I. Die Kasaner Schule. Die Phonemtheorie von J. Baudouin de Courtenay.
Nachdem artikulatorische (physiologische) und akustische Eigenschaften der Sprachlaute von uns behandelt worden sind, gehen wir zum funktionalen Aspekt, der phonologischen (distinktiven) Funktion der Sprachlaute im Sprachsystem, über. Die funktionale Betrachtungsweise der Sprachlaute ist am wichtigsten für die Linguistik, weil die Sprache ein besonderes Zeichensystem ist, das die Ideen ausdrückt. Der Wissenschaftszweig der Sprachwissenschaftler sich mit der sprachlichen Funktion der Lautmittel der Sprache, darunter auch der Sprachlaute, befaßt, heißt Phonologie.44
Phonologie als Begriff entstand erst gegen Ende des vorigen Jahrhunderts. Vor dieser (und bis zu dieser) Zeit interessierte man sich nur für die artikulatorischen und akustischen Eigenschaften der Sprachlaute und ihre Klassifikation.
Zur Zeit wird sie als wichtigster Zweig der weiter aufgefaßten Phonetik von der Mehrzahl der Sprachforscher anerkannt. Im folgenden wollen wir auf die u. E. wichtigsten Entwicklungsetappen der Phonologie eingehen.
Die Arbeiten der Vertreter dieser Schule (in erster Linie die Werke vоn J. Baudouin de Courtenay und seinem Schüler N. W. Kruszewski) waren für die phonologische Epoche in der Sprachwissenschaft von wesentlicher Bedeutung. An der Spitze dieser Schule stand viele Jahreder berühmte russisch-polnische Sprachwissenschaftler Baudouin de Courtenay, der mit Recht als einer der Begründer der Phonologie, als eigentlicher Entdecker des Phonems als sprachliche Einheit gilt45,
Baudouin de Courtenay teilt die Lautlehre in drei Teile ein:
1. Anthropophonik, die die akustisch-physiologischen Eigenschaften der Sprachlaute erforscht,
2. Psychophonetik, die die funktionalen Vorstellungen (Kyneme, Akuseme, Kynakeme) in Zusammenhang mit anderen sowohl mit rein linguistischen (morphologischen) als auch mit den außerlinguistischen (semasiologischen) Vorstellungen untersucht.46
3. Historische Phonetik.
Die Psychophonetik von Baudouin de Courtenay scheint das Vorbild (Urbild) der gegenwärtigen Phonologie gewesen zu sein. Bei ihm finden wir verschiedene Phonem-definitionen. Die wichtigsten von ihnen seien erwähnt. Im Gegensatz zum Laut wird das Phonem in seiner ersten Entwicklungsetappe einerseits «als Summe verallgemeinerter anthropophonischer Eigenschaften eines bestimmten phonetischen Teils eines Wortes» genannt und andererseits wird es als «bewegliche Komponente des Morphems und als Eigenschaft einer bestimmten morphologischen Kategorie» bezeichnet. Aus der ersten Definition geht folgendes hervor:
1. Das Phonem ist eine abstrakte Erscheinung.
2. Sie besteht aus phonetischen (anthropophonischen) Eigenschaften.
3. Diese Eigenschaften sind bestimmten phonetischen Teilen des Wortes eigen. Anders gesagt, es entspricht dem sogenannten Lauttyp, z. B.: том—дом, палка—балка, Karten—Garten usw.
Die zweite Definition besagt folgendes:
1. Das Phonem ist eine abstrakte Erscheinung.
2. Seine Beweglichkeit in lautlicher Hinsicht ist mit dem Morphem verbunden, z. B.: Tage—Tag, Wege—Weg, зубы—зуб. Für die phonemische Identität ist die morphologische Identität ausschlaggebend.
