„
[…] ein Journalist, der mit detektivischer Sorgfalt recherchierte; ein penibel genauer
Arbeiter; ein skrupulöser Stilist; die Sätze feilend; die Worte wägend; langsam,
unendlich langsam schreibend – kurzum: ein Schriftsteller, dem ja, nach der Definition
von Thomas Mann, das Schreiben schwerer fällt als anderen Menschen.
“
(Walter 1988, S. 6)
Die Wahl des Titels „Der rasende Reporter“ soll daher eher „
ein überlegte[r]
Schachzug
“ (ebd.: S. 8) gewesen sein, der den Autor berühmt machen sollte, was
später auch geschah.
Den Grundstein für seine Sowjetunionreise wurde im Jahr 1923 in Bad Saarow gelegt,
wo Kisch den russischen Schriftsteller Maxim Gorki besuchte. Im November 1925 trat
er der Kommunistischen Partei Deutschlands bei und schon im folgenden Monat
konnte er nach Russland reisen. Das war seine erste große Reportagereise in ein
fremdes Land, die mehrere Monate dauerte. Seine Eindrücke veröffentlichte er im
Sommer 1926 in der Zeitschrift „Das Neue Russland“ und in der kommunistischen
Tageszeitung „Die Rote Fahne“; Kisch wurde somit „
zu einem leidenschaftlichen und
literarisch überzeugenden Verteidiger und Propagandisten
“
(ebd.: S. 207) der UdSSR.
Zwei Jahre später, im Mai 1927, wurde sein erster Reportageband über die
Sowjetunion, „Zaren, Popen und Bolschewiken“ (Kisch 1927b), herausgegeben (vgl.
Hofmann 1988, S. 204-216).
„Asien gründlich verändert“ (1932) ist die zweite Sowjetunion-Reisereportage von
Kisch, die sich als Fortsetzung der 1926/27 unternommenen Reise versteht. Der
Gegenstand seiner Reisereportage ist die Entwicklung Zentralasiens durch den
sozialistischen Einfluss: Was wurde bisher durch den Sozialismus erreicht? Wie
reagieren die Menschen in Zentralasien darauf? Welche Lasten der Vergangenheit
sind noch abzuschaffen? Auf diese Fragen versucht Kisch zu antworten.
Kisch war voller Enthusiasmus wegen der politischen und sozialen Veränderungen in
100
der kommunistischen Sowjetunion. Er änderte mit seinen Texten auch den Rahmen
des Begriffs ‚Reportage‘. Ziel seiner Reportagen war nicht mehr die neutrale
Tatsachenberichterstattung, sondern vielmehr das Einhalten des leninistischen
Prinzips der Parteilichkeit. Somit kann „Asien gründlich verändert“ als ein
ungeschminktes Propaganda-Buch für den Sozialismus betrachtet werden.
Das Buch teilt sich in achtzehn Abschnitte; der usbekistanbezogene Teil des Buches
wurde in das Analysekorpus der Untersuchung eingeschlossen. Es handelt sich um
die Abschnitte „Bilderbogen mit Propeller“, „Zwischenfarbendruck von Taschkent“, „Im
Zug nach Samarkand“, „Rings um das Grab von Tamerlan“, „Revolution in Buchara“
und den Teil „Bei den Spinnerinnen von Samarkand “ des Abschnitts „Reise von der
Quelle bis zur Mündung der Seide“.
Motiviert durch seine ideologischen Ziele, versucht Kisch immer wieder kontrastive
Vergleiche zu ziehen. Auch seine Farbkonstellation ‚rot – grau‘ ist ein gezielt gewähltes
Stilmittel der Verbildlichung. Die rote Farbe steht selbstverständlich für den
Kommunismus, die graue Farbe hingegen steht für alles Negative und Veraltete, das
er als solches empfunden hat: Religion, Traditionen, Familienverhältnisse
(vgl. Kisch
1932, S. 32)
Die Unterdrückung der Frau ist für Kisch ein brennendes Thema, er
beschreibt immer wieder, in welchen Verhältnissen eine Frau in Zentralasien zu leben
hat.
