Zwar beschäftigte Goethe
sich intensiv mit Christentum, Judentum und Islam und deren
maßgeblichen Texten, doch wandte er sich gegen jede
Offenbarungsreligion
und gegen die
Vorstellung eines persönlichen Schöpfer-Gottes. Der Einzelne müsse das Göttliche in sich
selber finden und nicht einer äußeren Offenbarung aufs Wort folgen.
[218]
Der Offenbarung
setzte er die Anschauung entgegen.
Navid Kermani
spricht von einer „Religiosität der
unmittelbaren Anschauung und allmenschlichen Erfahrung“, die „ohne Spekulation und fast
ohne Glauben“ auskomme.
[219]
„Natur hat weder Kern noch Schale / Alles ist sie mit einem
Male“, heißt es in Goethes Gedicht
Allerdings. Dem Physiker. von 1820,
womit er betonte, dass
die Natur in der Gestalt zugleich ihr Wesen zeige. Auf
Friedrich Heinrich Jacobis
Schrift
gegen
Spinoza
hatte er 1785 dem Freund geantwortet, ein göttliches Wesen könne er nur in
und aus den Einzeldingen erkennen, Spinoza „beweist nicht das Dasein Gottes, das Dasein ist
Gott“.
[220]
In einem weiteren Schreiben verteidigte er Spinoza mit den Worten: „Ich halte mich
fest und fester an die Gottesverehrung des Atheisten […] und überlasse euch alles was ihr
Religion heisst“.
[221]
In seinen Naturstudien fand Goethe die Grundfesten der Wahrheit. Immer wieder bekannte er
sich als
Pantheist
in der
philosophischen Tradition
Spinozas
und als
Polytheist
in der
Tradition der klassischen Antike.
[222]
„Wir sind naturforschend Pantheisten, dichtend Polytheisten,
sittlich Monotheisten.“
– M
R
[223]
Einem Reisenden gegenüber, berichtet
Dorothea Schlegel
, habe Goethe erklärt, er sei „in der
Naturkunde und Philosophie ein Atheist, in der Kunst ein Heide und dem Gefühl nach ein
Christ“.
[224]
Die Bibel und der Koran, mit dem er sich zur Zeit der Dichtung am
West-östlichen Divan
beschäftigt hatte, waren ihm „poetische Geschichtsbücher, da und dort mit Weisheiten
durchsetzt, doch auch mit zeitgebundenen Torheiten“.
[225]
Religionslehrer und Dichter sah er
als „natürliche Gegner“ und Rivalen an: „die religiösen Lehrer möchten die Werke der Dichter
‚unterdrücken‘, ‚bei Seite schaffen‘, ‚unschädlich machen‘.“
[226]
Abgelöst
von den Dogmen
fand er in der
Ikonographie
und der erzählerischen Tradition aller bedeutenden Religionen,
einschließlich des
Islam
und des
Hinduismus
, reiche Quellen für seine poetischen Symbole
und
Allusionen
; die stärksten Zeugnisse davon liefern der
Faust und der
West-östliche
Divan.
[227]
Goethe liebte die plastische Darstellung der antiken Götter und Halbgötter, der Tempel und
Heiligtümer, während ihm das Kreuz und die Darstellung gemarterter Leiber geradezu
verhasst waren.
[228]
„Vieles kann ich ertragen. Die meisten beschwerlichen Dinge /
Duld ich mit ruhigem Mut, wie es ein Gott mir gebeut. /
Wenige sind mir jedoch wie Gift und Schlange zuwider, /
Viere: Rauch des Tabaks, Wanzen und Knoblauch und Kreuz.“
– V
E
66
[229]
Dem Islam begegnete Goethe mit Respekt, aber nicht kritiklos.
[230]
In den
Noten und
Abhandlungen zum besseren Verständnis des West-östlichen Divans kritisierte er, Mohammed
habe seinem Stamme „eine düstere Religionshülle übergeworfen“; dazu zählte er das
negative Frauenbild, das Wein- und Rauschverbot und die Abneigung gegen die Poesie.
[231]
Kirchliche Zeremonien und Prozessionen waren ihm „seelenloses Gepränge“ und
„Mummereyen“. Die Kirche wolle herrschen und brauche dazu „eine
bornierte Masse, die sich
duckt und die geneigt ist, sich beherrschen zu lassen“.
[232]
Die ganze Kirchengeschichte sei
ein „Mischmasch von Irrtum und von Gewalt“.
[233]
Mit Anteilnahme und tiefgründigem Humor
schilderte er andererseits das traditionelle Sankt-Rochus-Fest zu Bingen – ähnlich wie schon
in seiner früheren Beschreibung des „Römischen Karnevals“ (1789)
[234]
– als ein heiteres
Volksfest, bei dem das Leben als gut und schön bejaht und jeder christlichen Askese
abgeschworen wurde.
[235]
Gleichwohl sah er im Christentum „eine Ordnungsmacht, die er
respektierte und die er respektiert sehen wollte“.
[236]
Das Christentum sollte zwar den
gesellschaftlichen Zusammenhang im Volk fördern, doch für die
geistige Elite war es aus
Goethes Sicht überflüssig,
[237]
denn: „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, / hat auch
Religion; / wer jene beiden nicht besitzt, / der habe Religion.“
[238]
Andererseits war ihm die Vorstellung der
Wiedergeburt
nicht fremd. Sein
Unsterblichkeitsglaube
basierte jedoch nicht auf religiösen, sondern philosophischen
Prämissen
, etwa auf der
Leibnizschen
Konzeption der unzerstörbaren
Monade
oder der
Aristotelischen
Entelechie
.
[216]
Aus dem Gedanken der Tätigkeit entwickelte er im Gespräch
mit Eckermann die These, dass die Natur verpflichtet sei, „wenn ich bis an mein Ende rastlos
wirke, […] mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die
jetzige meinem Geist nicht
ferner auszuhalten vermag“.
[239]
Do'stlaringiz bilan baham: