39
2.3 Kernbereiche der Linguokulturologie
2.3.1 Objekt und Gegenstand der Linguokulturologie
Da die Linguokulturologie an der Schnittstelle mehrerer Wissenschaften entstanden
ist, untersucht dieses Fach vor allem das Zusammenwirken von Sprache und Kultur.
Sprache gilt dabei als Sieb des kulturellen Inhalts. Ein wichtiges Forschungsobjekt ist
dabei die Untersuchung der Interpretation der Ergebnisse dieses Prozesses am
Beispiel des Sprachmaterials.
Als zentraler Gegenstand einer linguokulturologischen Untersuchung ist der
sprachliche Ausdruck von materiellen und geistigen Kulturobjekten zu verstehen, die
von Menschen erschaffen wurden. Es handelt sich um eine breite Facette, angefangen
von verschiedenen Arbeitsgeräten bis hin zu Alltagsgegenständen, von
Gewohnheiten, Sitten und Lebensweisen der Menschen bis hin zu Wissenschaft und
Kunst, Religion und Atheismus, Moral und Philosophie, kurz gesagt, von Objekten der
Kultur (vgl. Bromley/Padol’skiy 1984, S. 32-33). Doch müssen diese genauer betrachtet
werden.
Maslova zählt zu Untersuchungsgegenständen der Linguokulturologie folgende
Gruppen (vgl. Maslova 2010, S. 37-47):
1) Äquivalentlose Lexik und Lakunen, die vom Teilbereich Linguolandeskunde
untersucht werden (siehe dazu die linguolandeskundliche Theorie von
Vereshchagin/Kostomarov (1987). Dazu gehören unter anderem landeskundlich
markierte Quellen: Zitate und geflügelte Worte, aber auch politische Phrasen und
Parolen.
Äquivalentlose Spracheinheiten sind Bezeichnungen, die nur für eine bestimmte Kultur
spezifisch sind, als Produkt der kumulativen Funktionen der Sprache gelten und als
Pool für Hintergrundwissen gesehen werden können.
2) Spracheinheiten im mythologischen Kontext. Das sind Archetypen und Mytholo-
geme, Riten und Gebräuche sowie der Volksglaube, die in der Sprache verankert sind.
In jedem konkreten Phraseologismus wird nicht der gesamte Mythos, sondern nur ein
Mythologem widergespiegelt. Das Mythologem ist die wichtigste handelnde Person
oder Situation des Mythos, die von Mythos zu Mythos variieren kann. Einem Mythos
liegt ein Archetypus zugrunde. Nach Maslova ist der Archetypus ein festes Bild, das
allgemein bei Menschen entsteht und durch die Kultur verbreitet wird (vgl. Maslova
40
2010, S. 38).
3) Paremiologischer Sprachbestand. Dazu gehören vor allem Sprichwörter, die zum
Großteil durch Autostereotype einer Ethnie entstehen. Jedoch können nicht alle
Sprichwörter zum Gegenstand einer linguokulturologischen Untersuchung werden.
Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kulturgemeinschaft, einer bestimmten Ethnie
und die enge Verbindung mit ihrer Geschichte sind dabei ausschlaggebend (vgl.
Maslova 2010, S. 43).
4) Phraseologischer Sprachbestand, der mit Recht als wertvollste Informationsquelle
über Kultur und Mentalität einer Ethnie gilt. Er beinhaltet deren Vorstellungen über
Mythen,
Traditionen,
Riten,
Rituale,
Gewohnheiten,
Angemessenheiten,
Verhaltensweisen (vgl. ebd.).
5) Prototypen, Stereotype, Symbole. Sie stellen aus linguokulturologischer
Perspektive nicht nur die Weltanschauung, sondern auch die Fremdwahrnehmung
einer Ethnie dar, da sie durch den nationaltypischen Blickwinkel entstehen und das
Weltbild einer Ethnie reflektieren (vgl. ebd.).
6) Metaphern und andere Sprachbilder. Metaphern und andere Mittel der Bildlichkeit
und Bildhaftigkeit gehören zu den wichtigen Untersuchungsgegenständen der
Linguokulturologie, da sie die kulturelle Vorstellungskraft einer Ethnie mittels
Spracheinheiten zeigen (vgl. Maslova 2010, S. 44). Es entsteht ein sprachliches Bild,
das wir als „
jede anschaulich-sinnfällige Darstellung eines Gegenstands oder einer
Erscheinung auf beliebigem sprachlichem Wege
“ (Riesel 1963, S. 164) verstehen.
