Kap. IV) Beschreibung und Diskussion der Untersuchungsmethode und Darlegung des empirischen Materials
Beschreibung und Diskussion der Untersuchungsmethode
1) Über die Unmöglichkeit von “Stichprobenbildungen”
Der für seine zahlreichen Feldstudien bekannte Wiener Soziologe Girtler - er lieferte u.a. Studien über die Subkulturen der Prostituierten, der Schmuggler, der Wilderer sowie auch über die sog. “feine Gesellschaft” und das Milieu der “Berufskriminellen” - lässt es sich gerne gefallen, dass man ihn für seine Arbeiten unter Kollegen als “skurrilen Paradiesvogel” bezeichnet 268. Jedenfalls zitiert er derartige Klassifizierungen in einem seiner eigenen Bücher (Girtler 1995, S. 207),
und er versäumt nicht, darauf hinzuweisen, dass Wissenschaftler, die “in direktem Kontakt zu Menschen forschen, nicht besonders geachtet zu sein” scheinen (ebd., S. 209) - vor allem in der deutschen Soziologie (ebd., S. 207).
Hinsichtlich der im Rahmen seiner Studien angewandten Methoden der unstrukturierten teilnehmenden Beobachtung und des narrativen Interviews gibt Girtler sich gegenüber den häufig in der Soziologie eingesetzten quantitativen Methoden mathematisch/statistischer Provenienz als unumwundener Verfechter 269. Darüber hinaus macht der Autor eine gewisse Elfenbeinturmsituation bei vielen Sozialwissenschaftlern dafür verantwortlich, dass qualitative Methoden noch nicht einmal “richtig” gelehrt werden könnten 270.
Girtlers Position sei hier die Forderung gegenüber gestellt, die Opp (1976, S. 405) für Tests soziologischer Hypothesen formuliert hat: “Allgemein können wir als Regel festhalten, dass (...) bei der Auswahl von Testsituationen Maßnahmen ergriffen werden müssen, die die Konsequenz haben, dass Konfirmatoren nicht schon auf Grund der Auswahl überrepräsentiert werden. Diese Maßnahmen werden am besten so realisiert, dass aus potentiellen Testsituationen diejenigen, in denen die Theorie geprüft werden soll, zufällig ausgewählt werden.”
Inwieweit ein derartiges Statement überhaupt auf der Ebene greifen kann, auf der Girtlers Arbeiten und die anderer einen ähnlichen Methodenansatz benutzender Soziologen (z. B. der sog. “Chicago School” oder des CCCS/Birming-ham) angesiedelt sind, ist die Frage. Geht es doch in diesen Zusammenhängen zunächst um die Beschreibung bestimmter die Sozialforscher interessierender und von ihnen zunächst als “unbekannt” eingestufter sozialer Gruppen bzw. von deren “Regeln” und nicht in erster Linie um das Aufstellen bestimmter - u.U. allgemeingültiger bzw. in irgendeinem Sinne verallgemeinerungsfähiger - soziologischer Hypothesen 271.
Emile Durkheim führt in seinen “Regeln der soziologischen Methode” aus : “Statistik zeigt den Vorteil, dass sie die soziologischen Tatbestände isoliert von anderen Tatbeständen zu den behandelten Individuen zuordnet, allerdings abstrahiert von der individuellen Einstellung zu ihnen. Sie (die soziologischen Tatbestände A.d.A.) sind mit ziemlicher Genauigkeit durch die Häufigkeiten der Geburten, Ehen, und Selbstmorde bestimmt, d.h. durch die Zahl die man erhält, wenn man den Jahresdurchschnitt der Ehen, Geburten und Selbstmorde durch die Anzahl der Menschen dividiert, die in dem zur Ehe, Zeugung oder Selbstmorde geeigneten Alter stehen. (....) Da in jeder dieser Ziffern alle Einzelfälle unterschiedslos enthalten sind, heben sich die individuellen Verhältnisse, die an ihrem Zustandekommen etwa teilhaben konnten, wechselseitig auf und tragen zu dem endgültigen Ergebnisse nichts bei. Was die Ziffern ausdrücken, ist vielmehr ein bestimmter Ausdruck des Kollektivgeistes.” (Durkheim 1984, S. 110)
Auf der nach Durkheim jeder Forschung zugrunde liegenden Suche nach dem “Normaltypus soziologischer Tatbestände” wird der Forscher verleitet, sich von der Realität abzuwenden und sich auf sich selbst zurückzuziehen. Es besteht die Gefahr, den zur Untersuchung anstehenden Gegenstand - hier das soziale Phänomen - ausschließlich aus einer idealtypischen Sichtweise zu betrachten. Der Idealtypus existiert aber nur in der theoretischen Konstruktion.
