„Very often, traditional educational theories are not well fitted to the particular, pragmatic
concerns of educators“ (Jörg et al. 2007, S. 3).
In dem Positionspapier „Towards a new complexity science of learning and education“ (Jörg et al. 2007)
sind die Forderungen auf einer sehr allgemeinen Ebene formuliert. Darin wird beispielsweise appelliert, eine
neue wissenschaftliche Haltung einzunehmen, die das komplexe Denken integriert, was wiederum
voraussetzt, dass die Komplexität der Realität und die damit verbundene Ungewissheit anerkannt werden.
Weiters wird betont, dass es wichtig ist, die Krise der Bildung wahrzunehmen, die Ursachen zu verstehen
und nach Lösungsansätzen zu suchen. Der beschriebene Ansatz geht von einem evolutionären Verständnis
aus, das auf „complexity theories with transdisciplinary tools of thought“ basiert und eine „theory of change“
integriert (ebd. S.7). Konkrete theoretische Aussagen bleiben aus, stattdessen werden Erkenntnisse und
Annahmen anderer Theoretiker verknüpft. Beispielsweise findet sich Luhmanns Systemtheorie wieder in
102
der Forderung, einen eigenen Wortschatz zu kreieren, um über die Disziplinen hinweg in einen Diskurs
treten zu können. Der Gedanke, die Output- Ausrichtung (pre-determined outcomes) im Bildungsdiskurs
durch eine Orientierung an Möglichkeiten (possiblity-oriented education) (ebd. S.8) zu ersetzen, erinnert
stark an den Diskurs weg von der Erzeugungsdidaktik hin zu einer Ermöglichungsdidaktik. Der Begriff
Ermöglichungsdidaktik wurde vor allem in den 1990er Jahren von ARNOLD (2015) geprägt und basiert
auf den Annahmen der konstruktivistischen Lerntheorie im Sinne einer Selbstbestimmung und
Selbststeuerung des Lernenden (Arnold 2015). Einen vergleichbaren Ansatz entwickelt REICH (1998) in
einer zweibändigen Publikation „Die Ordnung der Blicke – Perspektiven des interaktionistischen
Konstruktivismus“.
Die Forderung nach einer Theorie, die es ermöglicht, die Komplexität von Lernen und Bildung zu
erfassen, wird im aktuellen Bildungsdiskurs immer wieder thematisiert, und zahlreiche Autoren
argumentieren diese Notwendigkeit auch durchaus nachvollziehbar (vgl. dazu Jörg et al. 2007; Scheunpflug
und Hirsch 2000).
Wie eine derartige Theorie jedoch konkret aussehen könnte, bleibt derzeit noch völlig vage. Es stellt
sich die Frage, ob nicht gerade die Komplexität dieser Lerntheorien verhindert, dass sie Lösungen für die
Praxis anbieten können, weil sie sich, um alle Einflussfaktoren in ihrer Komplexität erfassen zu können,
zwangsweise auf einer rein abstrakten Ebene bewegen müssen. EGNER (2010) erläutert in ihren
Ausführungen zu wissenschaftstheoretischen Grundlagen, dass mit zunehmenden Abstraktionsgrad von
Theorien die Häufigkeit ihrer empirischen Überprüfungen abnimmt (Egner 2010). Wenn auch die
Theorien des Wandels, ähnlich wie Luhmanns Systemtheorie, von einem hohen Abstraktionsgrad
gekennzeichnet sind, können sie trotzdem für die vorliegende Studie interessante Herangehensweisen bieten.
Schließlich handelt es sich im Fall der Gestaltung von Lehr-/ Lernprozessen um ein komplexes System, wie
auch das Textfeld 18 verdeutlicht.
Properties of complex systems:
Many complex systems exhibit superposition.
Complex systems construct and maintain a synthesis of substance and process.
Complex systems are multi-layered and multi-scaled.
Causality is often mutual and reciprocal.
Properties are often distributed over various components.
Self-images do not function as moulds that automatically impose their form onto some inert
mass.
Textfeld 18: Properties of complex systems nach (Jörg et al. 2007, S. 4–5)
103
Theorie und Praxis: eine Hassliebe?
Wie viel theoretisches Wissen brauchen Lehrende für die Schulpraxis? Und was kann man mit einer
Theorie besser als ohne? – An der Bedeutung von Theorien für gelingende Lernprozesse scheiden sich oft
die Geister. Die Beziehung zwischen Theorie und Praxis wird seit Jahren in wissenschaftlichen Kreisen
diskutiert (Jörg et al. 2007, S. 1; Reich 2008).
