P R A K T I S C H E R T E I L
1 PHRASEOLOGISMEN DES VOLKSTÜMLICHEN
URSPRUNGS x KULTURELLE PHRASEOLOGISMEN
Wie ich schon in der Einleitung und im theoretischen Teil erwähnt habe, möchte ich zuerst feststellen, welche Phraseologismen in diesen zwei Wochenmagazinen überwiegen, ob volkstümliche oder kulturelle. Im theoretischen Teil habe ich erklärt, was ich unter den Begriffen „Phraseologismen des volkstümlichen Ursprungs“ und „kulturelle Phraseologismen“ verstehe (vgl. oben, S. 14 – 16).
Allgemein – abgesehen von Themen der Artikel und Textsorten – können wir sagen, dass Phraseologismen des volkstümlichen Ursprungs beträchtlich überwiegen. Ich habe aus den drei Exemplaren des Wochenmagazins DER SPIEGEL insgesamt 213 Phraseologismen (damit meine ich: Idiome, FVG, Vergleiche und Paarformeln) gesammelt. Nur sieben (das ist 3,3 %) von allen Phraseologismen haben ihren Ursprung in der Bibel, in der Mythologie, in der lateinischen Sprache u. ä. Es handelt sich um folgende Phraseologismen:
(1) Doch am vergangenen Montag verkündete das Unternehmen unverhofft eine Hiobsbotschaft: Iran lässt ein Milliardenprojekt platzen. („Der Druck ist groβ“, DER SPIEGEL, Nr. 18/ 29. 4. 2006, S. 85) (Ursprung in der Bibel)
(2) „Wenn die ansteigt, weiβ ich: ,Jetzt muss ich reagieren!´“, sagt Christian Simanski, Oberarzt in Merheim, der nach anfänglicher Skepsis „vom Saulus zum Paulus“ geworden ist. (Martyrium im Aufwachraum, DER SPIEGEL, Nr. 18/ 29. 4. 2006, S. 177) (Ursprung in der Bibel)
(3) Das Idyll endete mit dem Zusammenbruch des Parteiensystems 1992, endgültig vorüber war es mit dem Eureo. Addio, dolce vita. (Der müde Erdteil, DER SPIEGEL, Nr.19 / 8.5.2006, S. 142) (aus der italienischen Sprache übernommen)
(4) In diesem Sodom kam Kleopatra 69 vor Christus zur Welt. (Perle des Mittelmeers, DER SPIEGEL, Nr.19 / 8.5.2006, S. 174) (Ursprung in der Bibel, im Alten Testament)
(5) Das soll die Kartierung zugleich beschleunigen, den die ist eine wahre Sisyphusarbeit: Rund 15 Prozent der Straβeninfos („Features“) sind schon nach einem Jahr veraltet und müssen neu erhoben werden. (Pirsch im Straβennetz, DER SPIEGEL, Nr.19 / 8.5.2006, S. 176) (Ursprung in der griechischen Mythologie)
(6) Es ist kurz vor 22 Uhr am Mittwoch vergangener Woche, als MTV-Moderator Markus Kavka sagt, dass nun der Stein des Anstoβes gezeit wird. (Aufruhr im Moral-Business, DER SPIEGEL, Nr.19 / 8.5.2006, S. 188) (Ursprung in der Bibel)
(7) Büchse der Pandorra = Titel des Artikels (Büchse der Pandorra; DER SPIEGEL Nr. 27 / 3.7.2006, S. 48). Dann noch einmal im Text in der direkten Rede eines Mannes: „Damals wäre es keinem eingefallen, eine solche Produktion zu starten. Wir haben sie selbst geöffnet – die Büchse der Pandorra.“ (Ursprung in der griechischen Mythologie)
Im Wochenmagazin DIE ZEIT kommen kulturelle Phraseologismen auch nicht so oft vor. In den drei Exemplaren dieses Wochenmagazins habe ich 254 Phraseologismen gefunden. Davon können wir nur 13 Phraseme (5,1 %) als kulturelle bezeichnen:
(1) Vergessen sind die sieben magere Jahre, der Krampf präsidialer Ruck-Reden, die nationale Standort-Panik und wirtschaftliche Mobilmachung. (Magie der Heiterkeit, DIE ZEIT, Nr. 25 / 14. Juni 2006, S. 1) (Ursprung in der Bibel, im 1. Buch Mose)
(2) „Das ist ein Kampf gegen Windmühlenflügel“, sagt Böckler. (Was wächst denn da?, DIE ZEIT, Nr. 25 / 14. Juni 2006, S. 13) (Ursprung im Roman „Don Quijote“ von Cervantes)
(3) Ein echter Zankapfel für die schwarz-rote Koalition wird Steinbrücks Vorhaben, die Gewerbesteuer beizubehalten und die Berechnungsgrundlage noch auszubauen, um vorhandene Schlupflöcher wenigstens teilweise zu schlieβen. (Halber Steuersatz, doppelter Ärger, DIE ZEIT, Nr. 25 / 14. Juni 2006, S. 22) (Ursprung in der Bibel, im Alten Testament)
