Mein krieg aufzeichnungen aus 2129 Tagen



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Von woher

››Agathe, es schießt!«

Die Stelle findet sich unterm 30. November 1940. Eine Hausbesitzerin, bei der wir einquartiert waren, weckte ihr Dienstmädchen mit diesem Ruf, wenn die Flak nachts zu schießen begann.

››Es schießt, das kommt von Italien«, sagte meine Mutter, da war ich vielleicht fünf ]ahre alt. Auf unserem Hof und bei den Nachbarn Filgertshofer glaubte man, bei Südwind Artilleriegefechte von der Alpenfront zu hören. Im 1. Weltkrieg.

Dieses ferne Ballern, wie und wo es auch entstanden sein mag, mar- kiert in meiner Erinnerung den frühesten Eindruck von Krieg.

Ich hätte einen noch früheren behalten können: der Vater verschwand arn 1. August 1914, rückte ein als Leutnant der Reserve. Der gelernte Landwirt überließ einen großen Einödhof in Oberbayern der Mutter, die aus der Stadt kam, eines Bank- und Brauereidirektors jüngste Tochter (mit drei älteren Schwestern), hochmusikalisch: die meisten großen Altpartien hatte sie auf dem Theater gesungen.

Nun war sie über Nacht Bäuerin geworden, Gutsherrin, wenn man so will, und fürchtete, wir würden alle verhungern. Fünfzehn Personen mußten in Saat- und Erntezeiten jeden Tag satt werden. Hinter Stall und Scheune lag das „Leutehaus“, da wohnten die„Knechte“; die „Mägde“ im Dachgeschoß des Haupthauses. Das alles steht noch wie es stand vor 60 ]ahren, nichts hat sich verändert; nur das Sträßchen einerseits ins Dorf Oberhausen, 3,5 km, andererseits nach Peißenberg, wo Kohle gewonnen wurde, etwa ebenso weit, ist jetzt asphaltiert. Im Peißenberger Bergwerk habe ich später einmal als „Lehrhauer“ in Ferien gearbeitet.

Für den an der Westfront mit Feldhaubitzen schießenden Vater führte die Mutter einen Arbeitskalender über die Kriegsjahre. Sie lernte ihren neuen Beruf rasch. Die bis zu ihrem 92. ]ahr durchgehaltene Rigorosität mag sich damals entwickelt haben. Sie war, was man eine Natur nennt. Einer ihrer Enkel faßte den psychologischen Sachverhalt einmal in die Worte: »Oma las jeden Tag ein Buch, aber es nützte nichts.«

22. August 1915;. Witterung: »Regen. Morgens Herr Bossert, Mama, Erich und Frau nach Peißenberg mit 2 Pferden. Die anderen

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Roggen auf 209 fertig gemäht. Frau Hoy morgens Holz gemacht und die Körner umgeschaufelt.«

Mit »und Frau« meint sich die Mutter selbst, sie nennt sich in den Aufzeichnungen häufig in der 3. Person. Anfang 1915 hießen die meisten Dienstboten noch Hans, ]oseph oder Martin. Bald darauf wurden sie eingezogen. Statt ihrer kamen Gefangene.

Z6. Oktober 1915; Witterung: ››trüb, kalt, Ostwind. 10 Franzosen und Frau Lechner in den Kartoffeln. 45 Ztr.«

Oder Jahre später:

17. April 1918. Witterung: »etwas neblig, kein Regen. Morgens Magnier und Jean im Hof Mist

verrieben. Botin Futter zum Schneiden gerichtet. Der Russe Stiefel gemacht und dazwischen beim Fut- terschneiden geholfen. Später Magnier und Botin Kunstdünger gestreut auf 196 und 243. Die Mädchen im Garten. Die Frau um 5 Uhr nach Peißenberg zu Besorgungen geradelt.«

Wir nahmen ein „Kriegskind“ an, Karl, er war ein paar Monate älter als ich, lebte zwei ]ahre bei uns, war mein täglicher Spielkamerad.

