Die wichtigste und prägendste Beziehung Goethes während dieses Weimarer Jahrzehnts war
die zu der Hofdame
Charlotte von Stein
(1742–1827). Die sieben Jahre Ältere war mit dem
Landedelmann Baron Josias
von Stein
verheiratet, dem Oberstallmeister am Hofe. Sie hatte
sieben Kinder mit ihm, von denen noch drei lebten, als Goethe sie kennenlernte. Die 1770
Briefe, Billette, „Zettelgen“ und die zahlreichen Gedichte, die Goethe an sie richtete, sind die
Dokumente einer außergewöhnlich innigen Beziehung (Frau von Steins Briefe sind nicht
erhalten). Es wird darin deutlich, dass die Geliebte den Dichter als „Erzieherin“ förderte. Sie
brachte ihm höfische Umgangsformen bei, besänftigte seine innere Unruhe und stärkte seine
Selbstdisziplin. Die Frage, ob es sich auch um ein sexuelles Verhältnis oder um eine reine
„Seelenfreundschaft“ handelte, lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten.
[75]
Die Mehrzahl
der Autoren geht davon aus, dass Charlotte von Stein sich dem körperlichen Verlangen des
Geliebten verweigerte. In einem Brief aus Rom schrieb er, dass der „Gedanke, dich nicht zu
besitzen mich […] aufreibt und aufzehrt“.
[76]
Häufig wird die These des Psychoanalytikers
Kurt Eissler
[77]
vertreten, wonach Goethe seinen
ersten Geschlechtsverkehr als 39-Jähriger in Rom hatte. Auch sein Biograph Nicholas Boyle
sieht in der römischen Episode mit „
Faustina
“ den ersten sexuellen Kontakt, der
dokumentarisch belegt ist.
[78]
Goethes heimliche Abreise nach Italien 1786 erschütterte das Verhältnis, und nach der
Rückkehr kam es zum endgültigen Bruch wegen der von Goethe aufgenommenen festen
Liebesbeziehung mit
Christiane Vulpius
, seiner späteren Ehefrau, die ihm die tief verletzte
Frau von Stein nicht verzieh. Sie, deren ganzes Leben und Selbstverständnis auf der
Verleugnung der Sinnlichkeit gründete, sah in der Verbindung einen Treuebruch Goethes. Sie
forderte ihre Briefe an ihn zurück.
[79]
Christiane nannte sie nur „das Kreatürchen“ und meinte,
Goethe habe zwei Naturen, eine sinnliche und eine geistige. Erst im Alter fanden beide erneut
zu einer freundschaftlichen Beziehung, ohne dass sich der herzliche Umgang von einst
wiederherstellte.
[80]
Goethes kleiner Sohn
August
, der manche Botengänge zwischen dem
Goetheschen und dem von Steinschen Haus erledigte und den Charlotte ins Herz
geschlossen hatte, gab den Anstoß für eine stockende Wiederaufnahme ihres Briefwechsels
ab 1794, der allerdings fortan per „Sie“ geführt wurde.
[81]
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