Mein krieg aufzeichnungen aus 2129 Tagen



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Kurz, Sie sehen mich bei dem Versuch, ein Ludwig Thoma fürs Allgäu zu werden – mit dem Unterschied allerdings, daß Thoma im vorigen Krieg seinen kritischen Verstand verlor, wohingegen der jetzige dem meinem zum Treibhaus wird.

[An Wilhelm Hausenstein]

30. August 43. Mein herzliches Beileid zum Tod der Zeitung [Frankfurter Zeitung], oder sagen wir besser: zum Scheintod! Es geschieht ja vieles Tag um Tag, was ungleich größere Bedeutung für unsere Zukunft hat, aber es ist doch etwas Besonderes, wenn eine Einrichtung verschwindet, die uns begleitet hat, seitdem wir zu denken begonnen haben. Hatte die Zeitung auch nie eine Orien- tierung, mit der ich mich hätte identifizieren mögen, so kam sie doch der eigenen Vorstellung von einer Zeitung am allernächsten und enthielt oft und oft Beiträge, die uns geistige Bereicherung hedeuteten von der Art, wie Zeitungen dazu fähig sind: als An- stoß, als Hinweis, als Markierungen im Zeitstrom – von der aus- gezeichneten Art der Information ganz zu schweigen.

Das Organ war ein Band. Es hatte trotz seiner immer etwas pro- blematischen Doppelgesichtigkeit, dem Geist und dem Geld ver- pflichtet, eine ungewöhnlich homogene Gemeinde, die sich wäh- rend der bis jetzt letzten Periode nicht so sehr durch das zusam- mengehalten fühlen konnte, was wirklich auf den ersten Seiten stand, als mehr durch das, was sie heraus- oder hineinlas. Ich er- innere mich recht gut, wie mir – es muß kurz vor dem Krieg ge- wesen sein – an den Aufsätzen mit dem Signum RK [Rudolf 345


Kircher, letzter Chefredakteur] über seine Reise nach Amerika bewußt wurde, wie schmal der Weg war, auf dem die Schreiben- den gingen, wie sie sich Winden und drehen mußten, so daß es alles in allem ein klägliches Schauspiel war, zuweilen sogar ein ärgerliches. Doch hinfort gewöhnte man sich daran und las das Nicht-Geschriebene mit, sozusagen aus Tradition.

Ich Wünsche Ihnen, Sie könnten sich jetzt ganz einer eigenen, ta- gesfernen Arbeit widmen. Damit steht es bei mir nicht gut,ich lebe fremde Leben und tue fremdes Tun und muß noch froh sein, daß es so ist. Ein jeder wartet darauf, Wieder auf den eigenen Weg einbiegen zu können, und dabei sind wir, die wir eine genaue Richtung vor uns sehen, noch weit im Vorteil. Die übrigen, deren Leben sich von außen her gestaltet, werden überhaupt keinen der ehemals begangenen Wege mehr finden.

Wenn das Blatt, zu dessem vorläufigen Ende wir uns kondolie- ren, wieder vor uns liegt, werden wir mit unendlicher Mühe im Begriff sein, eine neue organische Ordnung um uns zu schaffen.

[Von Wilhelm Hausenstein]

Tutzing, 1. September 43. Es hat mir sehr wohlgetan, daß Sie in diesen Tagen so freundlich an mich gedacht haben, besonders im Zusammenhang meiner bisherigen journalistischen Arbeit. Sie können sich denken, daß ich einer derartigen Anerkenrıtnís sehr bediirftig bin: gerade auch in dem Augenblick, wo die alte Ar- beit ihr Ende findet.

Ihr Instinkt hat Ihre Vorstellung richtig geleitet: aus meinem pri- vaten Aspekt gesehen hat die Tätigkeit im richtigen Moment auf- gehört.

Kunsthistorísches gedenke ich nicht mehr zu schreiben, das ist nor- bei. Höchstens, daß ich mein Barockbach nochmals von Grand auf gern nea schreiben wiirde ¬ sehr anders, als ich es, vom expressio- nistischen Manierisrnas des zweiten fahrzehnts angesteckt, am 1918 geschrieben habe.

