Ich habe noch nie ein dummes Kind gesehen,
ich habe schon mal ein Kind gesehen, das hin und wieder
etwas gemacht hat, was ich nicht verstand,
oder etwas anders gemacht hat, als ich geplant hatte;
ich habe schon mal ein Kind gesehen,
das nicht dieselben Orte kannte wie ich,
aber das war kein dummes Kind.
Bevor du sagst, es wäre dumm,
denk’ mal darüber nach, war es ein dummes Kind,
oder hat es einfach nur andere Sachen gekannt als du?
74
Lernen
75
4
Lernen im Wandel der Zeit
Auf die scheinbar simple Frage „Wie gelingt lernen?“ gibt es unterschiedliche Antworten. Das
Verständnis von Lernen hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder verändert. BEBERMEYER R.
(2016) beschreibt in ihrem Gedicht (vgl. dazu einleitend oben zu Teil II), die Auflösung des Konzepts eines
einzigen und absoluten Wahrheitsanspruchs hin zu mehreren, parallel existierenden Realitäten. Ein Zugang,
der den Annahmen der konstruktivistischen Lerntheorien entspricht, auf die am Ende dieses Kapitels
detaillierter eingegangen wird. Damit schulisches Lernen in seiner Gesamtheit verstanden werden kann,
erfolgt vorab ein historischer Abriss von Schule im Spannungsfeld gesellschaftlicher Interessen und
wissenschaftlicher Annahmen.
4.1
Die Logik schulischen Denkens
Historisch gesehen, organisieren und systematisieren Gesellschaften Lernen jeweils nach
unterschiedlichen Vorstellungen. Man kann daraus ableiten, welche Interessen und Wertvorstellungen
Priorität haben und welche sozioökonomischen Entwicklungen verfolgt werden (Jörg et al. 2007, S. 9).
Die schrittweise Loslösung vom theozentrischen Weltbild hat dazu geführt, dass gesellschaftliche
Strukturen nicht mehr als gottgegeben oder gottgewollt, sondern als vom Menschen beeinflussbar angesehen
wurden. Damit ging jedoch auch die Angst der herrschenden Eliten einher, Macht und Einfluss zu verlieren.
Erziehung wurde aus diesem Grund als strategisches Kontrollinstrument des Volkes eingesetzt. (vgl. dazu
Geißler 2000, S. 75–76)
Diese Angst vor Machtverlust war ein Motiv für die Preußen, Humboldt im Jahr 1809 zu beauftragen,
das Bildungssystem zu reformieren. An Napoleon war im Vorfeld ein großer Teil des Staatsgebiets verloren
worden, weshalb neben Agrar- und Militärreformen auch das Bildungssystem aus strategischen Gründen
verändert werden sollte. Humboldts Vorschläge strebten unter anderem erstmals eine Lehrer/innen-
Ausbildung, Bildung für das gesamte Volk und die damit verbundene Mitgestaltung des öffentlichen Lebens
an. Nach Preußens Sieg über Napoleon nahm man von den Modernisierungsplänen Humboldts jedoch
weitgehend Abstand. Die Sorge des Machtverlusts war fürs Erste durch den Sieg über Frankreich obsolet
geworden. Andere ökonomische Gründe, nämlich die Kinder der Landbevölkerung weiterhin bei der
Feldarbeit einsetzen zu können, rückten wieder stärker in den Vordergrund. Eine Schulbildung für alle war
dafür kontraproduktiv. (vgl. dazu Precht 2013, 31ff)
Dieses Beispiel verdeutlicht, dass die Einrichtung von Institutionen - wie etwa der Schule – dazu dienen
kann, bestimmte Probleme des gesellschaftlichen Lebens zu lösen, aber auch bestimmte Verhältnisse zu
konservieren. Im Fall „Schule“ wird das Ziel der Reproduktion einer Gesellschaft verfolgt, indem die
nachrückende Generation auf ein bestimmtes Wertesystem eingeschworen wird bzw. dieses als „best case“
akzeptieren lernt. Die Bevölkerung wird dazu entsprechend sozialisiert und selektiert. Diese beiden
Funktionen von Schule werden von FLECHSIG und HALLER (1975) um die kustodiale Funktion, Schule
76
im Sinne einer Aufbewahrungsanstalt von Kindern und die Qualifikationsfunktion zur Steuerung der
Wirtschaftskraft eines Staates erweitert. (vgl. dazu Blömeke und Herzig 2009; Gonschorek und Schneider
2015)
Wenn die Institution Schule also die genannten Funktionen tatsächlich erfüllt, so ergibt sich daraus ein
klarer Widerspruch zum gesetzlich verankerten primären Ziel (z.B. Grundsatzerlass Politische Bildung
Bundesgesetzblatt der Republik Österreich 2015) kritische und mündige Bürger/innen hervorzubringen.
Lernen findet somit im Spannungsfeld zwischen explizit geforderter individueller Entwicklung und implizit
vorhandenen ökonomischen und politischen Interessen statt. Erfolgreiches Lernen ist in diesem Kontext
nicht über das Individuum definiert, sondern über die Sicherstellung von Interessen der herrschenden
Eliten. Parallel zu dem vorherrschenden Bildungsverständnis gibt es auch eine Reihe anderer
Bildungskonzepte, in denen das lernende Individuum im Vordergrund steht. Hier lassen sich auch die
gesellschaftskritischen Schultheorien, wie beispielsweise jene von Paulo Freire, einordnen (Blömeke und
Herzig 2009).