SCHEUNPFLUG (2012) identifiziert gerade im Bildungsbereich eine sehr spezielle Situation die
Theorien betreffend. Sie beschäftigen sich mit Phänomenen des Lernens, der Schule und des Unterrichts,
und ihre Erkenntnisse unterliegen deshalb einem gewissen Handlungszwang. Konkret bedeutet es, dass die
Schulpraxis Theorien einfordert, die Lösungen für alltäglich entstehende Probleme anbieten. Viele
Schulpraktiker/innen äußern deshalb auch immer wieder den Vorwurf, dass die existierenden Theorien für
den Schulalltag keine Stütze seien und fordern mehr „Unterrichtsrezepte“, die für den Einsatz praktikabel
sind (Scheunpflug 2012).
Auf der anderen Seite verwehren sich Wissenschaftler dagegen, dass Theorien sogenannte
„Unterrichtsrezepte“ liefern. Primärer Grund dafür ist, dass es schlicht nicht möglich ist, mittels
vorgefertigter Rezepte der Komplexität von Lernprozessen gerecht zu werden. Vielmehr müssen
Lehrer/innen aufgrund nicht linearer Lernprozesse über ein entsprechendes theoretisches und methodisches
Begründungswerkzeug in ihrer Arbeit verfügen.
Per Definition sind Theorien „mehrere zusammenhängende, widerspruchsfreie Aussagen über einen
bestimmten Ausschnitt der Realität“ (Egner 2010, 6ff), mit dem Ziel bestimmte Phänomene zu beschreiben,
zu erklären oder Prognosen zu erstellen. Das heißt, Theorien erfüllen beispielsweise die Funktionen,
Informationen und Fakten zu ordnen, Probleme zu definieren und Möglichkeiten des Handelns zu
erkennen. Sie sind eine Art Werkzeug, um die sozialen Welten zu verstehen und zu interpretieren, aber auch
um den Radius des Mach- und Denkbaren zu erweitern und um unter anderem eine Verbesserung der
Lebensbedingungen zu bewirken (ebd. S.6ff).
Wenn eine Theorie die Funktion erfüllt, Möglichkeiten des Handelns aufzuzeigen, diese aber in der
Praxis nicht ankommen, stellt sich die legitime Frage, weshalb der Transfer scheitert und was es braucht,
um diesen erfolgreich in die Wege zu leiten. Für die vorliegende wissenschaftliche Arbeit sind Antworten
auf diese Fragen von besonderem Interesse, da mit ihnen der Anspruch verbunden ist, theoretische
Überlegungen zu konstruieren, die auf unterschiedlichen Ebenen Eingang in die Praxis finden.
Für diese Kluft zwischen Theorie und Praxis lassen sich unterschiedliche Erklärungsansätze finden. Von
zentraler Bedeutung ist der bereits diskutierte Ansatz hinsichtlich der theoretischen Erfassung von
Komplexität schulischen Lernens. Damit verbunden ist die Kritik, dass theoretische Konzepte immer nur
bestimmte Bereiche fokussieren und unfähig sind, die eigentliche Komplexität von Lernprozessen zu
erfassen. Das führt, wie zahlreiche Gespräche mit Schulpraktiker/innen vermuten lassen, dazu, dass der
104
Mehrwert durch theoriekompetentes Agieren im Unterricht von Lehrenden als nicht besonders hoch
eingeschätzt wird.
Eine andere Erklärung, die vorwiegend auf empirischen Daten beruht, betrifft die Professionalität von
Lehrer/innen. Demnach setzen sich wissenschaftliche Erkenntnisse in der Praxis nicht durch, weil die
subjektiven Theorien der Lehrer/innen unverhältnismäßig dominant sind (vgl. dazu Kapitel 5.3).
Konstruktivismus zwischen Abstraktion und Empirie
Basierend auf dieser Argumentation, wird zum einen die Fallstudie als Forschungsstrategie gewählt. Die
damit verbundenen unterschiedlichen methodischen Zugänge versuchen die Komplexität schulischen
Lernens darzustellen. Die zentrale Forschungsfrage unter dem Blickwinkel der konstruktivistischen
Lerntheorie zu untersuchen bietet sich an, da das Konzept der Individualisierung auf ihren Prinzipien
basiert. Zudem besteht die Möglichkeit, im Rahmen der Fallstudie empirische Daten zu erheben und diese
auf einer theoretischen Ebene zu abstrahieren.
Im Kontext der Fallstudienanalyse lassen sich verschiedene praktische Handlungen in unterschiedlichen
Ausprägungen identifizieren. Neben frontalen Unterrichtssequenzen, in denen einzig die Perspektive der/des
Lehrenden richtig ist, werden auch problemorientierte Lernsettings, in denen das Ziel schon vorgegeben ist,
oder völlig ergebnisoffene Lernprozesse zu finden sein. Bestimmte praktische Handlungen lassen auf
didaktische Modelle und Unterrichtskonzepte schließen und können somit unterschiedlichen theoretischen
Konzepten zugeordnet werden. Hinter jedem Handeln steht eine Theorie, ob sie nun bewusst oder
unbewusst angewandt wird.