[An die Schwester]

13. September 43. Was ist das für ein unglaublicher Unsinn, an Mama zu schreiben, sie solle sich nicht wundern, Dich »künftig an den gefährlichsten Stellen« zu sehen. Das ist reine Deklama- tion, undwenn es mehr Wäre – noch schlimmer. Besonders schlimm in dieser Zeit, in der es nur ein Bestreben geben darf: sich zu er- 346


halten. Die Gelegenheiten, unterzugehen, liegen weiß Gott auf der Straße, und Wo Millionen und vielleicht eine Welt unterge- hen, fällt es nicht gerade sdıwer, sich dazuzuwerfen. Das ist eine wenig stolze Lösung. Wir haben nachher da zu sein, das Chaos wieder zu ordnen. Wie wertlos ist jede Form des Mutes, die nicht sich darin erfüllt, daß sich einer beharrlich und zäh gegen widrige Umstände behauptet.

[In jenen Monaten soll zwischen München und Garmisch für die projektierte ››Alpenfront« ein zusätzliches Fernsprechkabel ver- legt werden. Zum Ausheben des Grabens wird ein Kommando von Soldaten aus der Kcmptener Kaserne nach Weilheim abge- stellt, von wo aus es täglich zur Arbeitsstelle gefahren Wird. Ich gehöre dazu. Dank eines vernünftigen Kommandoführers brau- che ich nicht mit den anderen in einem Massenquartier zu schla- fen, sondern kann in unserem I-Iaus bei meiner Mutter wohnen.

Zur Belohnung für gute Grabarbeit und für die aktive Teilnahme an einem Unterhaltungsabend im Saal des ››Bräuwastl« bekom- rne ich fünf Tage Sonderurlaub, von dem die Kompanie in Kemp- ten nichts erfährt. Meine Frau kommt vom Bodensee nach Weil- heim, wir fahren nada Salzburg, wo alle großen Hotels Lazarette geworden sind und Wo wir aus der »Deutschen Eiche« von Wan- zen um Mitternacht vertrieben werden.

Wir besuchen Freunde in Schärding, den Industriellen Kapsreiter, dem ich die Verbindung zu Carossa verdanke, den nach Neuhaus am Inn aus Berlin evakuierten Bildhauer Ebbinghaus, und sind am 28. September bei Alfred Kubin in seinem Schlößchen Zwick- ledt. In Schärding lese ich vor einem kleinen Kreis aus den um- geschriebenen russischen Briefen vor. Am 13. Oktober Rückkehr in die Kemptener Kaserne]

[Aus dem Notizkalenderz]

15. Oktober 43. Zum Rapport beim Kompaniechef befohlen.

Eine Stunde Beschimpfungen. Dienst, Dienst, Beschimpfungen, Geschrei, Krach, Demütigung. - I6. Oktober 43. Wieder beim Kompaniechef wegen der »9 Tage« Arrest, aus den Akten ge- spenstisch aufeı-standen.

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VOM DNJEPR RÜCKKEHR UNERWÜNSCHT

[Aın zz. Oktober 43 werde ich mit zehn anderen wieder an die Ostfront ››abgestellt«. Wir fahren nach Augsburg, wo das Marsch- bataillon versammelt wird. Brosius von der Schreibstube gibt mir im letzten Augenblick einen Wink, bei meinen Papieren befänclc sich ein vom Kompaniechef geschriebener Brief, der mir gefährlich werden könne. Ich solle versuchen, an diesen Brief heranzukom- men.

Im Augsburger Hotel »Drei Mohren« begegne ich zufällig zwei Offizieren, die mich aus Demidoff kennen. Sie wundern sich dar» über, daß ich immer noch Soldat im untersten Dienstgrad bin, und finden, es sei Unsinn, daß ich, ausgebildeter ››Fcrnsprecher«, wie- der zur Infanterie geschickt würde. Der eine von ihnen, ein Major, erklärt, er wolle versuchen, mich aus diesem Marschbataillon hcr- auszuholen.]

2. November 43 [in Augsburg] Meine Schutzengel in Uniform funktionieren doch etwas besser, als ich gestern dachte. Eine Ver~ setzung weg vom Marschbataillon ist nicht mehr möglich. Aber ic' besitze nun einen Brief, den beide Offiziere unterschrieben ha' ben. Darin Werde ich gelobt und für den Dienst bei einer Nach- richtentruppe empfohlen. Das kann unter Umstanden enorme Bedeutung gewinnen, doch will ich darüber jetzt nichts weiter sagen.

