die den Aussprachestilen von Ščerba und Bulanin gleichgesetzt werden. G. Meinhold klassifiziert die Aussprachestile folgenderweise:
I Formstufe der Lesung
la. hohe Formstufe
Ib. gemäßigte Formstufe
II Formstufe des Gesprächs
la. gehobene Formstufe des Gesprächs
1b. lässige, saloppe Formstufe des Gesprächs
Diese Formstufen sind dialektneutral und gehören zur Norm. Der Gebrauch der Formstufen wird durch eine Reihe von extralinguistischen (außersprachlichen) Faktoren bedingt. Diese Faktoren sind
– die Kommunikationsabsicht der Rede (informieren, erklären, aktivieren)
– Kommunikationsbedingungen, unter denen die Rede gestaltet wird:
a. soziale Verhältnisse zwischen den Gesprächspartnern
b. Raumverhältnisse - großer/kleiner Raum
c. Art der Rede - Monolog/Dialog/Polylog
d. die Hörerzahl
e. das Alter der Gesprächspartner
f. die Vertrautheit der Gesprächspartner mit dem Thema des Gesprächs
g. Vorbereitungsgrad der Rede - vorbereitet/nicht vorbereitet, spontan
Das Gesagte könnte man eingehender formulieren:
Je mehr die phonostilistische Gestaltung des Sprechtextes den außersprachlichen Bedingungen entspricht, desto erfolgreicher verläuft die Kommunikation, desto enger wird der Kontakt zwischen dem Sprecher und dem Hörer. Die Aussprache des Sprechers soll sich je nach Situation, Stoff und Hörerkreis zwischen der ersten und der letzten Formstufe natürlich bewegen. Das „raumgreifende Sprechen mit maximalem Spannungsgrad ist für das Sprechtheater typisch, wo technische Hilfe im Großraum ausbleibt. Dadurch wird die natürliche Sprechweise des Schauspielers beeinträchtigt, so dass seine Aussprache gekünstelt, hyperkorrekt wird. Das gilt sowohl für die Lautrealisationen als auch für die Intonation. Eine solche gekünstelte, hyperkorrekte Aussprache ist im kleinen, vertrauten Kreis zu vermeiden. Hier ist eine gelockerte Form der Rede mit weniger ausgeprägter Lautung angebracht, die viel kontaktgünstiger ist. Die saloppe (lässige) Aussprache dagegen ist nicht in jedem Kommunikationsbereich zu gebrauchen. Wird diese Aussprachenorm unpassend verwendet, lenkt sie die Aufmerksamkeit des Hörers vom Inhalt ab und wird als unkultiviert empfunden.
Die phonostilistischen Varianten bilden keine geschlossenen Systeme, d.h., sie weisen manche Übergangsformen auf, die mehr oder weniger weit von der neutralen Aussprache entfernt sind. Jede dieser phonostilistischen Varianten dient ihrerseits zur Gestaltung einer bestimmten kommunikativen Redeart, die als eine phonetisch-kommunikative Variante auftritt.
Die phonostilistische Organisierung jeder Variante kommt in der Lautung deutlich zum Ausdruck. Wie die Benennungen der Formstufen zeigen, ändert sich der Aussprachestil vom präzisen, korrekten, deutlichen zum lockeren, lässigen. Damit verbunden sind phonetische Lautschwächungen und assimilatorische Reduktionen, die in der Richtung von der ersten Formstufe zur letzten zunehmen. Als Indikatoren der stilistischen Varianten unterscheidet man die folgenden Variationsmöglichkeiten:
– die r-Laute, die unterschiedlich realisiert werden können, darunter auch die Vokalisation des Lautes r;
– Endsilbenassimilationen von -en, -em, -el, die als ein ziemlich sicherer Indikator für eine höhere oder weniger hohe Formstufe gelten können;
– Einschränkungen der Aspiration der p, t, k – Laute;
– die quantitative und qualitative Reduktion der Vokale der unbetonten einsilbigen Wörter, die in der Sprache häufig gebraucht werden;
– Wegfall des Neueinsatzes;
– einige Assimilationen, darunter Totalassimilationen.
