Thema 1: Wesen und Aufgaben der Phonetik. Physiologie und Akustik der Sprachlaute


V. Grundbegriffe der Physiologie der Sprachlaute



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Vorlesung Theoretische Phonetik

V. Grundbegriffe der Physiologie der Sprachlaute
Der Sprechapparat, der zur Stimmbildung dient, besteht aus drei Hauptteilen: den Atmungsorganen, dem Kehlkopf und dem Ansatzrohr.
Zu den Atmungsorganen gehören die Lunge, die Bronchien und die Luftröhre. Sie erfüllen die wichtigste Funktion — die Atmungs­funktion. Man unterscheidet gewöhnlich zwei Arten der Atmung: Ruheatmung und Phonationsatmung. Die Atmung, die ausschließlich ihrem biologischen Zweck, dem Gasaustausch, dient, heißt Ruheat­mung. Solch eine Atmung erfolgt beim Schweigen. Bei der Ruheat­mung verläuft der Ein- und Ausatmungsprozeß in ungefähr gleichen Zeitabschnitten. Beim Sprechen oder Singen haben wir es mit der Phonationsatmung zu tun. Dabei gehen die Einatmungsbewegungen kurz und schnell vor sich, aber das Ausatmen vollzieht sich langsam und unregelmäßig in seinem Verlauf. Beim Ausatmen steigt die Luft aus der Lunge in den Kehlkopf. Er ist das Organ, das die erforderliche Stimme für die Bildung von Lauten erzeugt. Der Kehlkopf besteht aus beweglichen Knorpeln (dem Ringsknorpel, dem Schildknorpel und zwei Steil­knorpeln). Zu jedem der Stellknorpel ziehen sich elastische Muskelbän­der, die sogenannten Stimmlippen oder Stimmbänder. Durch gleitende Bewegungen der Stellknorpel können die Stimmlippen einander genähert oder voneinander entfernt werden. Durch periodische Öffnungs- und Schließungsbewegungen der Stimmlippen wird die hin­durchströmende Atemluft in Schwingungen versetzt, so entsteht ein Stimmton. Die Öffnung zwischen den Stimmlippen nennt man die Stimmritze (Glottis), sie kann verschiedene Formen haben ,die von der Stellung der Stimmlippen abhängig sind. Die Stimmlippenstel­lungen werden unten dargestellt.



Wichtige Einstellungen der Stimmritze (Glottis) a Schildknorpel, b Stimmlippen,
c Stellknorpel.
In der Atemstellung bilden die Stimmlippen einen dreieckigen Spalt. In der Stimmstellung bilden die Stimmlippen einen schmalen elliptischen Spalt. In der Vollverschlußstellung liegen sie eng anein­ander.

Die Art des Ansetzens der Stimmlippen zur Schwingungstätigkeit wird in der Phonetik als Einsatz bezeichnet. Nach der Art, wie die Stimmlippen zum Schwingen ansetzen und nach dem dabei entste­henden akustischen Effekt, unterscheidet H. Gutzmann 3 Einsatzarten: gehauchte, weiche und Glottisschlageinsätze. Der gehauchte Einsatz kommt im Deutschen bei [h] und den stimmlosen Konsonanten vor: die Stimmlippen gehen von der Atmungsstellung allmählich in die Stimmsteilung über, die geöffnete Stimmritze schließt sich langsam. Während dieser Verengung reibt sich der Atmungsstrom an den Stimm­lippen. Dabei entsteht ein leichtes Hauchgeräusch. Es hält so lange an, bis die Stimmlippen zu schwingen beginnen. Der Phonation geht also ein Hauchgeräusch voraus, das rasch in die anklingende Stimme über­geht.


Beim weichen Einsatz beginnen das Ausatmen und die Schließbe­wegung bis zur Stimmstellung gleichzeitig [m], [n], [l].
Der Glottisschlageinsatz oder der Neueinsatz geht von der Vollverschlußstellung aus. Durch Sprengung der aneinanderliegen den Stimm­lippen beginnt die Schwingungsphase. Dieser Einsatz wird im abso­luten oder silbischen Vokalanlaut gesprochen. Bei den Nasallauten strömt die Ausatmungsluft nur durch den geöffneten Nasenraum, da gleichzeitig ein Abschluß an einer Artikulationsstelle im Mundraum gebildet wird [m], [n], [ŋ].
Bei den stimmlosen Konsonanten sind die Stimmlippen ausgeschal­tet. Geräusche als aperiodische Schwingungen werden durch Verengung bzw. durch Verschluß des Weges des Expirationsstroms hervorgebracht.
In der Phonetik und Physiologie der Stimme wird das Zustande­kommen der Stimme im Kehlkopf von den Gelehrten verschiedener­weise erklärt. Es gibt darüber zwei Theorien: 1) die myoelastische (mus­kelelastische) Theorie, 2) die neurochronaxische Theorie. Die erste Theorie ist älter als die zweite und wird von der Mehrzahl der Physio­logen, Psychologen und Phonetiker vertreten. Nach dieser Theorie werden die geschlossenen Stimmlippen durch den steigenden subglottaren Druck auseinandergetrieben. Die Ausatmungsluft ist dabei die treibende Kraft, die die Stimmlippen zum Schwingen bringt. Nach­dem Luft entwichen ist, nimmt der Druck ab und die elastischen Stimmlippen können sich wieder schließen. Nach der neurochronaxischen Theorie des französischen Physiologen Raol Husson 17 werden die Stimmlippenschwingungen vom zentralen Nervensystem aus geregelt. Die Ausatmungsluft ist nur das tönende Medium, aber nicht die treibende Kraft.18Aber Hussons Theorie ist umstritten, deshalb wird sie von der Mehrzahl der Physiologen als unbewiesen abgelehnt.19
Der Gelehrte N. I. Shinkin vertritt die Ansicht, daß in der Praxis beide Arten der Stimmerzeugung gültig sind.20
Den Raum, in dem die Sprachlaute gebildet werden, nennt man Ansatzrohr. Das Ansatzrohr reicht von den Stimmlippen bis zu den Mundlippen und Nasenöffnungen und besteht aus drei Haupt­teilen: dem Rachenraum, dem Mundraum und dem Nasenraum, die als Resonanzräume und als akustisches Filter fungieren. Mundraum und Nasenraum sind durch den Gaumen (harten und weichen) vonein­ander getrennt. Das ganze Ansatzrohr ist völlig mit Schleimhautüberkleidet und in bestimmter Weise durch Muskeln der größe und Konfiguration nach modifizierbar.