3. November 43. Schon im Transportzug, der bald abfahren Wird.

Ich bin angenehm in dem Wagen untergebracht, der bei diesem Un- ternehmen als Sehreibstube dient. Nachts ist genug Platz, um sich auf dem mit Stroh bedeckten Boden auszustrecken. In der Mitte ist Platz für einen kleinen eisernen Ofen ausgespart, dessen Rohr durch eine Seitenwand ins Freie führt. Da das Stroh lose auf dem Boden liegt, würde ein solches Arrangement unter normalen Um« ständen auf der Reichsbahn unmöglich sein. Jetzt wird zu Recht vermutet, daß wir schon selber aufpassen, nicht in Flammen aufzu- gehen.

Von E. höre ich, daß er einer Division zugewiesen Wird, die in der Nähe von Krementschug, also im Síidabschnitt, eingesetzt ist. Da lernt er nun den Krieg von neuer Seite kennen. Wir wollen sehen, 343


was er schreiben wird. [Hier Wird, wie in der Gefängniszeit, wie- der von ››E.« gesprochen, wenn der Verfasser sich selbst meint. Nur in seltenen Fällen, in denen er sich ernstlich gefährdet fühlte, wen- dete er solche Vorsichtsmaßregeln an.} Vor der Abreise erstand ich in einer Buchhandlung mit viel Reden aus einem versteckten Be- stand Carossas ››Täuschungen«.

[Die Mitteilungen aus Augsburg sind fast ausschließlich auf Post- karten geschrieben, cleren Reihenfolge außer durch die Daten durch Nummern gekennzeichnet ist. Manche dieser ››Briefe<< füllen meh- rere Karten. Auf der Vorderseite steht im linken Feld neben dem Raum für die Adresse in Großbuchstaben:

DER EUHRER

KENNT NUR KAMPF,

ARBEIT UND soRGE.

WIR WOLLEN

nn/1 DEN TEIL ABNEHMEN,

DEN W111 IHM ABNEHMEN

KONNENJ


3._November 43 mittags. In Linz nach einer Erbsensuppe. Von Augsburg bis hierher las ich in den ››Täuschungen«. Die Einfach- heit, fast Dürftigkeit der mitgeteilten Erlebnisse wirkt beinahe pra- tentiös. Viele Leute werden sich einmal fragen, warum sie Carossa so hoch eingeschätzt und ihn fast zu einem Repräsentanten der na- tionalen Literatur gemacht haben. Das ist nur auf dem Hintergrund des sonstigen Geschreis zu verstehen. Ob wir unser Kind 1929 Thomas, L.W. Ihren Sohn Michael genannt hätten, ist fraglich, und ich glaube, daß der Anteil der Zeitumstände an diesen Namensge- bungen höher ist, als wir ohnehin annehmen. Und so ist es mit C.: eine kulturbeflissene Gemeinde hält nur deshalb zu ihm, Weiler sich mehr raushält als die meisten. Das ist auch was, aber keine literari- sche Qualität.

5. November 43, Hegyeshalom (ungarische Grenze). Dialog auf dem Bahnhof:

»Haben Sie Kaffee?«

››Nein. Wollen Sie \X/ein?«

››]a, nehmen Sie deutsches Gelcl?«

››Nein, nur Pengö.«

Wir sind also im Ausland. Ich stillte meinen Durst an der nächsten Wasserleitung. Den Carossa beendet. Nec. . . !

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5. November 4 3 , Komorn (Ungarn). Blinder, teilnahmsloser als wir in unserem Güterwagen kann niemand reisen. So viel wie möglich schlafen wir. Wien umfuhren wir gestern nacht. Ich stand manch- mal auf, um den Ofen zu heizen, und es war stets das gleiche Bild: Gleise und Güterziige im Schein hoch hängender Lampen. Als wir aufwachten, waren wir in Ungarn. Eine öde Ebene mit dem Bahn- hof, in der Ferne ein paar Dorfkirchtürme. Die Leute, an denen wir vorbeifahren, grüßen fast alle, indem sie die Hand erhe- ben.