Als Beispiel für besonders deutliche phonetische Lautschwächungen und assimilatorische Reduktionen können Grußformeln dienen, die situationsbedingt gebraucht werden. So kann z.B. die Grußformeln „Guten Abend!“ folgenderweise lauten:
[g̽u:tәn ‘α:bәnt]
[g̽utn̦ ‘α:mt]
[g̽u:tn̦ ‘α:bmt]
[gʊtn̦ α:mt]
[gʊn α:mt]
Bei der Beschreibung der Aussprachestile sind auch die Intonationsmittel in Betracht zu ziehen. Die Intonationsmittel sind in vielen Fällen bei der Analyse der phonostilistischen Variante viel bedeutender als die Lautung, weil sie dem Hörer in erster Linie auffallen.
Zu den Intonationsmitteln, die an der Gestaltung der Varianten mitwirken, zählt man Sprechmelodie, Akzentuierung, Tempo, Rhythmus und Pausen.
Die Variationsmöglichkeiten der intonatorischen Mittel der Varianten bewegen sich zwischen:
– gleichbleibendem und kontrastivem Melodieverlauf,
– gleichbleibender und variabler Sprechintensität,
– längeren und kürzeren Sprechtakten in Aussprüchen,
– langen und kurzen Pausen zwischen Aussprüchen und Sprechakten,
– gleichmäßiger Verteilung der Lautenergie bei regelmäßigen Hervorhebungen in Akzentgruppen (was zur Rhythmisierung der Rede führt) und kontrastiver Verteilung der Lautenergie durch 1-2 Hervorhebungen im ganzen Sprechtakt,
– langen und kurzen Aussprüchen,
– langsamem und schnellem Sprechtempo.
Wenn die phonostilistische Gestaltung des Sprechtextes von außersprachlichen Faktoren bestimmt wird, hängt das Sprechtempo in erster Linie vom Inhalt der Äußerung ab. Aussprüche mit gleicher Struktur, aber verschiedenem Inhalt können sich bei unterschiedlichem Tempo völlig voneinander unterscheiden.
Das große Verdienst G. Meinholds besteht darin, dass er ausführlich alle möglichen Schwächungen und Assimilationen in der Lautung der Aussprachestile analysiert hat. Die stilistischen Modifikationen der Intonation wurden in seinem Buch nicht betrachtet.
An der Moskauer Linguistischen Universität (früher: Maurice-Thorez- Hochschule) wurden experimentell-phonetische Untersuchungen durchgeführt, 178 und es wurde dabei festgestellt, dass auch die intonatorische Gestaltung des Textes ein zuverlässiges Kriterium für die Bestimmung der phonostilistischen Variante der Rede ist. Am Lehrstuhl für deutsche Phonetik haben dieses Problem K.B. Karpow und N.A. Miljukova ausgearbeitet. Sie zeigen (Zus. Lit. 19), dass an der stilistischen Differenzierung der gesprochenen Texte aile Komponenten der Intonation teilnehmen. Sie wirken als Komplex zusammen und bestimmen die intonatorische Gestaltung des Textes. N.A. Miljukova spricht von drei kontrastierenden Typen der intonatorischen Gestaltung der Texte, die ihrer Meinung nach der Einteilung der Aussprachestile in den vollen, neutralen und den Stil der Alltagsrede entsprechen. Trotzdem betont sie wiederholt, dass so eine Identifizierung der Intonationsstile mit den drei Aussprachestilen der Laute nur annähernd durchgeführt werden kann: die real bestehende Mannigfaltigkeit der intonatorischen Gestaltung der Texte scheint außerordentlich kompliziert zu sein. Von großem Interesse ist die Tabelle der phonetischen Spezifik der Aussprachestile ebenso wie die der intonatorischen Gestaltung der Sprechstile (Zus. Lit. 19).
Die Verfasser des vorliegenden Lehrbuches schließen sich der Meinung der meisten Linguisten an, indem sie in der modernen deutschen Standardaussprache drei phonostilistische Varianten unterscheiden: den vollen Stil, den neutralen Stil und den Stil der alltäglichen Rede. Die Einteilung der Rede nach den Formstufen „Lesung“ und „Gespräch“, d.h. Monolog und Dialog, die Meinhold in die Phonostilistik einführt, ist unseres Erachtens sehr wichtig, weil beide Arten der Rede gewisse phonetische Besonderheiten aufweisen.
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