Der existierende Theorienpluralismus in der Gestaltung schulischer Lehr-/ Lernprozesse wird durch die
Fallstudien besser erfasst, sodass Konsequenzen für die Qualität von Unterricht oder die Professionalisierung
von Lehrer/innen abgeleitet werden können. Möglicherweise lassen sich dann auch Rückschlüsse auf das
Missing Link ziehen, also auf jenen Baustein, der verantwortlich dafür ist, dass wissenschaftliche
Erkenntnisse in der Schulpraxis nicht ankommen.
Dieser Arbeit liegt die Behauptung zu Grunde, dass die praktische Umsetzung einer konstruktivistischen
Perspektive aufgrund der existierenden Organisationsstrukturen der Schule eine größere Herausforderung
darstellt als Umsetzungsstrategien, die sich auf den Behaviorismus oder Kognitivismus beziehen. Den
letztgenannten kommen die traditionellen räumlichen und organisatorischen Schulstrukturen, die noch aus
der Zeit der frühen Industrialisierung stammen, entgegen. Zentralen Forderungen des Konstruktivismus
hingegen, Lehrenden und Lernenden durch Auflösung der starren Zeitvorgaben und der Raumstrukturen
mehr Gestaltungsfreiheit bei der Entwicklung von Lernprozessen zu geben, wird im Regelschulsystem kaum
nachgekommen, obwohl diese auch im Einklang mit den neuesten Erkenntnissen der Gehirnforschung
stehen.
105
Genau diesen Problembereich greift die vorliegende Arbeit auf. Der Dimension des Lernraumes wird
nach wie vor nicht jener Stellenwert eingeräumt, der ihr nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zukommen
müsste. Diese Tatsache wird als spezielle Herausforderung für Forschungsfragen im Rahmen der
Fachdidaktik GW gesehen. Der Konstruktivismus, der davon ausgeht, dass Räume durch Handlungen und
Kommunikation produziert werden, wird dabei als inspirierendes und unterstützendes Bezugskonzept
betrachtet.
Diese Arbeit setzt nämlich
diese beiden Aspekte in Verbindung: Auf der einen Seite steht das Ziel,
individualisierte Lehr-/ Lernprozesse zu ermöglichen, und auf der anderen Seite werden die
Lernumgebungen hinsichtlich ihres Potenzials zur Förderung dieser Zielerreichung genauer untersucht.
In den bisherigen fachdidaktischen Forschungen in GW passiert meist eine reduzierte Betrachtung. Die
konstruktivistische Perspektive wird zwar integriert, aber der Fokus richtet sich fast ausschließlich auf die
inhaltliche Ebene (z.B.: Vermittlung von inhaltlichem „Stoff“, didaktische Reduktion), monoperspektivisch
auf die Akteursebene (z.B.: Lehrerzentrierung) oder auf fachdidaktische Methoden (vgl. dazu Kapitel 2).
Diese singulären Betrachtungen einzelner Faktoren des Unterrichts liefern auch durchaus
praxisrelevante Ergebnisse. Im Rahmen dieses Forschungsvorhaben wird der Grad der Komplexität
allerdings bewusst erhöht. Indem die Untersuchung um einen Parameter, nämlich die Lernumgebungen,
erweitert wird, ist in Anbetracht der beschriebenen Lernherausforderungen die Identifizierung einzelner
relevante Bausteine für die Förderung individualisierter Lehr-und Lernprozesse zu erwarten.
106
5
Perspektiven des Lehrens und Lernens im Konzept der
Individualisierung
In dieser Arbeit bereits mehrmals erwähnt, wird das Konzept der Individualisierung im folgenden
Kapitel detaillierter betrachtet. Präsentiert wird nicht nur die theoretische Perspektive, sondern es wird in
beiden Fallstudien auch auf die Besonderheiten und unterschiedliche Ausprägungen individualisierten
Lehrens und Lernens eingegangen.
5.1
Begriffsbestimmung, Abgrenzung und Kritik
Im Rahmen der Forschungsdesigns wurde bereits auf die Definition des Konzepts der Individualisierung
und möglicher alternativer Interpretationsweisen eingegangen (vgl. dazu Kapitel 3.2). Der bisher
verwendeten Begriffsbestimmung des Bundesministeriums für Bildung wird nun die Definition von
KUNZE (2008) gegenübergestellt, und im Anschluss daran werden die Unterschiede zur ministeriellen
Vorlage erläutert.
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