Gegen Abend werden wir in Budapest sein. Wir befinden uns also auf einem südlichen Kurs und landen vielleicht in Odessa. Optimi- sten vermuten, wir würden ganz nach Süden abdrehen, nach Bel- grad oder Griechenland, aber so sieht es nicht aus.

Ich überlege, ob ich den Fotoapparat dem Feldwebel vom Begleit- kommando mitgebe. Fr ist vertrauenswürdig, und langsam werde ich mit ihm Warm. Das ist ia auch nötig. Mein Blick streift zuweilen die eiserne Kiste, in der sich unsere Marschpapiere befinden.

7. November 43 [mit mehreren Landschafts-Skizzen]. Als ich auf- wachte, fuhren wir nicht mehr durch die Ebene. Das Tal war so eng, daß Straße und Gleis mit Mühe neben dem Fluß Platz fanden, der sich ein Bett in den Kalkstein gefräst hat. Nachts haben wir Groß- wardein passiert. Nachmittags kamen wir durch Klausenburg. Die Katen haben hohe Strohmützen auf. Auch kleinere Gehöfte beste- hen aus mehreren Gebäuden: Wohnhütte, Stall, Scheune, Vorrats- haus, Backofen. Anders als die russischen Dörfer, die sich demütig in die Landschaft schmiegen, stehen diese selbstbewußt an expo- nierten Plätzen.

8. November 4;. Wir werden nun bald in Rumänien sein, das Gleis steigt und steigt, vier kleine Lokomotiven versuchen, unseren Bandwurm von Zug teils zu ziehen, teils zu schieben. Die Lokomo- tivführer können ihre Maschinenkräfte nicht aufeinander abstim- men, das stößt und zerrt, ich kann fast nicht schreiben. Überall Schafherden und kohlschwarzes Vieh mit hochgezogenem Hinter- teil und weit nach vorn vorgewölbten Hörnern. Diese Kühe sehen gefährlich und urweltlich aus.

Als längst alle schliefen, saßen der Feldwebel und ich noch an dem fast glühenden Öfehen, das ich von Zeit zu Zeit mit den Briketts füt- terte, die wir irgendwo unterwegs bekommen haben. Ich habe schon seit Augsburg, ohne zunächst zu wissen, was dabei heraus- 3$°


kommen könnte, diesen Mann – der von nichts träumt als von seiner Rückkehr in ein Wiener Bett, in dem seine Frau wartet, und zu ih- ren Kochkünsten – zielbewußt hofiert, und heute nacht fand ich es an der Zeit, die Karten aufzudecken. Wenn wir in der nächsten Nacht wieder von einer so tief schlafenclen Gesellschaft umgeben sein werden, können wir uns weiter unterhalten. Du wirst Dich er- innern, was E., als er mit Dir am zz. io. Telefonicrte, von dein Hin» weis erzählte, den ihm ein Kamerad kurz vor seiner Abstellung nach Rußland gab. Ich habe E. inzwischen noch einmal getroffen, und er sagte, daß er beabsichtige, den Hinweis ernst zu nehmen.

[Über die Sache selbst findet sich aus verständlichen Gründen kein Wort in der Korrespondenz dieser Wochen. Brosius, zuverlässiger Informant auf der Kemptncr Schreibstube, der für mich immer wichtiger wurde, je mehr sich meine Beziehung zu dem Kompa~ niechef, Oberleutnant Schmid (Lehrer), und Hauptfeldwebel Zetschke (Hutmacher bzw. Inhaber eines I-Iutladens) zuspitzte, war mit der vollen Wahrheit über den Inhalt des Briefes nicht her» ausgerückt, vielleicht, weil er eine die Dinge noch verschlimmernde Reaktion meinerseits befürchtete. Immerhin war ich nachdrück~ lich gewarnt und versuchte nun, an den Brief heranzukomrnen, was nur mit Hilfe des Wiener Feldwebels möglich war, cler das ›Abstellungskommando< nach Rußland begleitete.

In dem Güterwagen, in dem sich die Schreibstube des Marschbatail- lons (rund 1 3oo Mann) befand, stand eine verschlossene Stahlkas~ sette. Sie enthielt die Wehrpässe und Begleitpapiere der Soldaten.