Ich habe nicht die leiseste Erinnerung an ihn. Wohl aber an seine Mutter. Sie war Geigerin, hatte ein furioses Wesen, dunkle Haare hingen ihr in die Stirn. Sie kam zuweilen, musizierte oben, wo der Flügel stand, im großen Eckzimmer mit dem riesigen grünen Kachelofen, Salon genannt. Die Mutter spielte auch gut Klavier. Vor allem aber karn die Geigerin, wie die meisten unserer Gäste, um sich satt zu essen in Kriegszeiten. Unmittelbare Erinnerung an Karls Mutter ist, daß sie im Geigenkasten, dort, wo man Kolophonium und Ersatzsaiten unterbringt, Eier mitnahm.

Eines Tages kam ein Trupp Ulanen vorbei. Sie hielten vor der Auffahrt. Die Frauen schleppten in Waschwannen Wasser hinunter, um die Pferde Zu tranken. Die Reiter, die nicht absaßen, bekamen Glä- ser gereicht. Sie waren die ersten und einzigen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, die als plastisches Erinnerungsbild vor mir stehen.

Doch diese wenigen können die einzigen nicht gewesen sein.

Am zo. Oktober 191; (Witterung: schön) schreibt die Mutter: »Franzosen in den Kartoffeln. 2. Feld angefangen. Nachmittags auch Frau Lechner. Nachm. 500 Soldaten bei einer Übung Wasser gefaßt, vom Leibregiment.«

Die Gäste, die Verwandtschaft wurden entweder in Peißenberg oder in Huglfing von der Bahn abgeholt. Wir hatten einen „Landauer“, blau ausgeschlagen, mit hohen roten Rädern und Messinglaternen.
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1918 wurden uns die letzten Pferde weggenommen. Die Mutter war unbefangen genug, vor diesen herrschaftlichen Wagen Ochsen zu spannen und so nach Peißenberg zu fahren. Als der dortige Knappschaftsarzt, er hieß Utzschneider, die Familie war mit uns befreundet, diesem Gefährt zum erstenmal begegnete – er war zu Rad –, war er dermaßen verblüfft, daß er zwischen die Ochsen hin- einfuhr und sich an der Deichsel verletzte.

Die Mutter war wenig gesonnen, auf irgend etwas Rücksicht zu nehmen. Im Winter zog sie mir der Kälte wegen eine Art Ku-Klux-Klan-Mütze uber den Kopf. Sie war aus schwarzer Wolle, und nur für die Augen hatte sie Löcher. Glitt ich in diesem Aufzug auf dem hohen Bock des Einspänner-Schlittens neben der Mutter durch Peißenberg, dann liefen die Kinder zusammen und schrien: »Der Teifi kimmt, der Teifi kimmt«

Von jenem Karl abgesehen, mit dem mich offenbar nichts verband, waren mein Umgang meine Puppen, unser immer eifersüchtiger Bernhardiner ››Bari«, zu dem einer der Knechte namens Bronizius Sie sagte, während er die Mutter duzte: Du, Frau, geh her..., und das Babettel, das gleichaltrige blondzöpfige Kind des einzigen Nachbarn, der, im Gegensatz zu uns, ein richtiger Bauer war und seine Wirtschaft nur mit der eigenen Verwandtschaft betrieb.

Von Babettels Vater hieß es, er zahle sonntags nach der Messe im Schlafzimmer die Goldstücke, in eiserner Truhe gehortet. Ich habe ihn nie bei dieser Tätigkeit gesehen. Er gab im Krieg nicht Gold für Eisen. Die Inflation, die er nicht verstand, machte ihn zum tausendfachen Billionär. Als über Nacht die Rentenmark kam, war er so reich wie vorher, nur die Nullen waren am fiktiven Geld- und Goldwert weg, und das verstand er wiederum nicht. Er kam für kurze Zeit nach Haar in die Irrenanstalt und kehrte zurück als ein mächtiger Körper ohne Vernunft, verdämmernd.

Eigentlich hätte ich in Oberhausen in die Volksschule gehen müssen; sie sah mich aber nur ein halbes Jahr lang, Irene hieß die Lehrerin und roch gut. Dann wurde ich für diesen Schulweg durchs Hochmoor und über zwei Flüßchen, unser eigenes, die Eiach, in der wir badeten, und ein anderes bei Maxelried, die Aach, als zu schwach befunden.

Es gab dann immer ein „Fräulein“, das mich unterrichtete und gleichzeitig Hauswirtschaft erlernen wollte. Eine war besonders hübsch und vornehm, sie hieß Hagens, und ihr Vater war, wenn ich

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nicht irre, Reichsgerichtspräsident. Die anderen habe ich vergessen.