Obwohl manche dieser Ideen seit über 200 Jahre existieren und in diesem Sinn eigentlich nicht mehr
neu sind, haben viele ihren revolutionären Gehalt nicht verloren. Sie werden heute noch unter dem Begriff
der Reformpädagogik zusammengefasst. Rückblickend sind die damals völlig neuartigen Anregungen
Humboldts durchaus in die Kategorie der Reformpädagogik einzuordnen.
Gemeinsam ist den Reformpädagog/innen „das Postulat, dass Kinder so freudig wie möglich durch
unmittelbare Erfahrung lernen sollten, statt Lern-Dienst nach Vorschrift abzuleisten“ (Precht 2013, S. 14).
In Abbildung 7 werden nur einige jener Vertreter/innen gezeigt, denen wir neue Anregungen und zum Teil
revolutionäre Ideen für den Bildungsbereich verdanken. Die jeweiligen Zugänge und zentralen Ideen
können im Rahmen dieser Arbeit nicht im Detail erläutert werden.
Abbildung 7: Ausgewählte Reformpädagog/innen (eigene Fotocollage nach WIKIPEDIA 2017)
Einzelne dieser Ansätze sind jedoch insbesondere für das Konzept der Individualisierung von großer
Relevanz. Beispielsweise Jean-Jacques Rousseau, der bereits im Jahr 1762 die Bedeutung der Selbsttätigkeit
der Lernenden betont und dem/der Lehrer/in die Anregung mitgibt, ihren Schüler/innen das Gefühl zu
77
geben, dass sie der/die Meister/in sind (Kühn 2010). Ebenso sind die Postulate von Pestalozzi „mit Herz,
Hand und Hirn“ oder von Dewey „Learning by doing“ für didaktische Modelle und Konzepte nach wie vor
aktuell (Stangl 2011; Reich 2008). Deweys Schüler Kilpatrick prägte den Begriff der Projektmethode.
Glöckel, der wichtigste Verfechter der Wiener Schulreform (1919-1920), plädierte für eine Gesamtschule
und mit innerer Differenzierung des Lehrens und Lernens anstatt einer äußeren Differenzierung nach
Schultypen (Parlamentskorrespondenz 2007). Parkhurst verfolgte im Daltonplan neben dem
selbstbestimmten Lernen und der Kooperation zwischen Lehrer/in und Schüler/in auch die Gestaltung von
Fachräumen als zentrale Anliegen ihrer Arbeit (Eichelberger 2011). Malaguzzis These, „der Raum ist der 3.
Pädagoge“ (neben dem/ der Lehrer/in und den Mitschüler/innen als 1. und 2.), ist wie Parkhurst im Kontext
der Analyse von Lernumgebungen von besonderem Interesse (vgl. Teil III).
Es drängt sich die Frage auf, wieso reformpädagogische Ansätze nach so vielen Jahren keine größere
Verbreitung im regulären Schulsystem erfahren haben. Die Beantwortung auf die Wahrung der
Systemstabilität, den damit verbundenen Machterhalt und die Durchsetzung ökonomischer Interessen zu
reduzieren, wäre zwar voreilig und würde auch zu kurz greifen. Die Annahme deckt sich aber mit der
Tatsache, dass viele reformpädagogische Ansätze sehr politisch und systemkritisch sind, wie beispielsweise
„Deschooling Society“ (1971) von Ivan Illich, John Deweys „Democracy and Education“ (1916) oder die
„Summerhill School“, gegründet von Alexander Neill (1921).
Manche Reformpädagog/innen haben sich zum Teil gar nicht das Ziel gesetzt, dass ihre Ansätze im
formalen Bildungssystem integriert werden, damit sie umgekehrt von dessen Vereinnahmung geschützt
bleiben. Diese ersten Vermutungen und Begründungen zeigen bereits, dass die Frage nach dem
Verbreitungsgrad reformpädagogischer Ideen im öffentlichen Bildungssystem in Abhängigkeit vom
jeweiligen reformpädagogischen Ansatz divergiert und deren Thematisierung somit den Rahmen dieser
Arbeit sprengen würde.
Es lassen sich aber, unabhängig von diesen singulären Reformkonzepten, historische und
gesamtgesellschaftliche Umbrüche identifizieren. Diese machten sich die Institution Schule zu Nutze mit
dem Zweck, die Gesellschaft nach ihren Zielen umzugestalten (vgl. dazu Tabelle 4). Die Betrachtung der
vorindustriellen, industriellen und postindustriellen Epoche zeigt, wie sich mit ökonomischen
Transformationen jeweils auch das gesamtgesellschaftliche Verständnis von Bildung und Lernen verändert.
78
Learning
Pre-industrial
Industrial
Post-industrial
knowledge era
Style
Informal, personal
Formal, impersonal
Informal, formal AND
personal
Place in community
Family, local
community
School separate from
community
Re-integration with
community, integral
Do'stlaringiz bilan baham: |