Nachtgespräche habe ich dazu benützt, den Feldwebel über meine Strzıfsache allgemein zu unterrichten. Schließlich spreche ich von dem Brief, der sich bei meinen Papieren befinde. Der Feldwebel, noch ohne die Kiste zu öffnen, schlägt ein Verzeichnis auf und bee stätigt, hinter dem Namen K. stünde: Wehrpafš und ein Brief des Kompaniechefs.

In einer Nachtstunde holt der Feldwebel den Brief aus der Kiste. Er ist zugeklebt und cler Peldwebel sagt, er könne ihn nicht öffnen, denn er müsse ihn bei Ankunft mit den Papieren übergeben. Ich zei' ge dem Feldwebel den andern Brief, den er von den Offizieren in Augsburg bekommen hat, und sage: Brief ist doch Brief. Der Felde webel läßt sich bestimmen, die Briefe auszutauschen, und nun wird der aus Kempten stammende geöffnet.

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Der Brief war auf neutralem Papier mit Schreibmaschine ge- schrieben. Als Absender stand oben links: Inf. Nachr. Ers. Kp.

407, rechts: O.U. (die übliche Abkürzung für ››Ortsunterkunft«) und das Darum. Er war nicht adressiert, über dem Text stand nur, unterstrichen: Anlage zum Wehrpaß des Grenadiers Erich Kuby.

Der Inhalt war etwa zehn Zeilen lang. Er ging kurz auf die kriegsge- riehtliche Bestrafung ein und nannte den Grenadier K. einen »auf- sässigen Lügnem, der »politisch als Volksschädling« zu gelten habe.

(Die in Anführungszeichen gesetzten Worte sind zuverlässig aus dem Gedächtnis zitiert.) Im letzten Satz sagte der Brief, K. solle so verwendet werden, daß er nicht mehr in die Heimat zurückkehre.

Die in die NS-Sprache allgemein eingegangene Formel »Rückkehr unerwünscht« enthielt der Brieftext nicht. Aber rechts, in dem freien Raum zwischen der Daturnszeile und dem eigentlichen Brieftext, der ››Schmid, Oberleutnant und Kp. Führer« unterschrieben war (für die Orthographie des Namens Schmid kann ich nicht mehr einstehen), befand sich ein dunkelblauer Stempel, schräg hinge- setzt, der, ohne Rand und etwa 2 cm hoch, die beiden Buchstaben ››R.U.<< zeigte. Die Deutung »Rückkehr unerwünscht« liegt nahe.

Ich war mir selbstverständlich im klaren darüber, daß es dieses Dokument verdient hätte, aufbewahrt zu bleiben, und war bereit, das Risiko einzugehen und es nicht zu vernichten. Der Feldwebel jedoch bestand darauf. Falls durch einen Zufall, oder anläßlich einer Verwundung, dieses Schriftstück entdeckt worden wäre, hät- te mit einer Untersuchung gerechnet werden müssen, die den Feld- webel mindestens in den Verdacht bringen konnte, an der Unter- schlagung beteiligt zu sein.

Als ich vor vielen Jahren in einer Zeitschriften-Veröffentlichung diese Episode schilderte, erhob sich in Kreisen, die der damaligen »Soldaten-Zeitung« nahegestanden haben dürften, ein Sturm der Entrüstung. Obskure ››Zeugen«, die zur Sache selbst nichts auszu- sagen hatten, bezichtigten mich böswilliger Erfindung. Nach einem Vierteljahrhundert liegt die Geschichte der Grofšdeutschen Wehr- macht offen aufgeschlagen vor uns und wir wissen, was alles mög- lich Waıx]

Tighina, 1 1 . November 4.3. Wir bummeln hier immer noch herum, langsamer und langsamer. Es gibt zu wenig Gleise, zu viele Züge, zu wenig Lokomotiven. Gestern standen wir den ganzen Tag auf dern 35?-

Bahnhof Kishinew, der Hauptstadt von Bessarabien. Diese Stadt mit vielleicht ioo ooo Einwohnern nimmt eine Fläche wie München ein, an Raum ist nicht gespart, in die Höhe wurde nicht gebaut. Ein rotes Straßenbähnchen wackelte und klirrte am Bahnhof vorbei.