Wir waren weit und breit die einzigen Protestanten, aber ich ging mit Babettel hinauf nach St. Nikolaus, wo die Bäuerinnen aller umliegenden „Ammerhöfe“den Rosenkranz herunterleierten, gegrüßstseistdumariavollergnadenderherristmitdirdubistgebenedeitunterdenweibernundgebenedeitistdiefruchtdeinesleibesjesuschristus …

das sitzt noch nach 60 Jahren.

Die Großmutter, Mutter der Mutter, kam häufig aus München zu Besuch. Sie trug weitgebauschte seidene Kleider, an goldener Kette hing ein Lorgnon, der grünseidene Sonnenschirm hatte einen gol- denen Griff.

Es ist nur ein paar Jahre her, da fuhr ich, eine nicht verlorene Zeit aufsuchend [Proust], an unserem Hof vorbei. Industrielle betreiben ihn jetzt als Hobby, aber nebenan sitzt immer noch die alte Familie. Das Babettel ist vor Jahrzehnten zu früh gestorben. Wir ergingen uns in Erinnerungen, und die heutige Altbäuerin sagte zu mir: »ja woaßt, Erich, dei Großmuatta, des war a Frau, mei, war di fein.« Es gibt ein Foto, darauf sind wir, Großmutter mit Sonnenschirm, das Babettel und ich, auf dem Weg zum „Schweinegarten“ zu sehen, einem künstlichen Sumpf am Fuß eines Hügels, in dem sich von März bis November ein paar Dutzend Schweine suhlten. Wir tragen lange Stöcke in der Hand als Waffe gegen den »bösen Pfau«, ein herrliches Tier, das die Neigung hatte, im Tiefflug Menschen anzugreifen, die in sein Revier, den Obstgarten, eindrangen, wo er von den Baumkronen herunter schrie.

So sah der Erste Weltkrieg für mich aus.

Am 22. Juni 1918, vier Monate vor seinem Ende, schrieb der Vater, inzwischen Hauptmann, von der Front:

»Lieber Erich/ Wenn dieser Brief za Dir /eommt, hist Da schon 8 fahre alt und ein gro/ler Bnhe. Vorigesjahr learn ich zu diesem Tage nach Hanse. Heute kann ich nicht fort, weil die Engländer noch nicht einsehen wollen, daß sie hesiegz sind, nndansere Grenzen noch hewacht werden müssen. In einem Monat werde ich wahrscheinlich fiir einige Tage kommen. Dann bringe ich Dir ein Stile/e von einer englischen Granate mit, die jetztjederı Tag zn uns herühergeschos- sen werden. Wir machen den Engländern aher auch schöne Ge- schenlee, vorgestern nacht hahe ich ihnen 600 so schöne lange Büch- sen woll Kugeln hinıihergeschic/et. In einer halben Stande war

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das gemacht. Es war eine lustige Knallerei. Als dann die Antwort learn, gingen wir alle in unseren tiefen Stollen 6 rn unter der Erde.



Dort war es ganz sicher, die ganze Erde hat aber gezittert. Es ist gut, daß Du schon alt genug bist, um Dich an diesen Krieg Dein ganzes Leben zu erinnern. Laß Dir von Mutter nur immer erzahlen, was hier heraus alles geschieht. In den nachsten Monaten wird es wohl 'viel zu erzahlen und zum Behalten gehen.

Mutter hat jetzt sehr viele Arbeit und Ärger mit dem Hofe. Du bist jetzt groß genug, um ihr schon viel zu helfen. Mache ihr in Deinem nachsten Lebensjahr möglichst wenig Verdruß, an Deinem nachsten Geburtstag bin ich dann hoffentlich selbst wieder da, damit wir den Tag rechtfröhlich feiern können. Laß es Dir bis dahin recht gut gehen, bleibe gesund und lerne möglichst viel und denke jeden Abend an Deinen Vater. «

Nach 4 Jahren Krieg und Alleinherrschaft wuchsen Arbeit und Ärger der Mutter über den Kopf. Draußen kam der Vater mit Ruhr ins Lazarett. Den Hof Ende 1918 aufzugeben, war dennoch, rückblik- kend beurteilt, schierer Wahnsinn. Doch so geschah es. Wohlstand, ja fast Reichtum war von beiden Grofšvätern erworben worden; die Elterngeneration in allen ihren Zweigen war Erbe; gegen die Ver- armung wußte sie sich weder zu wehren noch neues Vermögen nach der Inflation zu gewinnen.