Die Formen sprachlicher Bildlichkeit können in den verschiedenen Texten
unterschiedliche stilistische Funktionen besitzen. Während sie in Sachtexten lediglich
der Verdeutlichung von Sachverhalten dienen und hier nur in begrenztem Maß
eingesetzt werden sollen, um die sachliche Information nicht zu verdrängen, spielen
sie in belletristischen Texten, wo sie zum Aufbau fiktiver Wirklichkeiten beitragen, eine
große Rolle
(vgl. Sowinski 1999, S. 125).
7)
Stilistische
Sprachformen.
Stilistische
Sprachformen
sind
als
Untersuchungsgegenstand der Linguokulturologie ebenfalls von großer Bedeutung.
Dabei werden die in Erscheinung tretenden Existenzformen einer Sprache untersucht.
Bei manchen Sprachen ist eine extreme dialektale Schichtung zu beobachten, bei
anderen hingegen gibt es kaum Unterschiede zwischen territorialen Sprachvarietäten.
Die Beziehung zwischen Literatursprache und nicht-literarischen Formen der Sprache
41
wird durch die Entwicklung der Kulturgeschichte einer Gesellschaft bestimmt:
Geschichte der Schriftlichkeit, Schulen, Literatur, Weltanschauung, Ideologie usw.
8) Sprechverhalten. Als spezieller Forschungsgegenstand der Linguokulturologie ist
das Sprechverhalten von großem Interesse, das in nominativen, grammatischen und
stilistischen Einheiten fixiert wird.
9) Bereich der Redeetikette. Redeetikette ist ein System von sprachlichen Regeln, das
von Menschen einer bestimmten Gemeinschaft geschaffen wird und in bestimmten
sozialen und kulturspezifischen Situationen gemäß ihren Rollen in der Gesellschaft in
Erscheinung tritt. Da diese Erscheinung kulturspezifisch ist, gehört die Redeetikette
zum Untersuchungsgegenstand der Linguokulturologie.
Somit untersucht die Linguokulturologie nicht nur Texte, sondern auch lebendige
sprachliche Kommunikationsprozesse und ihre Verbindung zu Kultur und Mentalität
einer Ethnie. Die oben beschriebenen Forschungsgegenstände der Linguokulturologie
erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es sind jedoch Hauptbereiche, in denen
Sprache und Kultur aktiv zusammenwirken.
Entsprechend dieser Forschungsgegenstände haben sich in der Linguokulturologie
einige Forschungsrichtungen entwickelt:
Linguokulturologie einer bestimmten sozialen Gruppe, einer Ethnie in einer
prägnanten kulturellen Periode, d. h. Untersuchung einer konkreten
linguokulturellen Situation.
Diachronische Linguokulturologie, welche die Entwicklung und Veränderung
des linguokulturellen Zustandes einer Ethnie im Verlauf einer bestimmten
Periode untersucht.
Vergleichende Linguokulturologie, die linguokulturologische Erscheinungen von
verschiedenen, aber verwandten Ethnien untersucht.
Kontrastive Linguokulturologie, die in der wissenschaftlichen Entwicklung erst
ihren Anfang genommen hat. Gerade diese Forschungsrichtung ist für die
vorliegende Arbeit von großer Bedeutung, denn sie untersucht die
Wahrnehmung einer Kultur/Mentalität aus einer völlig fremden Sicht.
Linguokulturologische
Lexikografie,
die
sich
mit
dem
Verfassen
linguolandeskundlicher Wörterbücher beschäftigt (vgl. Maslova 2010, S. 28-29).
42
Es lässt sich schlussfolgernd feststellen, dass die Linguokulturologie als
interdisziplinäres Dach-Fach neue Forschungsperspektiven für die Wahrnehmung
fremder Kulturen durch die Sprache bietet. Eine aktuelle Forschungsrichtung ist z.B.
die Untersuchung des sprachlichen Weltbildes.
Do'stlaringiz bilan baham: |