Rechts von uns stand ein Munitionszug, links ein Ölzug, ein paar Bomben hätten solide Arbeit leisten können. Abends fuhr der Ex- preß Odessa-Bukarest an uns vorbei mit erleuchteten Schlaf- und Speisewagen. Man sah elegante Herren in den Polstern sitzen. So kommt man auch durch den Krieg.

Dem Wiener Feldwebel, er heißt Stifter, gab ich für seine Frau einen ››Gutschein« für ein Paar Deiner Schuhe. Bezahlung und sonstige Voraussetzungen des Verkaufs [››Bezugschein«] nimm bitte als er- füllt an.

Die Gespräche im Wagen und während der Aufenthalte über die Taten der Landser in Frankreich, Italien, Polen, Rußland sind mir Ekel und Graus. Du erinnerst Dich unseres Gespräches mit Reich- wein, in dem er sagte, daß die Grenze zwischen Kriegshandlungen und Verbrechen nicht mehr existiere und daß diese Erfahrung dem Volk nicht wieder ausgetrieben werden könne. [Reichwein wurde nach dem zo. ]uli 44 hingerichtet.]

13. November 43. Die Nacht verlief angenehm, weil wir in neun Stunden kaum to km gefahren sind. Im stehenden Zug schläft sich”s besser. Wir sind auf einem Nebcngleis abgestellt, der ganze lange Zug, weil das Hauptgleis für Transporte gen Westen gebraucht wird. Sie schaffen Traktoren und andere landwirtschaftliche Ma- schinen zurück, urn sie nicht durch die russische Offensive einzu- büßen. Wenn sie uns auch gleich zuruckfahren würden, Sparten sie die bekannte Volkskraft.

Die Stadt Golta am Bug, nicht weit weg von Perwomaisk, nannte E.

als ein mögliches Ziel seiner Reise. Nun sind wir zehn Tage unter- wegs und dem Krieg immer noch sehr fern, oder eigentlich sogar ferner als in Augsburg. Sicher bin ich, daß es die letzte derartige Ausfahrt sein wird.

Es ist überraschend warm, nur hier und dort liegen dünne Schnee- streifen auf den Schattenseiten der Strohdäeher.

14. November 43. Dieses Blatt gebe ich dem Feldwebel vom Be- gleitkommando mit. Wir werden nun bald am Ziel sein. Es wird nahe bei Krementschug liegen. Während der Zug in Kirowograd hielt, besorgte ich mir im Soldatenheim die Frontzeitungen.

353

Wenn Du hörst, daß ich bei Krementschug bin, wirst Du Dir Ge- danken machen. In der Tat ist das wieder einmal eine Art Sack, in den wir hineintransportiert werden, kein kleiner wie um Demidoff, sondern ein riesiger, der im Norden bei Shitornir beginnt.

Bisher hatten wir eine sorglose Bun-ımelfahrt. Ich habe Dir oft ge- schrieben; infolge der verschiedensten Transportgelegenheiten wirst Du die Blätter außer jeder Chronologie bekommen.

15. November 43, vorm. 1 ı Uhr. Wir sind gegen Morgen auf dem Bahnhof Pawlitseh ausgeladen worden, einem Dorf nicht weit von Krementschug. Wir marschierten über Erde, die sich auf der Ober- fläche in eine dünne Brühe verwandelt hat. Zehn Tage später hätten wir von der Schlamrnperiode wahrscheinlich nichts mehr mitbe- kommen. Nun harre ich der Dinge, auf einem Birkenstamm sit- zend. Alles sieht hier nach Improvisation aus, und nach Eile. Man scheint uns zu brauchen.

Den Brief nimmt also Feldwebel Stifter mit, dessen Frau Dir wegen ein Paar Schuhen schreiben wird. Die Schuhe müssen ein Geschenk sein ohne jede Bedingung, also ohne Karten-Punkte oder Beschei- nigung. Der Mann hat mir einen großen Dienst getan, einen absolut entscheidenden, soweit davon unter ständig wechselnden Verhält- nissen überhaupt die Rede sein kann.