Wir zogen in die nächste Kreisstadt, Weilheim, dort zunächst in eine „Villa“. Als der Vater zurück und wieder bei Kräften war, kaufte er ein kleines, verrottetes landwirtschaftliches Anwesen, und dazu etliche Grundstücke an der Ammer und draußen im Moor.

Dieses Haus, an dessen Stelle sich heute der Parkplatz einer Fabrik befindet – ich habe es 1959 verkauft –, wurde im Laufe der ]ahre wieder und wieder umgebaut und, nachdem es in der letzten Kriegswoche von Bomben zerschlagen worden war, von mir wenigstens zur Hälfte und nahezu eigenhändig in den jahren 1945/46 wieder aufgebaut.

Nur der unglaublichen Zähigkeit der Mutter, ihrer unverbrauchbaren Energie ist es zu verdanken, daß der Weilheimer Besitz, das eigene Dach über dem Kopf, der eigene Garten, die eigenen Felder über den Zweiten Weltkrieg hinweg erhalten wurden. In den kleineren Verhältnissen fand sich der Vater nicht mehr zurecht. Er klagte nie und sprach wenig. Er hatte die Leidenschaft, Pläne zu zeichnen, vielleicht hätte er statt Landwirt Architekt werden sollen.

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Er war ein großer, ungemein ansehnlicher Mann, aber er verhüllte sich selbst gleichsam in einem Schleier von scheuer Diskretion. Als er in Rußland fiel im 2. Krieg, war es nur, als ob ein Schatten von der Wand verschwände. Da war er 65 ]ahre alt.

Es ist mir unmöglich, sein eigentliches Wesen, seine Noblesse, mit seinen politischen Überzeugungen und Handlungen in Einklang zu bringen. Bald nach dem Krieg, wir waren kaum in Weilheim seßhaft geworden, organisierte er mit dem später zu Hitler als ››Reichsstatthalter« übergegangenen General Epp die ››Einwohnerwehr«, außerdem »Bayern und Reich« und die »Technische Nothilfe«, die auch nur ein getarntes Militärunternehmen war. In unseren Scheunen auf den abgelegenen Feldern waren zwischen 1919 und 1923 Feldgeschütze und andere Waffen versteckt. Ludendorff sah ich in unserem Garten. Die Preis-Schießen in der nahen Schießstätte, in Wahrheit Vollsswehr-Übungen, fanden in unserem Haus ihre gastfreundliche Fortsetzung. Die Haushaltsrechnungen beim Kaufmann und beim Metzger konnten manchmal nicht bezahlt werden.

Nach dem gescheiterten Hitler-Putsch von 1923, zu dem mein Vater, obschon er die ››Nazis« verachtete, mit seiner »Einwohnerwehr« nachts auf Lastwagen nach München fuhr, und über den er ››Endlich!« sagte, brach das alles mehr oder weniger zusammen. Ich aber war nun für sechs ]ahre Weilheimer Realschiiler und »Zeugwart« bei den vom Schulrektor geführten ››]ungbayern«. Wir mach- ten Geländespiele in 20 km Umkreis bis hinüber zum Starnberger See, und einmal empfing uns Bayerns Kronprinz Rupprecht. Als Hitler nach seinem Putsch auf der Flucht in Murnau verhaftet und nach Weilheim, der zuständigen Kreisstadt, gebracht worden war, ließ Bezirksamtmann Faigl meinen Vater holen, denn er scheute sich, dem ››Führer« allein gegenüberzutreten. Mein Vater nahm mich mit. So habe ich damals Hitler zum erstenmal gesehen, er machte mir weder bei dieser Gelegenheit noch später den geringsten Eindruck. Ich sah ihn noch dreimal: als Redner im Bürgerbräukeller, in München bei der Feldherrnhalle an dem Tag, als die Wehrpflicht wieder eingeführt wurde, und einmal beim Kaffeetrinken auf der Terrasse des »Hauses der Deutschen Kunst«.