36
Dieser Beschreibungsstil erklärt sich mit seiner These über
die logische
Phantasie
, die von einem Reporter in Verbindung mit der Faktizität verwendet werden
muss. Dabei darf der Reporter von der Wahrheit nicht abweichen.
37
Dieser Stilzug
verlieh den Reisetexten von Kisch immer das gewisse Etwas. Dadurch brachte Kisch
das Genre Reportage auf eine neue literarische Ebene und erweiterte ihre
ästhetischen Möglichkeiten.
38
Im Herbst 1928 begab er sich, einem Versprechen gegenüber einer russischen
Zeitung folgend, unter dem verdeckten Namen Dr. Becker auf eine große Amerika-
Reise, da er als Egon Erwin Kisch mit seinem kommunistischen Hintergrund kein
Visum bekommen hätte. Als Beruf gab er dennoch Schriftsteller an und sagte bei der
Passkontrolle, dass er Novellen und Romane schreibe, keineswegs aber Texte
politischen Inhalts (vgl. Prokosch 1985, S. 166). Er bereiste New York, Washington,
36
Siehe dazu Abschnitt 4.1.2.
37
Vgl. E. E. Kisch: „Wesen des Reporters“. In: Erhard H. Schütz (Hg): Reporter und Reportagen, Giessen 1974; S. 41.
38
Eine interessante Studie zu diesem Thema bietet das Buch „Es war einmal ein Faktensänger“ von Cuevas Dávalos, Luis Carlos.
Die Autoren untersuchen ausgewählte Reportagen aus Prag und Mexiko von Kisch hinsichtlich der Ausdifferenzierung des
Konzeptes „logische Phantasie“ (Siehe dazu: Cuevas Dávalos, Luis Carlos: Es war einmal ein Faktensänger. Das Konzept der
"logischen Phantasie" in Egon Erwin Kischs Reportagen aus Prag und Mexiko (Reihe Interkulturelle Moderne, Band 12).
101
Philadelphia, Chicago, Detroit, San Francisco, Hollywood und kehrte Ende April 1929
zurück nach Berlin. Bald darauf gab er seine Reiseeindrücke von den USA in der
„Roten Fahne“ und dem „Tagebuch“ heraus (vgl. ebd.: S. 169-171). Als Buch
erschienen sie unter dem Titel „Paradies Amerika“ (Kisch 1930b) und erreichten in
einem Jahr 27 Auflagen.
39
Im Jahr 1931 engagierte sich Kisch als Dozent im Zeitungswissenschaftlichen Institut
der Universität Charkow und hielt Vorlesungen zum Thema „Reportage und ihr
Verhältnis zu Wahrheit und Wirklichkeit“. Von dort aus reiste er im Sommer nach
Moskau. Die eigentlich geplanten Reiseziele waren Magnitogorsk, Kusnezkstroj und
Nowosibirsk, um den staatlichen Fünfjahresplan zur Gewinnung der Naturreichtümer
Sibiriens zu erkunden, ein gemeinsames Projekt mit dem französischen Schriftsteller
Paul Vaillant-Couturier, das jedoch nicht realisiert wurde (vgl. Hofmann 1988, S. 242).
Nun wollte Kisch das Sowjet-Asien kennenlernen. Seine Route führte durch die
ehemalige usbekische (Taschkent, Samarkand, Buchara) und die tadschikische
Sowjetrepublik (Stalinabad, heute Duschanbe, und Garm). Ein Jahr später erschien
das zweite Sowjetunionbuch „Asien gründlich verändert“ (Kisch 1932) (vgl. Prokosch
1985, S. 177-180).
