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L5: „Ich glaube, sobald Anonymität möglich ist, funktioniert das nicht mehr. Das hier lebt
davon, dass jeder jeden kennt. Das ist in der ersten Schulwoche das erste Ziel. Es gibt sogar
Prüfungen darüber, jeder muss jeden kennen: die Namen und die Funktion.“
I: „Was für Prüfungen?“
L5: „Sie müssen so einen Eintrittstest bestehen und diesen so lange wiederholen bis sie das
können. Und ob das die Frau in der Kantine oder die Praktikantin oder die Lernteamleiterin
ist, egal. Jeder muss jeden kennen. Das, finde ich, ist das Grundprinzip. Wenn man eine riesige
Schule in Einheiten aufteilen könnte, dann glaube ich daran, dass das funktioniert. Ich habe
aber schon Schulhäuser gesehen mit zweitausend Schülern und ich möchte da nicht
Pausenaufsicht machen und niemanden beim Namen kennen. Das wäre für mich ein
Albtraum.“ (L5_CH_3.1#44:29#)
S3: „Ich denke, wir haben, was das Pädagogische angeht, eine sehr gute Beziehung zu allen.
Auch weil die Schule halt sehr klein ist. Ich kenne jeden. Also es kennen eigentlich alle alle.“
(S3_CH_2.1# 12:28)
Mit den kleineren Einheiten ist nicht immer die zu unterrichtende Klassengröße gemeint,
sondern
entsprechende Strukturen, die die erwähnte Anonymität auflösen. In der Schweiz ist hier als wichtige Säule
das Coachingsystem eingerichtet, in dem ein/eine Lehrer/in für ca. 15 Schüler/innen verantwortlich ist. Im
Fall der österreichischen Schule gibt es kein äquivalentes Angebot, aber immerhin eine
Klassenvorstandsstunde
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. Von der Qualität unterscheiden sich diese beiden Systeme massiv. Während die
Klassenvorstandsstunde in der österreichischen Schule eine halbe Stunde pro Woche pro Schulklasse beträgt,
sind in der Schweiz sogenannte Coachinggefäße eingerichtet, die pro Schüler/in eine halbe Stunde vorsehen,
je nach Bedarf aber mindestens einmal pro Woche.
FAKTOR: COACHING VERSUS KLASSENVORSTANDSSTUNDEN
(I): „Klassenvorstandsstunde bedeutet was? Sind das dann zusätzliche Werteinheiten oder wie
funktioniert das?“
L3: „Die Klassenvorstandsstunde ist eine zusätzliche Werteinheit, wo ich eine Stunde alle 14
Tage habe. Ich mache jede Woche eine halbe Stunde, damit ich sie jede Woche sehe. Weil bei
mir ist das so, ich habe sie in Geschichte und habe sie zwei Stunden lang, das ist nicht viel.
Und ich habe sie in diesem Jahr erst in der dritten Klasse bekommen. Oft ist es dann so, dass
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Anzumerken ist, dass eine Klassenvorstandsstunde in Österreich nicht institutionell vorgesehen ist. Es handelt
sich um einen Geldbetrag, den der/die Lehrer/in für den Verwaltungsaufwand als Klassenvorstand erhält. Für eine
Werteinheit, also konkrete Zeit mit den Schüler/innen, muss dies schulautonom „finanziert“ und an anderer Stelle
eingespart werden. Dazu braucht es den Beschluss des Schulgemeinschaftsausschusses (SGA).
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man hauptsächlich administrative Sachen macht bzw. wenn es irgendwelche Konflikte gibt.
Oder hin und wieder kann man sie loben (lacht).“ (L3_Ö_1.1#00:05:07#)
In dem Zusammenhang fehlender Ressourcen für entsprechende Betreuung
der Jugendlichen wird das
Thema der Disziplinierungsprobleme von Lehrer/innen aufgegriffen. Ein Aspekt, der im Fall der Schweiz
nicht explizit erwähnt wurde, da derartige Situationen über das Coachingsystem aufgefangen werden, wie
das nachfolgende Beispiel eines Schülers verdeutlicht. In der österreichischen Fallstudie hingegen gibt es
keine entsprechenden Strukturen und je nach Situation gilt es diese Probleme im Fachunterricht zu
bearbeiten. Die geschilderte Situation des Schülers in der Schweiz,
dass er bei auftretenden
Aggressionsproblemen das Klassenzimmer verlassen kann, um zu laufen oder Musik zu hören, ist in
Österreich – nach derzeitiger gesetzlicher Regelung – aufgrund der Aufsichtspflicht (kustodiale Funktion
der Schule) nicht möglich.
FAKTOR: DISZIPLINIERUNG
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