Tante Bertha in München, unverheiratete Stiefschwester meines Vaters, die zwisehen 1918 und 1926 eine für Tausende verschämter Neu-Armer wichtig gewordene ››Mittelstandshilfe« organisierte,

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übertraf in ihrem Nationalgefühl meinen Vater noch bei weitem. Sie hielt sich die konservative »Augsburger Abendzeitung«, und als eine Art Hausheiliger verkehrte bei ihr der Münchner Verleger Lehmann (]. F. Lehmanns Verlag), der mit seinen Publikationen zur NS-Ideologie eine verhangnisvolle Rolle spielte. Bei ihm erschien zwischen 1911 und i9z3 ein mehrbändiges Sammelwerk mit den Titeln: »Im Felde unbesiegt«, »Auf See unbesiegt«, »In der Luft unbesiegt«.

Dank der Beziehung zu Lehmann schenkte mir die Tante diese Bände druckfrisch. Das war, gemessen an ihrer Absicht, mich national aufzuladen, ein Fehler.

Dieselbe Tante schenkte mir, ich glaube sogar zur Konfirmation, den Briefwechsel zwischen Kaiser Wilhelın II. Und Houston Stewart Chamberlain. Diese Texte waren fiir meine moralischen Vor- stellungen insoweit richtungsweisend, als sie mich belehrten, daß sich Verlegenheit und moralisches Pathos nicht auszuschließen brauchen. Es ist aber doch wohl vor allem die Entdeckung, daß ehrenwerte und angesehene Erwachsene, unter ihnen mein Vater, einfach Selbstbetrüger waren, was den Ersten Weltkrieg und sein Ergebnis angeht, die ich als Ursache zu benennen vermag dafür, daß ich das deutsche Narrenspiel, das zunächst zu 1918, dann zu 1933, dann zu 1945 führte, nicht mitspielen wollte.

So blieb mir von jugend an nichts übrig, als ein Leben in der Verweigerung zu führen. Dieses »es blieb mir nichts übrig« muß wörtlich verstanden werden. Ich hatte nie zwischen zwei Wegen zu wählen. Im Schoß einer solidarischen Mehrheit Sicherheit zu suchen, wäre mir nicht in den Sinn gekommen, und in Musils »Mann ohne Eigenschaften« erkannte ich immer einen Verwandten.

Hätten mich christliche Überzeugungen oder Marx davor bewahrt, mit dem großen Haufen zu ziehen, so wäre aus solchem Ansatz vielleicht etwas Positives zu machen gewesen, etwa ein Oppositioneller, der kämpft. Nichts dergleichen war mir zugeteilt. Unter dem Diktat purer, ich möchte sagen, naiver Vernunft brachte mir die Verweigerung nichts ein – nicht einmal in dem jeweiligen nationalen Bankrott die Befriedigung, ihn vorausgesehen zu haben; in deren Genuß wäre ich nur dann gekommen, wenn ich zuvor den Zweifel hätte besiegen müssen, die Sache könne vielleicht doch gut ausgehen. Auf Recht-haben ohne die Möglichkeit sich vorzustellen, eventuell doch unrecht zu haben, kann man sich nichts einbilden,

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und es besitzt eine solche zementierte Gewißheit auch keine Überzeugungskraft auf andere, die durch Zweifel gegangen sind. Es ist anzunehmen, daß niemand meine Kriegsaufzeichnungen lesen kann, ohne zu bemerken, daß sie naiven Charakters sind.

Die Verweigerung, mitzuspielen, zu der eine bündige Begründung ausblieb, eröffnete mir eine Karriere als schwarzes Schaf in der ratlosen Familie, in der ein pfälzischer Vetter als ein Linker galt, weil er, als einziger in der ganzen Verwandtschaft, Stresemann für einen guten Politiker hielt. Die Schule langweilte mich. Nur zwei meiner Lehrer trieben mir die Langeweile aus; der eine, Schalmann, ]ude, gab in Oberprima Physik und Mathematik; der andere, Heusinger, Deutsch und Geschichte. Dieser gewann meine Sympathie u. a. durch den Ratschlag: »Schreiben Sie im Aufsatz, was Sie wollen, aber der letzte Satz muß beginnen: ›Möge Deutschland...<« Im ersten Münchner Schuljahr, in Obersekunda, fiel ich mangels Interesse durch, doch erlaubten die Eltern, daß ich nicht zu repetieren brauchte. Ich hatte das Glück, in einem ehemaligen Absolventen meiner Schule, dem Juden Heinrich Lamm, damals Medizinstudent und Amateur-Dirigent des »Jüdischen Kammerorchesters«, heute Arzt in den USA, meinen Lehrer (in allen Fächern) für ein jahr Privatunterricht zu finden. Meistens musizierten wir zu- sammen, er war ein guter Flötist. Dennoch: was ich heute noch von Mathematik, Chemie, Physik weiß, verdanke ich ihm. In seinem Orchester spielte ich mit. Dafür bekam ich 1929 ein Dankschreiben. In Bayern ging der antisemitische Ungeist schon gewaltig um. Ich empfand den Brief als eine Art Orden.