In Durkheims These - der Forderung, soziologische Tatbestände wie Dinge zu betrachten - spiegelt sich eine Handlungsanleitung, sich von der idealtypischen, a priori beeinflussten Sichtweise soziologischer Tatbestände zu lösen 272.
Dass sozialwissenschaftliche Forschung bzw. Hypothesenbildung gelegentlich auch ohne Zufallsstichproben auszukommen gezwungen ist, bemerkt Haferkamp im Rahmen seiner Ausführungen zu Studien krimineller Karrieren : “Wir haben, da Stichproben von Personen oder Auswahlen von Regionen ausschieden, den Kontakt zu Gruppen, die das kriminelle Handeln zeigen, direkt gesucht. Einer Zufallsauswahl unter den kriminellen Gruppen und den Handlungen ihrer Mitglieder kamen wir dadurch jedoch nicht näher. Short und Strodtbeck haben schon klar formuliert, warum diese Möglichkeit nicht besteht : `Es gibt keine Liste der Gruppen, aus der Zufallsauswahlen nach statistischen Überlegungen hätten gezogen werden können. Hätte es eine solche Liste gegeben, dann wäre sie schon am Tage ihrer Aufstellung überholt gewesen, so veränderlich sind die Mitgliedschaften in den Gruppen und ihr Bestand überhaupt´ (1965, S. 10).” (Haferkamp 1975, S. 58/59) 273
Auch Berger (1980) übt an “standardisierten” und “quantitativ ausgerichteten” Messinstrumenten grundsätzliche Kritik, allerdings könnte einigen von seinen Einwänden wegen ihrer ideologischen Einfärbung so etwas wie Zeitgeistwiderspiegelung (Berger 1980, S. 11 ff.) unterstellt werden. Andererseits bemerkt er, dass wegen einer gewissen “Arbitrarität” hinsichtlich der Wahl von Messskalen Verzerrungen in den Ergebnissen zwangsläufig seien 274. Wie bereits schon bei Girtler taucht auch unter Bergers Einwänden der Hinweis auf die Abgehobenheit des soziologischen Wissenschaftsbetriebes auf 275.
2) Der Aspekt der “normalen Sprache”
Mit der Bemerkung : “Die Verwendung standardisierter Fragebögen in der Datenermittlung und von Skalierungsverfahren bei der Auswertung bedingt eine Verkürzung und Verzerrung des Objektivitätsgehalts von Sozialuntersuchungen. Die weitgehend verbindlichen Normen wissenschaftlicher Intersubjektivität schränken Aussage- und Wahrheitsgehalt der Ergebnisse ein.” (ebd., S. 124 ; vergl. auch Girtler 1984, S. 152) führt Berger einen weiteren Kritikpunkt ein, der sich auf das Problem grundsätzlich als nicht intersubjektiv “gleich” anzunehmender umgangssprachlicher “Bedeutungen” bezieht : “Allgemein widerlegbar ist die Gleichsetzung von Situationsfreiheit und Abstraktionsleistung aber am Problem sprachlicher Bedeutung. Bislang ist jeder Versuch gescheitert, den semantischen Gehalt sprachlicher Einheiten unter Absehung von ihrem bestimmten Gebrauchszusammenhang zu klären. Diese Versuche stehen, wie Wittgenstein in seinen sprachkritischen Studien ausführlich dargelegt hat, vor dem Dilemma, ungeklärt bleibende sprachliche Verwendungsregeln voraussetzen zu müssen, wenn sie die Bedeutung bestimmter sprachlicher Wendungen explizieren. Wittgenstein schlug als Lösungsweg vor, Sprechen als einen Teil sozialer Aktivitäten zu betrachten und die Regeln sprachlicher Bedeutungen durch die Regeln sozialer Aktivitäten (`Sprachspiele´) konstituiert zu denken. Die Bedeutung verbaler Ausdrücke ist demnach von ihrer Stellung in einem geregelten sozialen Handlungszusammenhang bestimmt. Daraus ergibt sich direkt, dass Sprechen immer an bestimmte soziale Situationen gebunden bleibt - oder aber, wie Wittgenstein das für Beispiele philosophischer Jargons analysiert hat, zu bedeutungsleeren Wortblasen verkommt.” (ebd., S. 191) 276
