Thema 1: Wesen und Aufgaben der Phonetik. Physiologie und Akustik der Sprachlaute



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Vorlesung Theoretische Phonetik


Thema 1: Wesen und Aufgaben der Phonetik. Physiologie und Akustik der Sprachlaute
PLAN

1. Der Untersuchungsgegenstand der Phonetik.


2. Phonetik und Phonologie.
3. Die Einheiten der Phonetik.
4. Drei Betrachtungsweisen von Sprachlauten.
5. Grundbegriffe der Physiologie der Sprachlaute.
6. Grundbegriffe der Akustik der Sprachlaute.
7. Einteilung der Sprachlaute. Vokale und Konsonanten.
8. Systematisierung der deutschen Vokale und Konsonanten nach physiologischen Merkmalen.
9. Systematisierung der deutschen Sprachlaute nach akustischen Merkmalen.

STICHWÖRTER: Alveolar, Alternation, Anlaut, koronal, appelativ, bilateral, Dichotomie, Dorsal, Engelaut, Exspiration, explikative, Glossematik, Laryngal, Hemmlaut, Invariante, Kehlkopf, Pharingal, Phonation, Phonem, Phonematik, Uvular, Velum, Verschlußlaut, Zahnlaut, Zitterlaut.


I. Der Untersuchungsgegenstand der Phonetik.
Wie in jeder Wissenschaft, so ist auch in der Phonetik1 die Ausson­derung und Feststellung des Untersuchungsobjekts die Voraussetzung jeder Forschung, weil von der richtigen Feststellung des Forschungsge­genstandes ihre Erfolge abhängig sind. Somit liegt die erste Aufgabe des Sprachforschers darin, den Gegenstand seiner Untersuchungen auszusondern und zu definieren.
Was ist das Untersuchungsobjekt der Phonetik als linguistische Wissenschaft?
Die Antwort auf diese Frage ist mit dem Problem über das Wesen und die Funktionen der Sprache eng verbunden.
Die Sprache ist ein kompliziertes Gebilde. Davon zeugen verschie­dene (außer- und innersprachliche, allgemeine und spezielle) Defini­tionen der Sprache, die sowohl von Philosophen und Psychologen als auch von den Sprachwissenschaftlern stammen, Die wichtigsten von ihnen seien hier erwähnt.
Die Vertreter der bilateralen Sprachzeichentheorie definieren die Sprache als ein besonderes Zeichensystem, das die Ideen ausdrückt2.
Vom Standpunkt der Informationstheorie aus ist die Sprache ein Kode, mit dessen Hilfe die semantische Information kodiert wird.3
Eine richtige Antwort auf die Frage über das Wesen und die Funk­tionen der Sprache finden wir in den Werken der Klassiker des Marxis­mus und Leninismus. K. Marx, F. Engels, W. I. Lenin betonen in ihren Schriften den sozialen Charakter der Sprache und weisen nach­drücklich auf ihre kommunikative Funktion hin. In der Sprache sind Bewußtsein und Materie eng verbunden, weil die Sprache der mit Materie «behaftete Geist» ist.4
Die Sprache ist die unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens,5 das wichtigste Mittel des Verkehrs der Menschen untereinander.6
Aus den angeführten Definitionen der Sprache ist leicht zu ersehen, daß die Klassiker des Marxismus und Leninismus den sozialen Cha­rakter der Sprache, ihre kommunikative Funktion und ihre Funktion als Grundlage der Denktätigkeit in den Vordergrund stellen und die enge Verbundenheit von Bewußtsein und Materie hervorheben. Die Sprache enthält zwei miteinander eng verbundene Seiten: die mate­rielle (physische) und die funktionale (ideelle). Diese Komponenten setzen einander voraus. Ohne materielle Seite gibst es keine sprachliche Funktion und umgekehrt. Die Phonetik befaßt sich mit der materiellen (physischen) Seite der sprachlichen Lautmittel.
Die Sprachzeichentheorie behandelt die Sprache als ein System von Zeichen, dessen Elemente miteinander eng verbunden sind.
Nach der Zeichentheorie ist jedes Sprachzeichen (das Morphem, das Wort) die Einheit des Bezeichnenden (materiellen) und des Bezeichneten (ideellen). Die Beziehung zwischen dem Bezeichnenden und Bezeichneten ist dabei willkürlich. So z. B. besteht kein ursächlicher Zusammenhang zwischen der lautlichen Form der Benennung eines Dinges und seiner Natur: Tisch, Stuhl, Schrank.
Daraus läßt sich folgern, daß sich das Bezeichnende und das Bezeichnete nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickeln, obwohl das letzte ohne materielle Substanz (lautliche Seite) nicht existieren kann.
Die Lautmittel sind einseitige Spracheinheiten, weil sie keine Bedeutung tragen. Die Lautmittel haben eine Beziehung zum Bezeich­neten d. h. zur jeglichen Bedeutung im Bestand der eigentlichen Sprachzeichen (Morpheme, Wörter, Sätze). Karten — Garten, nein — kein. Der Frühling ist da. Der Frühling ist da? Der Frühling ist da! In diesen Beispielen üben sie (Lautmittel) eine sprachliche Funktion aus. Das ist eine funktionale Seite der Lautmittel. Mit die­ser Seite der Lautmittel befaßt sich ein Teil der Phonetik, der den Namen Phonologie trägt.
Als Untersuchungsobjekt der Phonetik dient das Bezeichnende des Sprachzeichens (des Morphems, des Wortes) und die Funktion des Bezeichnenden im Bestand der semantischen Spracheinheiten (Morpheme, Wörter und Sätze), die als eigentliche Zeichen anerkannt worden sind.
Nach der modernen Informationstheorie, die von Claude E. Shan­non7 und Norbert Wiener entwickelt wurde, ist die Sprache ein wich­tiges Kommunikationssystem.
Für die lautsprachliche Kommunikationskette kann das Kommu­nikationssystem vom Shannon folgenderweise interpretiert werden. Das Gehirn des sendenden Gesprächspartners stellt die Informations­quelle dar, seine Sprechapparatur den Sender. Die Hörorgane des empfindenden Gesprächspartners würden dann dem Empfänger und dessen Hirn schließlich dem Bestimmungsort der Botschaft entsprechen.
Damit eine sprachliche Kommunikation während des Sprechaktes zustande kommen kann, sind also die folgenden Voraussetzungen er­forderlich: ein Sprecher und ein Hörer, die Übermittlung eines Sprach­signals sowie das Vorhandensein eines gemeinsamen Sprachkodes bei den Kommunikationspartnern.
Die genannten Voraussetzungen umreißen zugleich in groben Zügen die lautsprachliche Kommunikationskette.8 Diese Kommunikationskette hat drei Aspekte: den artikulatorischen, den akustischen und den auditiven. In ihrer vereinfachten Form könnte sie auf folgende Weise veranschaulicht werden.