Nach einem Jahr machte ich die Aufnahmeprüfung in meine alte Klasse, jetzt also in Oberprima, und bestand sie glatt zum nicht geringen Ärger vor allem des Direktors; ein Jahr später das Abitur dann wieder nur mit Ach und Krach. Um doch etwas Licht auf diesen Schüler zu werfen, lobt das Abiturzeugnis meine musikalische Aktivität an der Schule. Nun blieb gerade noch Zeit, knappe vier Jahre, um ein Diplom in Nationalökonomie zu ergattern, bevor Hitler kam; das Jura-Studium blieb auf der politischen Strecke.

Als er gekommen war, wollte ich das Land verlassen – nicht zuletzt deshalb, weil ich eine jüdische Freundin hatte, die bald darauf emigrierte. Schon mehrfach war ich für Wochen in Montagnola gewe- sen, dem Dorf über Lugano, wo Hermann Hesse lebte, und so auch wieder im Frühjahr 1933, unmittelbar nach dem Examen an der

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Münchner Universität. Aus der Schweiz zurückkornmend, schrieb ich den Eltern, ich wollte weg. Dieser Brief hat sich nicht gefunden, wohl aber die am 14. April 1933 geschriebenen Antworten von Va ter und Mutter.

Der Vater:

››L. E., Dein Brief ist eine reine Festtagsunterhaltung fur mich und deshalb sollst Du auch eine Osterfreude haben. Dein Vorschlag 2 ist Unsinn. Ich glaube gerne, daß Du es einjahr in der Schweiz aushalten kannst, wenn Du Geld genug hast. In der Schweiz hast Du neben den Hemmungen, die Dich hier am Arbeiten hindern, noch die Erschwerung als Ausländer. Es wird dort voraussichtlich gar nichts gearbeitet werden. Wenn Du durch Tatsachen belegte Vorschläge in anderem Sinne machen kannst, so laßt sich darüber reden. Wenn Dir die Juden in Palastina so imponieren, so mache es nach und gehe zum Arbeitsdienst. Die Arbeit in Palastina wird in der Hauptsache in New York gemacht.

Den Handel zwischen Juden und Regierung sollen die beiden miteinander ausmachen. Es ist gar kein Grund für Außenstehende sich damit zu befassen. Da Du die Juden fiir so besonders intelligent hältst, so brauchen sie Dich bestimmt nicht zu ihrer Unterstutzung.

Sie sind seit 2000 jahren immer die Treppe hinaufgefallen und werden auch jetzt sich zu helfen wissen, besser als Du ihnen raten kannst. Nur Du wirst zum Schluß als der Dumme dastehen. Alle fıinfeinhalb Millionen Arbeitslose werden einen Platz finden, nur Du wirst Hemmungen haben, eine Arbeit anzufangen aus Rucksicht auf alles Mögliche, was Dich nichts angeht, und Faulheit.

Lerne in Deutschland arbeiten und sparen. Von beidem hast Du keine Ahnung. Beim Arbeitsdienst kannst Du es lernen, es ist aber wesentlich unangenehmer als in Lugano. So lange Du diese Mög- lichkeit hast und nicht benutzen willst, habe ich keine Veranlassung Deine Bequemlichkeit zu unterstıíitzen. Gruß Vater«

Die Mutter [Text gekürzt]



»Weilheim, Karfreitag 33,

Lb. E., Vater setzte sich sofort nach Durchlesen Deines Briefes hin ohne mit mir ein Wort zu sprechen noch ich mit ihm, und schrieb diese Antwort, ich habe sie nun einige Stunden uberlegt, von Neuem wie ich es in wirklich sehr lautlosen Nachten seit Jahren tue, abgesehen, daß mich der Gedanke immer begleitet, u. noch nichts ist mir eingefallen, weil dazu namlich außer den Mitteln, iiber die wir nicht

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verfügen, nicht nur der gute Wille unsererseits sondern auch Deinerseits gehört und davon hahen wir noch nichts trotz allem gemerkt.



