Thema 1: Wesen und Aufgaben der Phonetik. Physiologie und Akustik der Sprachlaute


II.1. Die neutrale Aussprache als Grundvariante der deutschen



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Vorlesung Theoretische Phonetik

II.1. Die neutrale Aussprache als Grundvariante der deutschen
Standardaussprache
„Die älteste bekannte, 1898 geschaffene genormte Lautung ist die so genannte „Bühnenaussprache“ von Theodor Siebs, die in erster Linie eine einheitliche Aussprache auf der Bühne ermöglichen sollte, dann aber eine viel weiter gehende Lautung erlangte“ (9). Sie ist mehrmals überarbeitet worden. Die Bühnenaussprache ist in den letzten Jahrzehnten durch eine neue Norm abgelöst worden, die als Standardaussprache oder Standard­lautung bezeichnet wird.
„Die Aussprache der deutschen Schriftsprache hat sich im 20. Jahrhundert, besonders seit den 50-er Jahren, teilweise geändert, nicht zuletzt deshalb, weil das (klassische) Theater seine Rolle als Träger einer Einheitsaussprache weitgehend an Rundfunk und Fernsehen abgeben musste“ (9). Dieser Entwicklung hat zuletzt das „Wörterbuch der deutschen Aussprache“ (Leipzig, 1964) und das „Duden-Aussprachewörterbuch“ (Mannheim, 1974) Rechnung getragen. In diesen Werken wird die neue Einheitsaussprache, die vor allem die Aussprache geschulter Rundfunk- und Fernsehsprecher wiedergibt, unter der Bezeichnung „Standardaussprache“ (Standardlautung) beschrieben. (Die wesentlichen Züge dieser Standard­lautung sind im vorliegenden Lehrbuch dargelegt, siehe Kapitel 8).
In den vergangenen Jahren wurden wiederholt Versuche gemacht, innerhalb der Standardaussprache Aussprachevarianten (formelles, langsames, vertrauliches, schnelles usw. Sprechen) zu beschreiben und zu normen (9). Leider haben diese Versuche zu keinen eindeutigen und einheitlichen Ergebnissen geführt. Klar und anschaulich ist nur der Kontrast zwischen schwachen und überlautenden Formen:
schwache Formen können beim schnellen Tempo und je nach Stellung weniger abgeschwächt werden. Zu diesen Wortformen gehören Pronomen und Artikel, häufig verwendete Formen der Verben haben, sein, werden, sollen, wollen u.a., häufig verwendete, besonders einsilbige Präpositionen, Konjunktionen und Adverbien. Das „Aussprachewörterbuch“ von Duden bringt folgendes Beispiel:
[vas ha:bn̦ zi: dεn de:ɐ fra͜u gәzɑ:kt]
[vas han zә n dɐ fra͜u gәzɑ:t]
Überlautende Formen sind deutlicher und schriftnäher als die Standardlautung. Sie werden verwendet, wenn man höchste Deutlichkeit erlangen will, z.B. beim Diktat, bei großem Lärm in der Umgebung, bei großer Entfernung zwischen Sprecher und Hörer, im elementaren Leseunterricht, beim Vorlesen durch ungeschulte Sprecher. Als Gegenstand der Phonostilistik können die überlautenden Formen nicht von Interesse sein, denn die Phonostilistik befasst sich mit realer mündlicher Rede in natürlichen Lebensbedingungen. In dieser Rede sind einige Varianten festzustellen, deren Grundlage die neutrale Aussprachevariante ist, die die Grenzen der genormten Standardlautung nicht überschreitet, d.h. weder stark übertrieben noch sehr lässig, luschig wirkt.
Bei der Betrachtung der Aussprachevarianten geht man von der neutralen Aussprache mit expressiver Nullfärbung aus. Die Grundlage der Standardlautung bildet die phonetische Gestaltung der Nachrichtenlesung vor dem Mikrophon im Rund- und Fernsehfunk, wo Mitteilungsprinzip und Ungezwungenheit der Sprechweise einander die Waage halten. Die Lautung der Nachrichtenlesung muss natürlich, die Artikulation deutlich, aber nicht übertrieben sein. Dabei werden relevante Aussprache- und Intonations­merkmale in Betracht gezogen. Schwächungen und Assimilationen sind mäßig, sie fallen gar nicht auf, weil diese Aussprachevariante der genormten Lautung völlig entspricht.
Lautliche Besonderheiten der Nachrichtenlesung sind wie folgt:
– der Spannungsgrad der Artikulation ist gemäßigt;
– Quantität und Qualität der Vokale hängen von der Art der Silbe (offen, geschlossen, betont, unbetont) ab;
– der Absatz der Vokale (die Art der Verbindung zum Nachbarlaut) ist stark bei kurzen Vokalen, relativ stark bei langen Vokalen;
– der Neueinsatz der Vokale im Wort- und Silbenanlaut;
– die Reduktionen des Schwa-Lautes in den Endsilben -en, -em, -el (außer der Position nach Vokalen und Sonoren - schreien, kommen);
– das Fehlen der Gemination - lassen, Affe (außer der Position an Morphemgrenze, vgl. am Morgen);
– teilweise Entstimmlichung der stimmhaften Konsonanten im Wort- und Satzanlaut
– das phonetische Auslautgesetz (im Wort- und Silbenauslaut werden stimmhafte Konsonanten entstimmlicht - Tag, möglich);
– das Reibe- ʁ dominiert
– die vokalische Auflösung des r- nach Langvokal, in den Präfixen er-, ver-, zer- und in den Endsilben

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