A nsatzrohr:


1 Lippen, 2 Zahne, 3 Alveolen (Zahn­damm), 4 vorderer
harter Gaumen (Palatum), 5 mittlerer harter bzw. wei­cher Gaumen, (j hinterer weicher Gau­men (Velum), 7 Zäpfchen (Uvula), 8 Zungenspitze (Apex), 9 Zungenrücken (Dorsum),
10 Stimmlippen im Kehlkopf (Larynx).
Die Bewegungsmöglichkeit im Sinne des Abschlusses des Nasenraumes ist beim Zäpfchen (7) gestrichelt gekenn­zeichnet

Man kann für die Lautbildung wesentliche Teile des Ansatzrohres in aktive und passive einteilen. Zu den aktiven Sprachorganen gehö­ren: Unterkiefer, Zungen, Lippen, Gaumensegel; zu den passiven: Zähne, Zahndamm (Alveolen), harter Gaumen, Nasenraum u. a.


Der Unterkiefer kann sich in senkrechter und waagerechter Rich­tung bewegen. Für das normale Sprechen ist lediglich die gleitende Vertikalbewegung des Unterkiefers von Bedeutung. Sie ist von der psychischen Situation des Sprechers abhängig.
Die Stellung des Unterkiefers bedingt den Öffnungsgrad für die Laute, dieser ist im Kieferwinkel meßbar.
Die Zunge ist das wichtigste und beweglichste Sprechorgan und gilt als Hauptakteur der Lautbildung. Man unterscheidet Vorder-, Mittel-, Hinterzunge, Zungenwurzel und Zungenspitze. Fast alle Teile der Zunge können an der Lautbildung beteiligt werden. Die Artiku­lation vollzieht sich im Deutschen entweder mit der Zungenspitze, mit dem vorderen Zungenrand, mit dem vorderen Zungenrücken, mit dem mittleren Zungenrücken oder mit dem hinteren Zungenrücken. Die Zungenspitze soll bei der Bildung aller Vokale gesenkt gehalten werden. Die Zunge soll grundsätzlich horizontal mit ihrer Masse nach vorn gerückt werden.
Die Lippen sind beweglich. Sie liegen in Ruhestellung locker aneinander. Bei der Lautbildung können sie verschiedene Stellungen einnehmen (gerundete, vorgestülpte, gespreizte).
«Das Gaumensegel (Velum) regelt wie ein Klappenventil die Passage des Luftstroms im Dreierweg: Rachenraum — Mundraum — Nasenraum».21 So kann das Gaumensegel zusammen mit dem Zungen­rücken die Mundhöhle von dem Nasenraum absperren. Nur bei der Bildung der Nasale (m, n, ŋ) senkt sich das Gaumensegel. Bei allen anderen deutschen Lauten ist es mehr oder weniger gehoben und behin­dert den Nasenweg mehr oder weniger (Vokale, sth. Engelaute und sth. Schwinglaute), bzw. verschließt ihn (Verschlußlaute, stl.Reibelaute). Durch den nicht völligen Abschluß des Nasenwegs wird, besonders bei den Vokalen, ein nasales Timbre hervorgerufen. Diese nasal-pharingalen Öffnungsgrade sind, wie die Untersuchungen von H.-H. Wängler gezeigt haben, sprachlich und sprecherisch irrelevant.22
Alle übrigen Teile des Ansatzrohres sind bei der Artikulation passiv beteiligt. Die, Einteilung der Sprechorgane in aktive und passive ist von entscheidender Bedeutung, weil der Klassifikation der Sprachlaute meistenteils die Artikulationsstelle an den aktiven Sprechorga­nen für die Bezeichnung zugrunde gelegt wird.



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