(4) Zornig und lachend zugleich, wie es seine Art war, würde er den aufgeregten Erben, die uns von einer Katastrophenangst in die nächste treiben, die Leviten lesen, wie er’s in Wahrheit schon vor mehr als vier Jahrzehnten vorausschauend getan hat (...) (Untergang des Abendlandes? Welch ein Unsinn!, DIE ZEIT, Nr. 25 / 14. Juni 2006, S. 48) (Ursprung im Mönchswesen)
(5) Da fiel es uns – UND DAS ZAHLT ALLES DER STEUERZAHLER! – wie Schuppen von den Augen. (Das Letzte DIE ZEIT, Nr. 25 / 14. Juni 2006, S. 49) (Ursprung in der Bibel, aus der Apostelgeschichte von dem blinden Saulus)
(6) Ohnehin hat Fischer, bei all seinen Brüchen, doch immer darauf geachtet, dass der rote Faden nicht gänzlich riss. (Princeton ruft Joschka, DIE ZEIT, Nr. 26 / 22. Juni 2006, S. 5) (Ursprung im Goethes Werk „Wahlverwandschaften“)
(7) Seine Stärken wie seine Schwächen kommen daher, die beruhigende Kraft des groβen Bruders, auf den man sich auf dem Schulhof des Kalten Kriegs verlassen konnte, wie die pubertäre Maβlosigkeit der Managergehälter und benzinverjubelnden Autofahrerei. (Der ewige Junge, DIE ZEIT, Nr. 26 / 22. Juni 2006, S. 8) (Ursprung im George Orwell Roman „1984“)
(8) An diesem Donnerstag wird nun im römischen Olympiastadion der Prozess vor dem Sportgericht eröffnet – und danach wird im italienischen Fuβball kein Stein auf dem anderen bleiben. (Das groβe Fressen, DIE ZEIT, Nr. 27 / 29. Juni 2006, S. 3) (Ursprung in der Bibel, wo Jesus der Stadt Jerusalem ihre Zerstörung verkündet)
(9) Eine Hand wusch die andere: Signora Fini hatte gemeinsam mit ihrer Schwägerin und dem Sekretär des Ehemanns bei der Region Latinum um Aufträge für medizinische Geräte gefeilscht, die ihre Firma zu offenbar überhöhten Preisen an Krankenhäuser verkaufte. (Das groβe Fressen, DIE ZEIT, Nr. 27 / 29. Juni 2006, S. 3) (Ursprung in der römischen Geschichte bei dem römischen Philosophen und Dichter Seneca und dem römischen Schriftsteller Petronius)
(10) Es entstand die DDR-Identität post festum. (Auch wir hatten glückliche Tage, DIE ZEIT, Nr. 27 / 29. Juni 2006, S. 40) (Die Wendung stammt aus dem Lateinischen und bedeutet wörtlich „nach dem Fest“, im übertragenen Sinne „wenn alles vorbei ist, wenn es zu spät ist“)
(11) Dass der Alltag thematisiert werden soll, ist der Stein des Anstoβes. (Auch wir hatten glückliche Tage, DIE ZEIT, Nr. 27 / 29. Juni 2006, S. 40) (vgl. oben)
(12) Und doch erscheint es mir und vielleicht auch anderen Lesern so, dass hier ein verborgener Plan, ein roter Faden zu finden sei. (Im Gehen wird das Nachdenken genauer, DIE ZEIT, Nr. 27 / 29. Juni 2006, S. 40) (vgl. oben)
(13) Andere verstecken sich im Gassengewirr Tangers, weil sie wussten, dass H 2 sich nicht in die Höhle des Löwen wagen würde. (Tanger erwacht, DIE ZEIT, Nr. 27 / 29. Juni 2006, S. 65) (Ursprung in einer Fabel von Äsop)
Beide Wochenmagazine sind vor allem für Intellektuelle und gebildete Menschen bestimmt. Aber wie wir sehen können, die Zielgruppe der Leser beeinflusst den Gebrauch von Phraseologismen nicht. In meisten Fällen greifen die Journalisten lieber nach einem allgemein bekannten Phrasem. Übermaβ der bildungssprachlichen Phraseologismen könnte zur Unverständlichkeit des Textes führen. Den Journalisten geht es primär um Verständlichkeit und Eindeutigkeit des Textes. Allgemein bekannte Phraseologismen können sogar die Verständlichkeit des Textes unterstützen und die Meinungen des Verfassers eindeutiger ausdrücken. Es ist bestimmt auch kein Zufall, dass sich einige kulturelle Phraseme in den Wochenmagazinen wiederholen (siehe „ein roter Faden“ oder „Stein des Anstoβes“). Die Journalisten rechnen damit, dass auch diese Phraseme