Die Division hat schwere Zeiten hinter sich, den Rückzug auf Charkow und aus Charkow, wo sie fast ihren ganzen vorigen Be- stand verlor. Sie sitzt hinter dem Dnjepr und hat es im Augenblick verhältnismäßig ruhig. Nach solchen Erfahrungen ist das Großkot- zige aus den Leuten heraus und mit ihnen leichter umzugehen als vor eineinhalb Jahren.

Nun ist es entschieden. Der Kompaniechef kam angeritten (ja, wirklich, er ritt durch den Schlamm, daß es spritzte), ich meldete mich bei ihm und wurde als Betriebsfernsprecher und Fernschreiber zur Divisionsvermittlung eingeteilt. Da bin ich nun. Gehöre zu ei- nem Trupp von sechs Mann als wie in alter Zeit. Versorgt wird er von Natascha, junge Frau eines jungen Mannes, der überraschen- derweise auch vorhanden ist. Sie wäscht, spiilt und schmust ein biß- chen mit den Soldaten. Abends kommt der Mann und ruft sie ener- gisch zur Ordnung – ohne durchschlagenden Erfolg.

Ich schreibe bei elektrischem Licht – welch Luxus!

Als Truppführer ist bis zur Rückkehr des Wachtmeisters, der ihn normalerweise führt (derzeit aber irn Urlaub ist), ein Stabsgefreiter 354

in Funktion. Stabsgefreite sind Soldaten, die ewig lange dienen, ohne Unteroffizier zu werden – also meist nicht die hellsten. Dieser nahm mich schon nach zwei Stunden zur Seite, sagte, es werde im Trupp wahrscheinlich Veränderungen geben, der Wachtmeister solle nicht mehr auf seinen Posten zurückkehren, den damit er, der Stabsgefreite, bekommen werde. Das aber würde die andern zur Opposition treiben. Er hätte schon gesehen, daß ich etwas tauge, und er hoffe, daß ich ihn unterstützen würde. Ich antwortete, ich sei dazu da, meine Arbeit zu machen, und darin könne er sich auf mich verlassen. Die Distanzierung, die in meiner Antwort lag, spürte er nicht und war es zufrieden. An einem explodierenden Trupp hatte ich eigentlich genug.

1 7. November 43. Laut Soldbuch war ich im Dezember 42 (nach der Gefängniszeit) zuletzt im Urlaub. Man ließ mich auf die Schreib- stube kommen und sagte mir, mein Ersatzhaufen sei ein Sauhaufen – ich stimmte zu -, denn ich sei von dort ohne Urlaub weggeschickt worden, und nun müßten sie mich hier in ihre Urlaubsliste einglie- dern. Ich käme etwa im Januar dran, »wenn die Russen nichts dage- gen haben«. Ferner wurden mir vier Päckchenmarken und fünf Luftpostmarken ausgehändigt, die ich Dir hiermit schicke. Zwei Marken sind für ein z kg-Päckchen gut. Das heißt also, Du wirst die Marken gar nicht aufbrauchen können, bis ich in Urlaub fahre.

Ich brauche nichts, auch keine Bücher. Hingegen verwende die Luftpostmarken (zwei sind für einen dickeren Brief nötig) gleich, damit ich Nachrichten habe, wie es Euch geht.

Das Radio ist kaputt, dem Himmel sei Dank, und Läuse fand ich noch nicht. Der obligatorische russische Hautausschlag blüht.

18. November 43. Bei einer höheren Dienststelle der Division soll ein Schild hängen: »Die Lage im Osten ist humorlos, das übrige sagt der OKW-Berichtl« Der Krieg in Rußland scheint 1943 zwei pa- dagogische Wirkungen auszuüben, je nach Disposition der Zöglin- ge: entweder werden sie noch bestialischer – oder sie gewinnen in Spuren menschliche Züge zurück. Von meinen Genossen ist kaum einer Soldat; es sind uniformierte Inspektoren, Schreiber, Büro- menschen, Techniker – sozial etwas unter Mitte, im Intelligenzpegel etwas darüber. Das Zusammenleben mit den Russen ist sehr fami- liär geworden. Ich muß lachen, wenn ich an den Sommer 1941 den- ke. Damals tatcn alle so, als ob sie lieber auf einem Misthaufen schliefen als unter einem Dach mit Russen. ]etzt sind die Russen 355



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