Mitte der 1780er Jahre, auf
dem Gipfel seiner Amtskarriere, geriet Goethe in eine Krise. Seine
amtlichen Tätigkeiten blieben ohne Erfolgserlebnisse, die Belastungen seiner Ämter und die
Zwänge des Hoflebens wurden ihm lästig, die Beziehung zu Charlotte von Stein gestaltete
Goethe in der Campagna
von
Johann Heinrich Wilhelm Tischbein
, 1787
Blick auf den
Petersdom
vom Arco Oscuro nahe der
Villa Giulia
aus, Aquarell von Johann Wolfgang von Goethe,
Sommer 1787
Johann Wolfgang von Goethe in seinem italienischen Freundeskreis, Federzeichnung von
Friedrich Bury
, um 1787
sich zunehmend unbefriedigend. Als ihm der Verleger Göschen 1786
das Angebot einer
Gesamtausgabe machte, wurde ihm schockartig klar, dass von ihm in den letzten zehn
Jahren nichts Neues erschienen war. Im Blick auf seine dichterischen Fragmente
(Faust,
Egmont, Wilhelm Meister, Tasso) verstärkten sich die Selbstzweifel an seiner Doppelexistenz
als Künstler und Amtsmensch. Im Schauspiel
Torquato Tasso
fand Goethe den adäquaten
Stoff, um seine widersprüchliche Existenz am Hofe zu gestalten. Er legte sie in zwei Figuren
auseinander, Tasso und Antonio, zwischen denen es keine Versöhnung gibt. Während
er dem
poetischen Ausgleich misstraute, versuchte er noch in der Realität beide Aspekte im
Gleichgewicht zu halten.
[82]
Aber nach der ernüchternden Erfahrung seiner dichterischen Stagnation im ersten Weimarer
Jahrzehnt entzog er sich dem Hof durch eine für seine Umgebung unerwartete Bildungsreise
nach Italien.
[83]
Am 3. September 1786 brach er ohne Abschied von einer Kur in Karlsbad auf.
Nur sein Sekretär und vertrauter Diener
Philipp Seidel
war eingeweiht.
[84]
Den Herzog hatte er
nach dem letzten persönlichen Zusammensein in Karlsbad schriftlich um unbefristeten
Urlaub gebeten. Am Vortag seiner Abreise kündigte er ihm seine bevorstehende Abwesenheit
an, ohne sein Reiseziel zu verraten.
[85]
Die geheime Abreise mit
unbekanntem Ziel war wohl
Teil einer Strategie, die es Goethe ermöglichen sollte, seine Ämter niederzulegen, das Gehalt
jedoch weiter zu beziehen.
[86]
Der europaweit berühmte Autor des
Werther reiste
inkognito
unter dem Namen Johann Philipp Möller,
[87]
um sich ungezwungen in der Öffentlichkeit
bewegen zu können.
Nach Zwischenaufenthalten in
Verona
,
Vicenza
und
Venedig
erreichte Goethe im November
Rom
. Dort hielt er sich zunächst bis Februar 1787 auf (erster Romaufenthalt). Nach einer
viermonatigen Reise nach
Neapel
und
Sizilien
kehrte er im Juni 1787 nach Rom zurück, wo er
bis Ende April 1788 verweilte (zweiter Romaufenthalt). Auf der Rückreise
machte er
Zwischenstationen u. a. in
Siena
,
Florenz
,
Parma
und
Mailand
. Zwei Monate später, am 18.
Juni 1788, war er wieder in Weimar.
In Rom wohnte Goethe bei dem deutschen Maler
Wilhelm Tischbein
,
[88]
der das wohl
bekannteste Porträt des Dichters (
Goethe in der Campagna
) malte. In regem Austausch
stand er auch mit anderen Mitgliedern der deutschen Künstlerkolonie in Rom, darunter
Angelika Kauffmann
, die ihn ebenfalls porträtierte, mit
Jakob Philipp Hackert
,
Friedrich Bury
,
und
mit dem Schweizer Maler
Johann Heinrich Meyer
, der ihm später nach Weimar folgen
und dort unter anderem sein künstlerischer Berater werden sollte. In freundschaftlicher
Verbindung stand er auch mit dem Schriftsteller
Karl Philipp Moritz
; im Gespräch mit ihm
bildeten sich die kunsttheoretischen Anschauungen aus, die für Goethes „klassische“
Auffassung von der Kunst grundlegend werden sollten und von Moritz in seiner Schrift
Über
die bildende Nachahmung des Schönen niedergelegt wurden.
Goethe lernte in Italien
die Bau- und Kunstwerke der
Antike
und der
Renaissance
kennen und
bewundern; seine besondere Verehrung galt
Raffael
und dem Architekten
Andrea Palladio
. An
dessen Bauten hatte er in Vicenza mit Begeisterung wahrgenommen, dass sie die Formen
der Antike zu neuem Leben erweckten.
[89]
Unter Anleitung seiner Künstlerfreunde übte er sich
mit großem Ehrgeiz im Zeichnen; etwa 850 Zeichnungen Goethes sind aus der italienischen
Zeit erhalten.
Er erkannte aber auch, dass er nicht zum bildenden Künstler, sondern zum
Dichter geboren sei. Intensiv beschäftigte er sich mit der Fertigstellung literarischer Arbeiten:
Er brachte die bereits in
Prosa
vorliegende
Iphigenie in Versform, vollendete den zwölf Jahre
zuvor begonnenen
Egmont
und schrieb weiter am
Tasso
. Daneben beschäftigte er sich mit
botanischen Studien. Vor allem aber „lebte“ er: „Im Schutze des
Inkognitos
(den deutschen
Freunden war seine wahre Identität jedoch bekannt)
konnte er sich in einfachen
Gesellschaftsschichten bewegen, seiner Freude an Spielen und Späßen freien Lauf lassen
und erotische Erfahrungen machen.“
[90][91]
Die Reise wurde für Goethe zu einem einschneidenden Erlebnis; er selbst sprach in Briefen
nach Hause wiederholt von einer „Wiedergeburt“, einer „neuen Jugend“, die er in Italien
erfahren habe.
[92]
Er habe sich selbst als Künstler wiedergefunden, schrieb er dem Herzog.
Über seine zukünftige Tätigkeit in Weimar ließ er ihn wissen, er wolle von den bisherigen
Pflichten befreit werden und das tun, „was niemand als ich tun kann und das übrige
anderen
auftragen“. Der Herzog gewährte Goethe die erbetene Verlängerung seines bezahlten
Urlaubs, so dass er bis Ostern 1788 in Rom bleiben konnte.
[93]
Ein Ergebnis seiner Reise war,
dass er nach seiner Rückkehr nach Weimar die dichterische von der politischen Existenz
trennte.
[94]
Basierend auf seinen Tagebüchern verfasste er zwischen 1813 und 1817 die
Italienische Reise
.
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