Thema 1: Wesen und Aufgaben der Phonetik. Physiologie und Akustik der Sprachlaute



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Vorlesung Theoretische Phonetik

1. Aussonderung der Probleme.
Es gibt Meinungsverschiedenheiten zwischen den Phonologen, die sich mit den phonologischen Problemen des Deutschen belassen, in folgenden Punkten:
1. Das Problem des phonologischen Status der sogenannten Affrikaten [pf], [ts], [tʃ].
2. Das Problem der phonologischen Selbständigkeit der Laute [ç], [h], [x].
3. Das Problem des velaren Nasals [ŋ].
4. Das Problem des [j].
5. Der phonologische Status des [ʒ].
2. Das Problem des phonologischen Status der Affrikaten.
Die Meinungen der Sprachforscher über das phonetische und pho­nologische Wesen der Affrikaten gehen weit auseinander. Phonetisch sieht man gewöhnlich in den Affrikaten eine enge Verbindung von Verschluß-und Engelaut. Oft versteht man unter einer Affrikate einen Konsonanten, bei dem unmittelbar nach dem Verschluß an der glei­chen Stelle eine Enge gebildet wird.
W. Viёtor100 zählt zu Ihnen nicht nur [pf] und [ts], sondern auch [kv], [ps].
H.- H. Wängler101 betrachtet als Affrikaten [pf], [ts], [tʃ] und [ks ]. E. Sievers102 zählt zu
den Affrikateт [pf] und [ts].
Die Linguisten L. R. Sinder, T. W. Strojewa, O. N. Nikonowa und O.A. Nork vertreten die Ansicht, daß zu den Affri­katen [pf], [ts] und [tʃ] gezählt werden sollen.
Bei O. Zacher heißt es: «Die Affrikate ist ein Engelaut mit einem Verschluß-Vorschlag, der an derselben Stelle gebildet wird, wo man den Engelaut bildet.»103
J. Forchhammer verneint überhaupt die Existenz von Diphthon­gen und Affrikaten im Deutschen.104
Die mono- oder biphonematische Wertung der deutschen Affri­katen wird auch von den Sprachforschern verschieden behandelt. N. S. Trubetzkoy105 war der Ansicht, daß sie als monophonematisch zu wer­ten sind, z. B. Pfeil —feil, Pfand—fand.
Diese Meinung wird von der Mehrzahl der Phonetiker und Phonologen häufig vertreten.106
N. S. Trubetzkoy ging dabei von seinen bekannten vier Regeln aus, die von uns bereits beschrieben worden sind. Deshalb verzichten wir auf sie wiederholt einzugehen.107 Diese Regeln bestehen aus rein phonetischen und distributiven Kriterien und können bei der Segmen­tierung und Identifizierung, die zur Festlegung der kleinsten weiter nicht zerlegbaren Spracheinheiten führen sollen, nicht in Betracht gezogen werden. Darauf wird in letzter Zeit mit Recht hingewiesen.108 Den richtigen Weg in bezug auf den phonetischen Status der deutschen Affrikaten schlug u. E. N. Morciniec109 ein. Auf Grund seiner Untersu­chungen auf syntagmatischer und paradigmatischer Ebene betrachtet Morciniec die deutschen Affrikaten als zweiphonemig. Seiner Meinung nach sollen mit Hilfe der Segmentierung zuerst die kleinsten weiter nicht zerlegbaren Einheiten ermittelt werden. Das geschieht mit Hille der Wortvergleichungen. Die oben von N. S. Trubetzkoy aufgeteilte Opposition leidet nach seiner Meinung an der nicht beendeten Segmen­tierung. Deshalb soll die Segmentierung bis zu Ende geführt werden. Für die Segmentierung und Identifizierung sollen nur die funktionalen Kriterien ausschlaggebend sein, d. h. das Vorhandensein der distink­tiven Funktion, die entweder von der gesamten Lautverbindung oder von ihren Bestandteilen ausgeübt wird. Dabei sollen die distri­butiven Kriterien als zweitrangig bestimmt werden.110
N. Morciniec bringt als Beweis für seine Meinung leidende Bei­spiele:
klopfen—klopsen [f] - [s]
Topf—Torf [p] - [r]
Putz—Putsch [s] - [ʃ]
Klotz—Klops [t] - [p].
Diese Beispiele zeigen, daß beide Teile der Affrikaten getrennt di­stinktiv wirken können. Diese Beispiele dienen als überzeugender Be­weis dafür, daß die deutschen Affrikaten als zweiphonemig gewertet werden müssen.
Bemerkenswert ist das Kriterium der Unteilbarkeit, das von A. Martinet empfohlen wurde. Es ergibt sich aus der Unvertauschbarkeit der beiden Elemente, z. B. Last-Latz: erst—Erz. Auch diese Beispiele sprechen gegen die monophonematische Wertung der deutschen Affrikaten.
Aus bisherigen Erwägungen könnte man schlußfolgern, daß für die phonologische Wertung der in Frage stehenden Lautverbindungen das Kriterium der distinktiven Funktion in derselben Umgebung und das morphologische Prinzip, das von L. R. Sinder111 benutzt wird, von entscheidender Bedeutung sind. Die anderen Kriterien,112 auf die wir bereits oben eingingen, ergänzen diese zwei Hauptkriterien, aber sie können den phonologischen Status der Sprachlaute kaum entscheiden.



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