Von seiner Reise nach Moskau zurückgekehrt, plante Kisch schon bald ein neues
Reiseprojekt, das Ziel war diesmal China: Kisch hatte vor, in kürzester Zeit China
gründlich kennenzulernen und ein Buch über dieses damals vom Bürgerkrieg
gebeutelte Land zu schreiben. Nach drei Monaten in China kehrte er nach Moskau
zurück und arbeitete an seinen Manuskripten. Sein Buch „China geheim“ (1933)
erschien ein Jahr später. Das war seine letzte große Reisereportage (vgl. Hofmann
1988, S. 248-254).
Am 30. Januar 1933 wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt und am selben Tag
kehrte Kisch nach Berlin zurück, um seine vernachlässigte Parteitätigkeit wieder
aufzunehmen. In Hitler-Deutschland konnte er sich aber längst nicht mehr so frei
bewegen, er wurde bereits am 28. Februar, einem Tag nach dem Reichstagsbrand,
verhaftet. Am 11. März verwies man ihn des Landes, seine Rechtsanwälte hatten diese
Art der Freilassung mithilfe der tschechischen Regierung erreicht, denn Kisch war
seinem Pass nach kein deutscher, sondern tschechischer Bürger (vgl. Prokosch 1985,
S. 185-188).
40
39
Vgl.
http://www.egon-erwin-kisch.de/bio.htm
(Letzter Aufruf: 14.04.2016, 14.15 Uhr).
40
Der Nazi-Verfolgung, welcher er selbst entkommen war, entgingen seine beiden Brüder nicht: In den Kriegsjahren 1943-44
wurden Kischs Brüder Arnold (Konzentrationslager Litzmannstadt (Lodz)) und Paul (Konzentrationslager Theresienstadt
(Terezin)) deportiert und umgebracht (vgl.
http://www.egon-erwin-kisch.de/bio.htm
, letzter Aufruf: 14.04.2016, 14.15 Uhr).
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Vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges erschien in Amsterdam Kischs letztes
großes Buch „Landung in Australien“ (1937). Die nächsten Jahre verbrachte Kisch in
Spanien, Frankreich, den USA und Mexiko. Im Jahr 1941 erfolgte die Herausgabe des
Kisch-Memoirenbuches in den USA in englischer Fassung unter dem Titel „Sensation
Fair“ („Marktplatz der Sensationen“). Die deutsche Original-Fassung des Buches
„Marktplatz der Sensationen“ erschien erstmals im Sommer 1942 in der neu
gegründeten Verlagsgemeinschaft El Libro Libre („Das freie Buch“).
Kurz vor seinem 60. Geburtstag publizierte Kisch sein letztes Buch: „Entdeckungen in
Mexiko“ (1945). Im November 1947 erlitt Kisch einen Schlaganfall und ein halbes Jahr
später einen zweiten. Kurz darauf, am 31. März 1948, starb er in einer Prager Klinik
(vgl. Hofmann 1988, S. 380-381).
Kisch und Ross waren beide erfolgreiche Propagandisten, der eine schrieb für Hitler
und die Nationalsozialisten, der andere für den Sozialismus und die Sowjetunion.
Beide verfassten Reiseberichte, der eine war „rasender Reporter“ und der andere
„fliegender Reporter“. Doch Kischs Stil des freien Journalismus war Ross fremd, die
Reisen und Reisebücher von Colin Ross wurden fast immer vom Auswärtigen Amt
finanziert und unterlagen einer strengen Zensur seitens der Regierung. Ross hatte
seine revolutionären Ideen zugunsten des Faschismus aufgegeben und Kisch wurde
wegen seinen revolutionären Ideen aus dem Land vertrieben. Ausgehend von dieser
Perspektive sind die Reiseberichte von beiden Autoren, wo sie ihre Art der
Fremdwahrnehmung versprachlicht haben, für die vorliegende Promotionsarbeit von
großer Bedeutung.
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