Es müssen leben und leben noch so viele Menschen, vielleicht von mindestens Deiner Geisteshöhe in Deutschland, denen das heutige Gesicht desselben nicht gefällt. Begüterte und begehrte Geístesgrößen können sich naturlich nach Lugano oder ins Ausland zurückziehen und werden auch dort ihren Weg machen wie es hei Revolutionen schon stets der Fall war. Wirklich innerlich Deutsche fanden dann stets spater den Weg zurück in die Heimat, um die anderen ist es dann nicht schade, sie sollen draußen bleiben. Das schreibe ich, ohwohl ich nicht Hitlerin bin noch war, mir vieles nicht gefällt und mir Papen von seinem Anbeginn schon immer der Liebste war. Ich freue mich, daß er auch Deinen Beifall findet.

Du hist noch zu jung, zu unbedeutend und zu faul, um als Nichtstuer in Lugano oder Montagnola, wo es Dich scheint's hinzieht, oder sonstwo zu leben. So gut ich meinem Temperament Zügelanlegen will mit 56 Jahren, so gut kannst Du einmal den Versuch mit 22 ma chen.

Es wäre besser, statt jetzt in Munchen ein Zimmer zu nehmen, Du kommst gleich morgen mit Sack und Pack heraus. Versuche es wenigstens ein paar Wochen und ich will ganz gewiß schweigen. Du kannst das ohere Zimmer hahen, das sehr hübsch geworden ist, und kannst doch auch immer im Musikzimmer sein. Mit Schreibmaschine, Geige und Klavier wird es sich wohl aushalten lassen, wenn ich Dich in Ruhe lasse. Also komme. D. Mutter«

Ich kam nicht, oder wenn, dann nur für Tage. Ich blieb in München. Was ich darstellte, würde man heute einen ausgeflippten Typ nennen. Die Freundin, jetzt in San Francisco Repräsentantin einer nach ihr benannten Heilmethode, die Atemtcchnik und C. G. Jungsche Erkenntnisse in eins bringt, war Stütze und Stab dieses Lebens, bis sie nach Jugoslawien ging, im Sommer 1933, Deutschland für immer verlassend.

Im Winter 1933/34 verkroch ich mich in Ambach am Starnberger See, wo ich im Landhaus der Großeltern viele strahlende Sommer meiner Kindheit verbracht hatte. Gegen Bauern und Wirte verlor ich beim Eisstockschießen auf dem See. Mit Waldemar Bonsels, dem eben verwelkenden Bestseller-Autor, unterhielt ich mich zuweilen, am Ufer im Schnee spazierengehend.

Ich spielte Klavier und Geige und schrieb. Ein Manuskript mit dem

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reißerischen Titel »Romantische Versuche« (und mit eigenen Zeichnungen) ging an S. Fischer und kam mit einem höflichen Brief zurück. Ich schrieb damals wie Gottfried Keller, nur nicht so gut.



Schreiben gelernt habe ich mit Briefen. Die allermeisten Adressaten waren weiblichen Geschlechts. Wenn ich sage, daß ich zwischen meinem 19. und meinem 26. Jahr fast 7000 Briefe geschrieben habe, dürfte es kaum übertrieben sein. Es sind Dokumente der Flucht in die Privatheit.

Am 13. April 1934 brach ich mit dem Fahrrad über Italien nach ]ugoslawien auf. Zu jung, zu uninteressiert an allem, was nicht deutsch war, kehrte ich, die Negativform eines Nationalisten, zehn Monate später zurück, womit auch die Freundin als Lebensgefährtin verloren war.