Das Phonem wurde zuerst von Baudouin de Courtenay als ein unteilbares Ganzes aufgefaßt. In der zweiten Entwicklungsetappe seiner Phonemtheorie bestimmt er das Phonem als einen gleichzeitigen Komplex von Kynemen und Akusemen. Ein Kynakem ist die verbundene Vorstellung von Kynem und Akusem. Dadurch wird das Phonem als Verbindung von einigen weiter nicht zerlegbaren artikulatorisch-auditiven Elementen (Kynemen und Akusemen) zu einem einheitlichen Ganzen bezeichnet. Dabei werden die phonetischen Vorstellungen (Kyneme und Akuseme) mit den anderen sowohl rein linguistischen(morphologischen) und außerlinguistischen (semasiologischen) Vorstellungen in Verbindung gesetzt. So gelangte er zu seiner psychologisch formulierten Phonemdefinition. Das Phonem ist eine abstrakte psycholo-gische Erscheinung, eine Vorstellung (oder ein Komplex von Vorstellungen), die in der Psyche des Individiums existiert. Es realisiert sich in der Rede im Morphembestand in Form verschiedener Divergenzen (Varianten). Das Verhältnis des Phonems zu dem konkreten Redelaut entspricht dem Verhältnis der Artikulationsabsicht zu ihrer Verwirklichung.
Baudouin unterscheidet zwei Arten Divergenzen: keimende und sichtbare. Die keimenden Divergenzen werden von dem Sprechenden in der Regel nicht empfunden, weil der Unterschied zwischen ihnen zu gering ist. Dabei handelt es sich um verschiedene Schattierungen eines Phonems, z. B.: dt. k in den Wörtern Katze, Kegel, Kohle, Kind, Kuh.
Die sichtbaren Divergenzen sind leicht zu bemerken, z. B. dt. d und t in demselben Morphem mit verschiedener Position: Kinder—Kind.
Die psychologische Auffassung des Phonems von Baudouin de Courtenay muß zweifellos als ein Rückschritt gegenüber seiner früheren Ansichten gewertet werden. Er glaubte mit dem Begriff des psychischen Äquivalents des Sprachlauts das Phonem als Spracheinheit entdeckt zu haben, traf aber im Grunde das psychologische Korrelat der Schallsegmente.47
Seine psychologistisch orientierte Phonemauffassung hat keinen bedeutenden Einfluß auf die Weiterentwicklung des phonologischen Gedankens ausgeübt, obwohl manchmal auch heute ihre Anhänger anzutreffen sind.48
Aber seine grundlegenden theoretischen Gedanken über das Phonem als Summe anthrophonischer Eigenschaften und als bewegliche Morphemkomponente, über die größeren Einheiten als die Phoneme, Lautalternationen und über andere übten einen bedeutenden Einfluß auf die Weiterentwicklung der Phonologie auch im Auslande aus. Durch den Pariser Aufenthalt Stscherbas und durch seine Schriften wurde zu Beginn des XX. Jahrhunderts weiteren Kreisen der Linguistik der westlichen Welt die große Bedeutung der Phonemtheorie von B. de Courtenay offenbar. Schon vorher hatte aber F. de Saussure die Grundgedanken von Baudouin de Courtenay in seiner Lehre verarbeitet.49
Unter dem Einfluß der Ideen von Baudouin de Courtenay entstanden in der Sowjetunion zwei phonologische Schulen: die Leningrader und die Moskauer. Während für die Vertreter der Leningrader Schuledie Auffassung von dem Phonem als die Summe verallgemeinerter anthrophonischer Eigenschaften ausschlaggebend war, diente die morphologische Bezogenheit der Theorie von Baudouin de Courtenay als Ausgangspunkt für die Phonemtheorie der Moskauer Schule. Als Grundlage für die Entstehung solcher linguistischen Begriffe wie Archiphonem, Hyperphonem, Phonemreihe, Morphonem50 u. a. sollen seine Gedanken über die größeren Einheiten als Phoneme gedient haben.
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