Witzel bemerkt zu diesem Sachverhalt : “Die `common-sense-Konstrukte´ (nach Schütz, A.d.A.) sind eine Umschreibung des Alltagswissensbestandes, der die Orientierung für das Handeln der Individuen bietet. Dieses Wissen, das man sich als Produkt eines Prozesses fortlaufend sich ergänzender und erneuernder Interpretationsleistungen vorstellen kann, wird von den Handelnden jeweils an die spezifischen situativen Bedingungen gekoppelt. Es unterliegt einmal einem intraindividuellen Wandlungsprozess, d.h. die wechselnden gesellschaftlichen Bezüge der Individuen verändern und bestätigen deren kognitive Inhalte und schaffen so ein komplexes Wissenssystem. Dieser ständige Sozialisationsprozeß beinhaltet gleichzeitig interindividuelle Veränderungen des Wissens, da die Individuen in einem gesellschaftlichen Zusammenhang stehen, der aus differierenden Perspektiven gebildet ist. Individuen interpretieren also gleiche Situationen oder die Perspektiven anderer Individuen, die sie in ihrer Interaktion berücksichtigen müssen, in unterschiedlicher Weise.” (Witzel 1982, S. 13)
Nebenbei ergibt sich ein “Sprachproblem” anderer Art für Girtler in der Soziologie selbst, nämlich vermittels des von ihm bei vielen Vertretern dieser Wissenschaft attestierten Hanges zu unnötiger Verkomplizierung der im sozialwissenschaftlichen Diskurs von ihnen benutzten Sprache. Girtler unterstellt diesen Adepten der soziologischen Disziplin - mit Dahrendorf - so etwas wie einen Hang zu Geheimbündelei, zu einer Art modernem wissenschaftlich verbrämtem Esoterikertum (Girtler 1995, S. 226 ff.). Etwas an Ludwig Wittgenstein erinnernd, von dem sinngemäß die Aussage stammt, die philosophischen Probleme seiner Zeit glichen irgendwie Beulen, die sich der menschliche Verstand beim Anrennen gegen die Grenzen der menschlichen Sprache zuzöge, bescheinigt Girtler dem einen oder anderen seiner Kollegen, Worthülsen in Form “kompliziert verpackter Selbstverständlichkeiten” zu produzieren, statt sich “um die Erforschung bzw. das `Verstehen´ fremder Lebenswelten” zu bemühen (ebd., S. 227) 277. Dabei gehören für Girtler die Methode der “freien Feldforschung” und in verständlicher Sprache über die Forschungsergebnisse abgefasste “Berichte” zusammen. Deren Publikation könnte Girtlers Meinung nach der Soziologie aus ihrer momentanen “Esoteriker”-Isolation heraushelfen 278.
3) Die “Unschärferelation”
Im Zusammenhang seiner Kritik der Datenerhebungsmethode über strukturierte Interviews weist Berger (Berger 1980) auf ein Phänomen hin, das im übertragenen Sinn aus der Quantenphysik unter der Bezeichnung “Unschärferelation” bekannt ist : Das Problem des Verhaltens von Objekten - in diesem Fall von “Interviewten” - unter Beobachtung.
Für Ergebnisverzerrungen macht Berger jedoch zunächst weniger die “Struktu-riertheit” von Interviews verantwortlich als vielmehr den Einfluss bestimmter, den Interviewern nahegelegten Strategien “motivationssteigernden” Fragerverhaltens (ebd., S. 44-47), was bei den Befragten eine bessere Akzeptanz des “vorstrukturierten” Fragenkatalogs begünstigen bzw. bewirken soll. Er verdeutlicht das u.a. an einem Beispiel, in dem Interviewer auf “Autoritäts-” bzw. “Wissenschaftsgläubigkeit” der zu Befragenden “anspielten” 279, und macht Ähnliches auch für “Motivationsförderung über Sympathie” (mit dem Interviewer) geltend : “Schließlich hat eine Sympathie der Befragten für den Interviewer - der motivationsfördernde Faktor Nr. 1 - mit hoher Wahrscheinlichkeit eine doppelte ergebnisverzerrende Konsequenz : Die Befragten werden dem Interviewer zu Gefallen auch dann antworten, wenn sie zum untersuchten Problem keine Einstellung haben ; sie werden ferner versuchen, Antworten zu geben, die den erwarteten Auffassungen der Interviewer mehr entsprechen. Entstammen die Befrager privilegierten und die Befragten unterdrückten Schichten, wird eine Beziehung gegenseitiger persönlicher Wertschätzung die Antworten weiter an das herrschende Normen- und Wertesystem angleichen.” (ebd., S. 46) 280
Zwar bleibt ein wenig unklar, wodurch genau ein derartiges “Angleichungsver-halten” motiviert wäre. Das Dilemma der Befrager/Befragten-Beziehung würde durch die Erhellung dieses Aspektes jedoch nicht beseitigt 281.