der breiten Gesellschaft bekannt sind. Der folgende Auszug mit einfachen Bildern und einem Phrasem am Ende zeigt eindeutig den ironischen Abstand des Verfassers des Artikels zu den neuen politischen Reformen (siehe auch unten, S. 49 und 59): Doch gleichzeitig enthält die unerwartet entflammte Liebesbeziehung der Deutschen zu ihrer neuen Kanzlerin unübersehbar irrationale Züge. Denn Merkel leitet ein Kabinett, dessen Reform-Elan sich in den ersten Monaten seiner Amtszeit weitgehend darin erschöpft hat, den Bürgern so ungeniert in die Taschen zu greifen wie keine Regierung zuvor. (Die Koalition der Unwilligen, DER SPIEGEL, Nr.19 / 8.5.2006, S. 23)
Neben diesen zwei groβen Gruppen von Phraseologismen sprechen wir auch über die sog. Publizismen (siehe oben, S. 17). Publizismen sind stark mit einer aktuellen politischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Situation verbunden. Nach solchen Wendungen greifen die Journalisten oft mechanisch und die Wendungen neigen also oft zur Klischees. Es handelt sich vor allem um feste Substantiv + Verb Verbindungen. Zum Beispiel die Wendung von etw. kann nicht die/keine Rede sein oder von j-m/etw. ist die Rede habe ich in den Wochenmagazinen insgesamt fünfmal gefunden und die Wendungen eine Rolle spielen, etw. ins Leben rufen, etw. in den Griff bekommen/haben und in der Lage sein sind alle auch fünfmal erschienen. Auf den Seiten der Wochenmagazine, die ich zur Verfügung habe, wurde über die neue Regierung (CDU, mit Angela Merkel an der Spitze), über politische und Finanzreformen heftig diskutiert. Die neuen Reformen bedeuten für Einwohner Deutschlands höhere Steuern und Ausgaben. In diesem Zusammenhang verwenden die Journalisten oft das Phrasem j-m in die Taschen greifen oder in die Tasche (tiefer) greifen müssen u. ä. Ein Beispiel habe ich schon oben angeführt, aber wir finden noch weitere Beispiele:
(1) „Die Politik greift dem Bürger unverfroren in die Tasche“, schimpft ein Arzt aus dem benachbarten Walsrode. (Die Koalition der Unwilligen, DER SPIEGEL, Nr.19 / 8.5.2006, S. 22)
(2) Bislang mussten sie [die Patienten] zwischen fünf und zehn Euro aus der eigenen Tasche zuschieβen. Sparsame Kunden sind nun aufgefordert, in der Apotheke eine möglichst preiswerte Arznei zu verlangen. (Kollektiv verantwortungslos; DER SPIEGEL Nr. 27 / 3.7.2006, S. 35)
(3) Als wäre das alles noch nicht schlimm genug, müssen die EADS-Manager demnächst auch noch für eine weitere fatale Fehleinschätzung tief in die Tasche greifen, die Neuentwicklung des Langstreckenjets A350. (Club der Ahnungslosen; DER SPIEGEL, Nr. 27 / 3.7.2006, S. 72)
(4) Es gehe nicht darum, „Hartz-IV-Empfängern das Geld aus der Tasche zu ziehen (...)“ verteidigt ein Steinbrück Vertrauter den Plan des Ministers. (Halber Steuersatz, doppelter Ärger, DIE ZEIT, Nr. 25 / 14. Juni 2006, S. 22)
(5) Nun erwartet den Bürger eine merkwürdige Reform: Zwar hört er seit Tagen, die Regierung wolle „ihm nicht in die Tasche greifen“. (Deutschland leidet, DIE ZEIT, Nr. 27 / 29. Juni 2006, S. 1)
Diese Wendungen (etw. in den Griff bekommen, j-m in die Tasche greifen u. ä.) sind nicht mehr originell. Da sie oft verwendet werden, wirken auch nicht mehr so expressiv und fesseln kaum die Aufmerksamkeit des Lesers. Die Journalisten müssen auf die Wiederholung von denselben Wortverbindungen gut aufpassen, weil die Wiederholung von gleichen Wörtern und Phrasemen auf die niedrigere Sprachkompetenz des Autors hindeutet (vgl. Čechová 2003, 218). Was die Wochenmagazine DER SPIEGEL und DIE ZEIT betrifft, können wir sagen, dass die Journalisten Klischees und Publizismen vermeiden und sich bemühen originell auszudrücken.
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