Thema 1: Wesen und Aufgaben der Phonetik. Physiologie und Akustik der Sprachlaute

2. Regeln für die Bestimmung der Phoneme.
Nachdem N. S. Trubetzkoy die Phonemdefinition gegeben und den Phonemgehalt bestimmt hat, gibt er die Regeln zur Aussonderung des Phonems von seinen phonetischen Varianten einerseits und den Phonemverbindungen andererseits. Die wichtigsten von ihnen seien unten erwähnt.

1. 
   Aussonderung der Phoneme und Varianten.
   

Regel 1: «Wenn zwei Laute derselben Sprache genau in derselben lautlichen Umgebung vorkommen und miteinander vertauscht werden können, ohne dabei einen Unterschied in der intellektuellen Wortbe­deutung hervorzurufen, so sind diese zwei Laute nur fakultative phonetische Varianten eines Phonems⁶⁴», z. B.: [r] und [R] im Deut­schen: Radio, Reden, bringen. Als Beispiel kann auch die Verlängerung des Konsonanten vor einem betonten Vokal dienen: ja! Vgl. dazu: ҳa! im Usbekischen.
Regel 2: «Wenn zwei Laute genau in derselben Lautstellung Vor­kommen und nicht miteinander vertauscht werden können, ohne daß sich dabei die Bedeutung der Wörter verändert oder das Wort unerken­ntlich werden würde, so sind diese zwei Laute phonetische Reali­sationen zweier verschiedener Phoneme⁶⁵».
Beispiele: Karten—Garten, Nase—Vase, nein—sein, kein—fein, Tier—Tür, liegen—legen, heiß—Haus, бop—қop, бoлa—тола, зop—нop im Usbekischen.
Regel 3: «Wenn zwei artikulatorische bzw. akustische verwandte Laute nie in derselben Umgebung vorkommen, so sind diese Laute als kombinatorische Varianten eines Phonems zu bestimmen»⁶⁶.
Beispiele: [ҫ] und [x] im Deutschen.

2. 
   Aussonderung des Phonems von den Lautverbindungen.
   

Regel 1: Eine Lautverbindung ist Ausdruck eines einzigen Phonems, wenn sich ihre Bestandteile nie auf zwei Silben verteilen, z. B.: stehen [ао], [ае], [ɔø]im Deutschen nur in einer Silbe: Bauer, Bayern, teuer. Aber [pf], [ts], [tʃ] in den Wörtern Apfel, Sätze, deutsche.
Regel 2: Eine Lautverbindung muß monophonematisch (einphonemig) gewertet werden, wenn sie durch eine einheitliche Artikulation (Öffnungs- und Schließbewegung) erzeugt wird, z. B.: [ts] im Deut­schen und ц im Usbekischen.
Regel 3: Eine Lautverbindung ist monophonematisch zu werten, wenn ihre Dauer die durchschnittliche Dauer des längsten einfachen Lautes nicht wesentlich überschreitet, z. B. vgl.: [ts] und [ʃ], [a:] und [ao].
Diese dritte Regel beruht auf einem rein phonetischen Kriterium, deshalb ist es kaum für phonologische Forschungen maßgebend.
Auf Grund der erwähnten Regeln⁶⁷ kann das Phoneminventar einer und mehrerer Sprachen ermittelt werden.