Thomas Mann an Julius Bab, 28.6.1948. In: Thomas Mann: Selbstkommentare: "Buddenbrooks" ,
Vgl. Rothenberg: Wirklichkeit, S.122
42
Schopenhauer ist der Ansicht, daß, "so sehr auch der Lauf der Dinge sich als rein
zufällig darstellt, er es im Grunde doch nicht ist, vielmehr alle diese Zufälle selbst (...) von
einer, tief verborgenen Notwendigkeit umfaßt werden, deren bloßes Werkzeug der
Zufall selbst ist" (S,VII,224).
Im "Mikrokosmos" der Buddenbrookschen Romanwelt herrscht dieses durch
Notwendigkeit bestimmte Schicksal.
97
Es kommt zu Situationen, "welche einerseits (...)
den Stämpel einer moralischen,
oder inneren Nothwendigkeit, andererseits jedoch den
der äußern, gänzlichen Zufälligkeit deutlich ausgeprägt an sich tragen" (S,VII,224). Jede
dieser anscheinenden Zufälligkeiten erweist sich bei genauerem Hinsehen als Teil eines
Sinn- und Bedeutungszusammenhangs; und oft finden sich an früherer Stelle im Roman
Hinweise auf diese spätere Entwicklung. Den Figuren selbst bleibt diese Erkenntnis
meistens vorenthalten - schließlich können sie in ihrem Leben nicht so beliebig hin- und
herblättern wie der Leser. Nur Thomas und Hanno ist sie an einigen Stellen vergönnt. In
Jeans Worten von der Notwendigkeit des Ratenkampschen Abstiegs zu Romanbeginn
klingt diese Möglichkeit einer Deutung des Romangeschehens erstmals an.
Daß den anscheinend zufälligen Ereignissen immer eine Notwendigkeit zugrundeliegt,
läßt sich besonders gut an den Todesfällen in der Familie zeigen.
Kommt Jeans Tod wirklich so unvorbereitet, wie es für seine Familie und den Leser
den Anschein hat? Warum vollzieht sich das Sterben der Konsulin Elisabeth
Buddenbrook besonders qualvoll und grausam? Ist es, bei genauerer Betrachtung seiner
Vorgeschichte, vielleicht doch nicht ganz so überraschend, daß Thomas "an einem
Zahne" stirbt? Ist der Typhus keine willkürlich gewählte, beliebige Infektionskrankheit,
sondern eine Krankheit, die Hannos Wesen zutiefst entspricht und sich früh in seiner
Biographie andeutet? Alle diese Fragen sollen im folgenden Abschnitt eine Antwort
finden.
Betrachtet man die Folge der Tode im Romanverlauf chronologisch, so fällt auf, daß
der Tod Johann Buddenbrooks d.Ä. und der seiner Frau Antoinette relativ schmerzlos
und unkompliziert vor sich gehen, weil beide sich zu Lebzeiten gegen das Altern nicht
aufgelehnt haben und keine Angst vor dem Tod empfinden
98
: "Der sachliche und
geradlinig denkende Geschäftsmann Johann Buddenbrook senior ist auch im Augenblick
seines Sterbens so mit sich selber einig wie zu aller Zeit; er nimmt so nüchtern Abschied
vom Leben, wie er Geschäfte gemacht hat".
99
Mit zunehmender Komplexität der
Charaktere (Thomas) und wachsender Auflehnung gegen das Altern (Konsulin,
97
Vgl. Lämmert: Interpretation, S.205
98
Vgl. hierzu Felix Höpfner: "Öawer to Moder müssen wi alle warn...". Zur Physiognomie des Todes
in Thomas Manns "Buddenbrooks" , in:
Wirkendes Wort 1 (1995), S.82-111, S.87
99
Paul Fiebig: Objektive Beziehungen zwischen Literatur und Musik. Umsetzungsversuche, vor
allem bei Thomas Mann, Diss. München 1974, S.85
43
Thomas) werden die Tode qualvoller und grausamer, und sie werden auch
schonungsloser dargestellt.
100
Erst die Schilderung von Hannos Sterben erhält wieder
eine neue Qualität, auf die später näher eingegangen werden soll.
Do'stlaringiz bilan baham: