Popularmusiker in der provinz


V.2) Verifikation/Falsifikation der Hypothesen I), II) und III)



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V.2) Verifikation/Falsifikation der Hypothesen I), II) und III)


Eine Beschreibung “exemplarischer Biographien” der untersuchten Personengruppe steht vor dem Problem, dass sich keine allgemein gültigen Wendemarken, Wegsteine oder Scheidewege erkennen lassen, die für alle Befragten und Beobachteten Gültigkeit hätten. Auch möchten wir der Gefahr ausweichen, Gemeinplätze wie : “Popularmusiker beginnen ihre Tätigkeit als Jugendliche”, als Untersuchungsergebnisse zu präsentieren, weil eine nur auf augenfälligen biographischen Übereinstimmungen fußende Vorgehensweise zu kurz greifen und den betriebenen Aufwand nur unzureichend widerspiegeln würde.

Eine idealtypische Betrachtung an dieser Stelle soll dem Zweck dienen, die Ergebnisse der narrativen biographischen Interviews und unstrukturierter teilnehmender Beobachtung unter Heranziehung einer Art “Hilfshypothese” auf eine weitere Interpretationsebene zu bringen 378.

Idealtypische “Ansätze” fanden in den bisherigen Ausführungen keine oder nur marginale Berücksichtigung, was zu der berechtigten Frage führt, warum eine solche Betrachtung in diesem sich mit Ergebnissen befassenden Kapitel eingeführt wird : Durch eine idealtypische Herangehensweise soll eine zusätzliche Spur auf dem Weg der Überprüfung der aufgestellten Hypothesen I) - III) eröffnet werden. Wir meinen, dass diese “Hilfs-Erweiterung” zu einer interessanten und für die Studie gehaltvollen Betrachtungsweise des Untersuchungsgegenstands führen wird. Da Feldarbeit und Auswertung des Materials abgeschlossen sind, erscheint an dieser Stelle eine idealtypische Betrachtung sinnvoll, wenngleich einschränkend bemerkt werden muss, dass einem solchem Vorgehen keine empirischen Fallentsprechungen rein - d.h. “in toto” - zuweisbar sind.

Max Weber schreibt : “Für die Forschung will der idealtypische Begriff das Zurechnungsurteil schulen : er ist keine >Hypothese<, aber er will der Hypothesenbildung die Richtung weisen. Er ist nicht die Darstellung des Wirklichen, aber er will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen.” 379


I) Konstruktion und Verwendung von Musiker-Ideal-Typen


Bei dem Versuch, “exemplarische Biographien” für den untersuchten Personenkreis zu entwickeln, besteht die Gefahr, das ausgewertete Interviewmaterial knapp und auf ein griffiges Ergebnis hinzielend zu verdampfen, Inhalte und Zusammenhänge auf gängige Klischees zu reduzieren.

Eine solche Vorgehensweise wäre nützlich, wollte man die Ergebnisse der Auswertungen für Aussagen nach dem Schema “Popularmusiker sind ...” heranziehen, würde aber die Vielschichtigkeit der individuellen Biographien ausblenden, wichtige Aspekte in der Formulierung der Ergebnisse aus dem Blickfeld geraten lassen und letztendlich zu Statements führen wie : “Alle interviewten Personen nahmen ihre popularmusikalische Tätigkeit freiwillig auf” oder : “Der erste Kontakt zu Popularmusik fand bei allen Befragten über Massenmedien statt”. 380

Die Suche nach solchen “Befunden” wäre allerdings auf die Suche nach universell gültigen Eigenschaften (hier biographischen Übereinstimmungen) beschränkt. Die Ergebnisse wären auf leicht nachvollziehbare Weise allgemein und würden den betriebenen Aufwand teilnehmender Beobachtung und Textanalyse nicht adäquat widerspiegeln 381.

Eine weitere Schwierigkeit bestünde darin, dass sich aus “exemplarischen Biographien” weitere Verläufe individueller Laufbahnen quasi ex ante ableiten lassen müssten. Ein solches Vorgehen würde einer Entwicklung Vorschub leisten, die tradierte Klischees transportiert, und den gesellschaftlichen Umgang mit Popularmusik und den aufführenden Akteuren erneut in eine Richtung lenken, die der Realität nur sehr bedingt nahe käme.

Dies wird deutlich am Beispiel des kommerziellen Erfolgs der untersuchten Personen : Alle gaben - oftmals bereits retrospektiv - an, nicht den angestrebten Erfolg erreicht zu haben, bzw. die eigenen Möglichkeiten als so gering einzuschätzen, dass sie das Eintreten eines vorstellbaren kommerziellen Erfolgs von vornherein ausschlossen bzw. gar nicht erst den Versuch in einer entsprechenden Richtung unternahmen. Würde man diesen Aspekt im Rahmen einer “exemplarischen Biographie” beschreiben, bestünde u.U. die Gefahr, Aussagen zu formulieren wie : “Alle interviewten Personen sind kommerziell gescheitert” oder : “Alle befragten sind handwerklich/kreativ zu schlecht für eine kommerziell erfolgreiche Karriere” o.ä. .

Rücksicht nehmend auf die vielfältigen Einzelfälle und den Versuch vermeidend, das für sich sprechende Interviewmaterial wie im beschriebenen Beispiel verzerrend zu verkürzen, muss eine Methode gewählt werden, die die vorhandenen Gemeinsamkeiten darstellt, ohne starre Grenzen zu ziehen, und vor allem, ohne starre Urteile über die interessierende Personengruppe zu fällen.

Keiner der interviewten Personen ist realiter ausschließlich mit musikalischer Praxis beschäftigt. Sie sind gleichzeitig auch noch NachbarIn, Landsmann/frau, LiebhaberIn, BlumenfreundIn, Vereinsmitglied im Fußballverein oder aktiv im Umweltschutz tätig u.a.m. 382. Musikalische Tätigkeit ist lediglich ein Faktor im Leben der befragten Personen. Intention und Ehrgeiz sind individuell verschieden und von wechselnder Intensität im Verlauf der jeweiligen musikalischen Laufbahnen. Deshalb ist es notwendig, die sich auf den ersten Blick als ungeordnetes Chaos individueller Biographien darstellende Vielzahl individueller Werdegänge mit Hilfe idealtypischer Begriffe soweit zu ordnen, dass sich ein nachvollziehbares Bild ergibt, das nicht die Darstellung des Wirklichen zum Ziel hat, aber der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen will.

Der Vorteil, den ein solches Verfahren für diesen Abschnitt der Ergebnisse bietet, verdeutlicht sich schon, wenn man die Vielzahl der Nebenbedingungen betrachtet, die hinsichtlich des “So-und-nicht-anders-geworden-seins” in die Biographie einfließen 383.

Weiterer Vorteil der Idealtypen-Konstruktion ist, dass wir mit seiner Hilfe der Vielfalt der individuellen Erscheinungen die Hypothese eines oder mehrerer “idealer” - d.h. gedachter - Verläufe zuordnen können.

Max Weber führt aus : “Er (der Idealtypus) wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einzeln herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie.” 384

“( .... ) Der Idealtypus ist ein genetischer Begriff, d. h er löst aus einem Bündel von Merkmalen jene heraus, die für bestimmte `Kulturbedeutungen´ als ursächlich wesentlich angesehen werden. Dieser Zusammenhang soll `rein´ konstruiert werden.” bemerkt Käsler 385. Gemäß seiner Auffassung werden bei der Konstruktion eines Idealtypus die einströmenden Gesichtspunkte bis zu einem denkmöglichen Extrem hin verdichtet : “Die Steigerung und Synthese bestimmter Elemente und Momente der beobachteten Wirklichkeit orientiert sich an `Ideen´, die für das Handeln von Menschen und Gruppen als leitend interpretiert werden.” 386

Schon eine flüchtige Betrachtung des Interviewmaterials oder der Gedächtnisprotokolle macht augenfällig, dass die beobachtete Personengruppe in vielerlei - auch idealtypischer - Hinsicht heterogen ist. Es müssen also mehrere nicht allgemeingültige, aber die Richtung weisende “idealtypische Biographien” konstruiert werden, die abstrakt genug sind, um nicht

- von der ausgeübten Stilistik (diese änderte sich bei den interviewten Personen oft mehrmals),

- durch das erlernte und gespielte Instrument (auch da kann es während einer Laufbahn Veränderungen geben),

- und den Zeitgeist (der referierte Zeitrahmen umfasst immerhin fast 30 Jahre lokaler Popularmusikgeschichte) beeinflusst zu sein.
Ebenso sollte keine Beeinflussung vorliegen durch

- die Dauer der musikalischen Tätigkeit und das Alter der interviewten Personen (die Altersspanne der befragten Personen reicht vom Pubertätsalter bis Ende 40),

- den Umstand, dass manche Interviewpartner zum Interviewzeitpunkt retrospektiv, mit innerer Distanz 387 auf ihre Laufbahn blicken, manche Interviewpartner sich hingegen mitten in ihrer “Karriere” befanden oder wichtige Laufbahn-Entscheidungen erst noch anstehen 388.


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