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Funktion der Benennung verschiedener Subjekte und Objekte einer natürlichen
und künstlich geschaffenen (kulturellen) Welt, der Eigenschaften dieser
Subjekte und Objekte, der Prozesse, Zustände, Beziehungen, Situationen usw.;
Funktion der Verschriftlichung von Ergebnissen der Kategorisierung
außersprachlicher Tätigkeit;
Funktion der Orientierung in der sozialen Interaktion (vgl. Grishayeva/Tsurikova
2007, S. 74).
Das Weltbild erklärt sich als mentale Repräsentation der Kultur. Weltbilder haben
charakteristische Eigenschaften wie z. B. Komplexität,
Vielfalt der Aspekte,
Geschichtlichkeit, Interpretationsvielfalt und Fähigkeit zur Entwicklung.
Somit wird unter dem Terminus
Weltbild
im Allgemeinen die Gesamtheit des Wissens
über die Wirklichkeit verstanden, die im Bewusstsein einer Gesellschaft, einer Gruppe
oder eines Individuums vorhanden ist.
Das sprachliche Weltbild ist dagegen die Gesamtheit der Weltvorstellungen,
verwirklicht im System einer bestimmten Sprache. Es gilt als Schatzkammer des
Kulturwissens und wird als verbaler Code von Generation zu Generation übermittelt.
Das
sprachliche Weltbild
als Begriff der Sprachwissenschaft hat ihren Ursprung bei
Wilhelm Humboldt (1935 [1836]) und später bei Leo Weisgerber (1950),
die den
sozialen Charakter der Sprache hervorhoben und sie als entscheidende Rollenträgerin
in der Entwicklung der Kultur sahen.
Leo Weisgerber, der von der Linguokulturologie als Begründer der inhaltsbezogenen
Sprachwissenschaft rezipiert wird, weist bereits 1924 in seiner Habilitationsschrift mit
dem Titel „Sprache als gesellschaftliche Erkenntnisform. Eine Untersuchung über das
Wesen der Sprache als Einleitung zu einer Theorie des Sprachwandels“ auf den
sozialen Charakter der Sprache hin. Seine Schrift trug anfangs den Titel
„Sprachwandel als Kulturwandel“, da der Autor die Entstehung und Entwicklung einer
Kultur mit der Sprache eng verbunden sah, wie er mehrfach in seiner Schrift betont
(vgl. Weisgerber 2008 [1924], S. 7-11). Die zentralen Fragen seiner
sprachwissenschaftlichen Untersuchung sind jedoch: Welchen Einfluss hat die
Sprache auf das Volk? Was ist der Einfluss des Volkes auf die Sprache? So schreibt
Weisgerber über das Verhältnis von Sprache und Volk bzw. Kulturgemeinschaft:
„
Der Begriff ‚Volk‘ läßt sich nur als ‚Kulturgemeinschaft‘ umschreiben, und zwar als
Gemeinschaft, die im Gegensatz zur staatlichen Gemeinschaft durch die gemeinsame
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Sprache gekennzeichnet ist.
“
(Weisgerber 2008 [1924], S. 202)
Weisgerber lässt sich in seinen Werken sowohl von Herder (vgl. Weisgerber 1950, S.
9) als auch von Wilhelm von Humboldt inspirieren, wenn er von der „
wirkenden Kraft
der Sprache
“ (ebd.: S. 14) spricht:
„
Sicher ist Humboldt diese Seite der wirkenden Kraft der Sprache durchaus bewußt
gewesen, und wenn er einmal die Sprache als ‚eine der hauptsächlich schaffenden
Kräfte in der Menschengeschichte‘ bezeichnet, so denkt er dabei nicht zuletzt an die
unaufhörlichen Einflüsse, die von der Sprache auf das Kulturschaffen ausstrahlen.