Die Phonetik befaßt sich sowohl mit den Problemen des artikula­torischen und auditiven Aspekts als auch mit dem Studium der akus­tischen Eigenschaften der Lautsignale im Kommunikationskanal.


Dementsprechend sind folgende Aspekte des Untersuchungsobjekts der Phonetik zu unterscheiden:
1. Genetischer oder artikulatorischer Aspekt (Objekt—Sprecher).
2. Gennemischer oder akustischer Aspekt (Objekt—Lautsignale).
3. Energemischer oder auditiver Aspekt (Objekt—Hörer).
Aus den obigen Darlegungen könnte man Phonetik als Wissen­schaft wie folgt definieren: Phonetik ist ein Teilgebiet der Sprachwis­senschaft, das die akustisch-physiologischen (Lautlehre) und funkti­onalen (Beziehung zur jeglichen Bedeutung, Phonologie) Eigenschaf­ten der lautlichen Ausdrucksmittel im Bestand semantischer Spracheinheiten (Morpheme, Wörter usw.) untersucht.
Aus der angeführten Definition der Phonetik im weiten Sinne geht hervor, daß die Phonetik als Teildisziplin der Sprachwissenschaft zwei Aspekte des Lautsystems umfaßt:
1. die Phonetik (im engeren Sinne des Wortes), physiologische und akustische Eigenschaften der lautlichen Ausdrucksmittel.
2. die Phonologie, die Lehre von der Funktion der Lautmittel.

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