Für Witzel (1982, S. 15) erfährt die “Unschärfeproblematik” eine zusätzliche Verstärkung durch den Umstand, dass viele Sozialforscher sich “lediglich dem `normativen Regelsystem´ (Cicourel) der wissenschaftlichen Forschergemeinschaft verpflichtet” sehen bzw. in welcher Art und Weise gelegentlich vom einzelnen Forscher auf den Wissensbestand der Disziplin zurückgegriffen wird 282.
Hinsichtlich der Erforschung der diversen von Individuen produzierten “sozialen Wirklichkeit(en)” zitiert Witzel das von Blumer formulierte methodologische Postulat : “Die sich aufbauende Handlungssituation (muss) durch die Augen des Handelnden gesehen werden - müssen die Objekte dieser Situation wahrgenommen werden, wie der Handelnde sie wahrnimmt, - müssen die Bedeutungen dieser Objekte so ermittelt werden, wie sie sich für den Handelnden darstellen, - müssen die Leitlinien des Handelnden nachvollzogen werden, wie sie der Handelnde entwickelt. Kurz : man muss die Rolle des Handelnden übernehmen und die Welt von seinem Standpunkt aus sehen.” (Blumer 1966, zit. nach Wilson 1973, S. 61, in : Witzel 1982, S. 15) 283
Dass aber auch im Zusammenhang der z.B. von Girtler favorisierten “freien Feldforschung” der Auftritt des Beobachters gelegentlich Effekte im Sinne der Unschärferelation bei den Beobachteten induzieren kann, bemerkt Haferkamp : “Mit der Entscheidung, kriminelle Gruppen im offenen Feld unmittelbar zu suchen, ist eine Reihe von Problemen verbunden. Diesen Problemen der teilnehmenden Beobachtung ist eins gemeinsam : die Gestaltung der Forscher-For-schungsfeld-Beziehung. Denn Beobachtungen in kriminellen Gruppen sind (....) nicht möglich in der distanzierten Haltung des Laboratoriumsexperimentators. Es tritt dann eine Art soziologischer Unbestimmtheitsrelation auf. Die Tätigkeit des Forschers wird als wissenschaftliche registriert, das Verhalten auf die wissenschaftliche Beobachtung ausgerichtet.” (Haferkamp 1975, S. 73) 284, und er konstatiert : “ Es spricht einiges dafür, dass der Zutritt des Feldforschers bei den Beobachteten ein Verpflichtungsgefühl entstehen lässt, sich des Rufes würdig zu erweisen, der einem diesen Besuch verschaffte, d.h. es werden abweichende Akte produziert, um den Forscher an sich zu fesseln.” (ebd., S. 84) Er schlägt für das Problem folgende “Lösungsmöglichkeit” vor : “Dazu eignet sich nun die Position eines Teilnehmers (als Beobachter, A.d.A.), der sich nicht nur selbst so definiert, sondern der auch von den anderen so betrachtet wird, am besten. Diese Position gehört per Definition zum Feld der Forschungsobjekte.” (ebd., S. 84/85 ; vergl. auch Becker 1981, S. 153)
In der von Girtler (1984, S. 47 ff.) nach Schwartz und Schwartz (1955, S. 344) zitierten “Definition der teilnehmenden Beobachtung” : “Für unsere Zwecke definieren wir teilnehmende Beobachtung als einen Prozess, in dem die Anwesenheit des Beobachters in einer sozialen Situation zum Zwecke wissenschaftlicher Datenerhebung unterhalten wird. Der Beobachter steht in unmittelbarer persönlicher Beziehung zu den Beobachteten, und indem er mit ihnen an ihrem natürlichen Lebensbereich partizipiert, sammelt er Daten. So ist der Beobachter Teil des unter Beobachtung stehenden Kontextes, und er modifiziert nicht nur diesen Kontext, sondern wird auch von ihm beeinflusst.” wird Girtlers Meinung nach “auch das Problem der Veränderung der sozialen Situation durch den Beobachter angesprochen. Besonders in der Phase des Zugangs in die ausgewählte soziale Gemeinschaft spielt diese Frage eine Rolle (...). Daher ist dem Beobachter anzuraten, solche Veränderungen, soweit es ihm überhaupt möglich ist, protokollarisch festzuhalten und zu reflektieren (....).”
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