“
(Weisgerber 1950, S. 14)
Er betont die Beziehung Mensch-Sprache-Welt. Später, in seiner 1963 erschienenen
Schrift „Grundformen sprachlicher Weltgestaltung“, schreibt er erneut von der
Bedeutung der Sprache im menschlichen Leben:
„
Wenn alles Sprachliche auf Erden auf die dem Menschen eigene Möglichkeit der
Sprache zurückgeht, dann ist es primär als Wirkungsform menschlicher Sprachkraft
anzusehen. Das gilt gleichermaßen für die drei Grundtypen sprachlicher Phänomene
gemäß ihrer Bindung an Menschheit, Gemeinschaft oder Individuum.
“
(Weisgerber 1963, S. 7)
Seine These fand allerdings wenig positive Resonanz: Man kritisierte
seine
„
Übertreibung der gemeinschaftsstiftenden Rolle der Sprache, die immer als
Muttersprache oder Nationalsprache gedacht wird
“ (Römer 1985, S. 163). Denn die
eigene Muttersprache spielt laut Weisgerber bei der sprachlichen Weltgestaltung eine
ausschlaggebende Rolle:
„
Muttersprache als Erscheinungsform gemeinschaftlicher Entfaltung von Sprachkraft
hat vollgültigen Anteil an dem energetischen Grundcharakter der Sprache.
Insbesondere ist ihr ‚Dasein‘ zu verstehen als dauerhafter Vollzug sprachlicher
Weltgestaltung, das ‚Worten der Welt‘, so ist eine Muttersprache der Prozess des
Wortes der Welt durch ihre Sprachgemeinschaft.
“
(Weisgerber 1963, S. 8)
Nach dem zweiten Weltkrieg erntete Weisgerber weiterhin sowohl von marxistischer
als auch von westdeutscher Seite reichlich Kritik. Der Sprachwissenschaftler
Christopher Hutton (1999) nannte Weisgerbers sprachwissenschaftlichen Ansatz in
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seiner „Geschichte der deutschen Sprachwissenschaft“ während der Jahre 1933-1945
mother-tongue fascism
, während Weisgerber selbst nach 1945 seine
sprachwissenschaftlichen Beiträge aus der Zeit des Nationalsozialismus als implizit
antirassistischen und antinationalsozialistischen Widerstand verstanden wissen wollte
(vgl. Weisgerber 1967, S. 36f.). Unumstritten ist jedoch, dass Weisgerbers Werke
wesentlichen Einfluss auf die Sprachwissenschaft und speziell auf das Fach
Germanistik hatten. Heutzutage wird Weisgerber vornehmlich von russischen
Sprachwissenschaftlern zitiert.
Das sprachliche Weltbild hat in der Linguokulturologie drei Aspekte:
Kognitiver Aspekt, d. h.
das Weltwissen, das sich in der lexischen und
grammatischen Semantik einer Sprache manifestiert;
Axiologischer Aspekt, d. h. ein Wertesystem, das verbal in assoziativen und
konnotativen Wortkomponenten einer Sprache zum Ausdruck kommt;
Motivationspragmatischer
und kommunikativer Aspekt, d. h. Prinzipien des
Redeverhaltens, Stereotype, motivationspragmatische Einstellungen.
Die Methode des Konzeptualisierens, nämlich verschiedene sprachliche Konzepte
einer Kulturgemeinschaft zuzuordnen, ist ebenfalls Instrument des sprachlichen
Weltbildes, das sowohl universal als auch national spezifisch sein kann. Die Spezifik
der Nationalsprachen ist wie die Spezifik des nationalen
Bewusstseins durch den
besonderen Inhalt und die spezifische Lebensart, die Bedingungen der Umwelt und
der Gesellschaft, die materielle und geistige Kultur bedingt. Diese Aspekte werden auf
verschiedenen Ebenen der Sprache fixiert.
Somit geht die Linguokulturologie davon aus, dass jede Kulturgemeinschaft über ein
eigenes, national spezifisches sprachliches Weltbild verfügt, welches das Verhältnis
jedes Menschen zu Welt und Natur, zu den Mitmenschen und schließlich zu sich selbst
als Persönlichkeit prägt, wodurch die Verhaltensnormen einschließlich des
sprachlichen Verhaltens des Menschen bestimmt werden.
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