Nun war in der Wand kein Loch mehr. Der Vater sagte, die allgemeine Wehrpflicht stehe bevor, mein Jahrgang werde noch erfaßt werden – das erwies sich später als unzutreffend –, wenn ich aber sofort freiwillig einen Ausbildungskurs von acht Wochen machte, würde ich mir zwei jahre Militärdienst ersparen und könnte mir die Waffe aussuchen. Durch seine Verbindungen wurde ich im Spätwinter 1935 zur Nachrichten-Abteilung 7 in München eingezogen und trug zwei Monate lang die Uniform der »schwarzen Reichswehr«. Wer damals freiwillig diente, gehörte im allgemeinen zum sozialen Ausschuß. Einer mit Abitur und Studium kam selten vor, Ausschußware war ich desungeachtet auch. Ich wurde als sogenannter Unterführer-Anwärter entlassen, leider, denn das bedeutete,daß ich nach einem halben Jahr zu einem zweiten Kurs befohlen wurde, in die gleichen Baracken, die ich nach weiteren zwei Monaten im Bewährungsfalle als Unteroffizier verlassen hätte – militärisch gesehen eine fabelhafte Chance, den niedrigsten Dienst rasch hinter mich zu bringen, bei dem es dann später sechs Jahre blieb.

Diesen Aufstieg vercitelte eine Arreststrafe von etlichen Tagen wegen Insubordination: in der Stube, in der wir acht oder neun waren, stank es; die anderen widersetzten sich meinem Vorschlag, die Fenster zu öffnen; ich wurde so wütend, daß ich einen vollen Kaffeebecher gegen ein Fenster schleuderte mit dem erstaunlichen Effekt, daß vier Doppelscheiben, also acht, als Scherben herabfielen. Der Unteroffizier vom Dienst erstattete Meldung.

Wohin die Dinge getrieben wären, wenn ich nicht im Winter 1936 auf einem Faschingsfest im Nymphenburger Schloß das Mädchen

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kennengelernt hätte, eine Bildhauerin, die nachher die Mutter unserer fünf Kinder wurde, ließe sich wahrscheinlich nicht trist genug ausmalen. So aber bestand nun triftiger Anlaß, Geld zu verdienen, und zwar in Berlin. Dort ging ich im Sommer 1936 von der Straße weg zum Personalchef des Scherl-Zeitungsverlages, der noch dem Deutschnationalen Hugenberg gehörte, also kein NS-Parteiverlag war, und sagte, ich brauchte eine Arbeit, egal welche, nur schreiben wollte ich nichts.

Meine Bewerbung War demnach ungewöhnlich, hatte aber vielleicht gerade deshalb Erfolg. Ich brauchte fürs erste nichts zu schreiben, sondern fing an, in dem riesigen Archiv Bilder zu ordnen, für 250 Mark im Monat, und entdeckte dann eine „Ma.rktlücke“ für Zweitdruck-Serien über „unpolitische“ Themen. Erst stellte ich solche Serien aus dem Archiv zusammen und schrieb kurze Begleittexte dazu, dann durfte ich mit Fotografen herumreisen und neu produzieren: die Orgel in Weingarten, Holz statt Kork, Fischzucht im Bodensee, Zuckerindustrie, Maskenbildner am Werk (Modell: die Flickenschildt), eine Glashütte ... lauter solches Zeug, mit dem der Bilder-Seriendienst des Scherl-Verlages große Geschäfte machte und ich schließlich 600 Mark verdiente, worauf es ans Heiraten ging, 1938. Da war aber nun der Schwiegervater, bekannter Nationalökonom mit ehemaligen Schülern auf vielen Chefsesseln großer Unternehmen. Der sagte: bei Scherl wirst du nichts, und dem war nicht zu widersprechen. Eine Laufbahn in der Industrie durch Protektion, die ihm vorschwebte, war aber nicht das Rechte.

Der Zufall brachte mich in Verbindung mit einem anderen Druckunternehmen, einem ganzen Nest verschiedenster zusammengekaufter Verlage, darunter einem so würdigen wie Reimar-Hobbing.

Ich machte dort Werbung und Vertrieb und fing an, das Verlegerhandwerk zu erlernen, indem ich es praktizierte. Riesige Druckanlagen verlangten Futter. Ribbentrop benutzte das Unternehmen und dessen einmalige drucktechnischen Künste, um ein hochgestochenes Propaganda-Organ, »Berlin-Rom-Tokio«, in zehn Farben und auf drei verschiedenen Papieren herstellen zu lassen.



Wahrscheinlich ist die Einberufung zum Heer für mich im richtigen Augenblick gekommen.

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