Mein krieg aufzeichnungen aus 2129 Tagen



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1941
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DEM KRIEGE FAST ENTLAUFEN

[Aus dem Notizkalender:J

4.-10. Januar 41. An Rothe in Überlingen geschrieben, ob er eine Wohnung für uns finden kann. Die Evakuierungen aus Berlin werden immer planmäßiger durchgeführt, und alle Welt erwartet eine starke Welle von Angriffen im Frühjahr. R. antwortet sehr freundlich, und E. wird dort bestimmt gut unterkommen.

In Frankfurt (Oder) erwarten mich völlig unveränclerte Verhält- nisse. Ich schreibe sogleich intensiv am Brief-Ms. Weiter und bin nach einer Woche fertig. Das Ms. Geht an Rothe und andere. Auch am Kriegsbuch [der Truppe] wird weitergearbeitet. Man spricht von einer baldigen Änderung unserer Lage, aber Hptm. V. Bis- sing versichert mir, »das Ei sei noch nicht gelegt«. Wir haben noch kaum einen neuen Wagen für unsere Motorisierung. Das schlimm- ste wäre eine Umsiedlung auf den Truppenübungsplatz Wandern (40 km ostwarts von Ffo.). Unser neuer Vers: Solche, die im Trü- ben fischen, wird der liebe Gott erwischen. - 13. Januar 41. Ich bin nach Abschluß der Briefe in einem luftleeren Raum. - 14. Ja- nuar 41. Lese Klages, Graphologie. - 15. Januar 41. Es deutet sich die Möglichkeit an, daß ich ins Heeresarchiv (nach Potsdam) muß, um Akten abzuschreiben. Das bedeutet längeren Sonntags- urlaub. - 16.Januar 41. Es klappt mit Potsdam, ich fahre morgen (bis Mittwoch) nach Berlin. - zo. Januar 41. Sehr zustimmencler Brief von Rothe zum Manuskript. - 23. Januar 41. Ganz gleich- mäßiges Leben in Ffo. Immer am Aisne-Kapitel der »Kriegs- chronik« geschrieben. Kino >>Operette« mit Willi Forst. Lese Na- poleonbriefe, Emil Ludwig: Wilhelm IL, Renn: Der Krieg!!! (viel besser als Remarque), Rolland, Proust. - 2.7. Januar 41. Mit Bertram in den ausgezeichneten Film »Der Postmeister« mit George und Hilde Krahl. - 29. Januar 41. Aisne-Kapitel abends fertig, Gott sei Dank. Werde Freitag nach Berlin fahren kön- nen. ~ 3. Februar 41. Mittags kommt das Ms. Von Rothe mit klei- nen Änderungsvorschlägen zurück. Ich bringe es zum Abschreiben weg. Ich lese die Herzogin von Guermantes [Proust] und bin fasziniert. - 5. Februar 41. Unser Leutnant Meyer besucht uns überraschend, findet uns bei cler Arbeit. Ich soll auf seiner Hoch- zeit die Orgel spielen. Grund für einen Urlaub.

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[Von Carl Rothe]

Überlingen, 16. janaar 41. Kurz, daß ich gestern Ihre »Briefe« erhielt. Ich las sie noch in der Nacht ~ hei den letzten Seiten, wo Sie die Begegnung mit Romain Rolland schildern, von Schaaern des Kammers, ja mehr noch _ _. geschüttelt. Ich hahe nämlich noch immer nicht den zehnten Mai [Beginn des ››Frankreich-Feld- zuges«] nerwunden, und wieder und wieder jagt mich die Frage, warum alles dies so kommen mußte – mußte? Ihre Briefe rie- fen alles wieder wach. Ihre sehr schönen und inhaltsreichen Briefe. Ich werde sie noch eiriigemal lesen und Ihrıen sehr lıald ausführlich schreihen. Vielleicht lrin ich ein schlechter Kritiker für Sie, denn ich hahe eine große Schwäche für die Art, wie Sie die Dinge anleachten.

Dieses Manuskript wird Ihnen aus der Hand gerissen werden.

[Aus dem Notizkalender] :

6. Februar 41. Bekomme einen Brief von der Reichsschrifttums- kammer wegen Buchhärıcller~(Verleger-)Exarnen und beantrage vier Wochen Urlaub. Deshalb schon wieder nach Berlin. - 14. Fe» bruar 41. Heute nachmittag nach Berlin mit neuem Urlaub bis Mittwoch, teils, weil ich auf der Hochzeit des Leutnants Orgel spiele, teils um zu arbeiten für das Examen bei der R.S.K.

[Reichsschrifttumskammer]. - 16. Februar 41. Im Grand-Hotel in Potsdam zum Geburtstag von Traub eingeladen. Viele fremde adelige Leute, Unterhaltung mit H. v. Mackensen, dem Sohn des Feldmarschalls. Abends v. Nasow [Schriftsteller] kurz bei uns. - 17. Februar 41. Mittags kommt Bertram und zeichnet die Braut des Leutnants. ¬ 18. Februar 41. Bild gerahmt für die Braut.

Um 3 Uhr Frankfurter Allee, dann Glaubenskirche in Lichtenf berg, Trauung, Schleier und Uniform. Ich spiele Pastorale und Schlußfuge. Zum Kaffee mit vielen Torten eingeladen. - 28. Fe- bruar 4 1 . Nachmittags nachßerlin mitUı'laub bis 1 . April. Jetztbe- ginnen die Vorbereitungen für die Umsiedlung nach Überlingen, An Nachrichtenabteilung 3 (mot), Frankfurt/Oder

6. Februar 41

Betr.: Beurlaubung zum Zwecke der Berufsausbildung.

Laut Mitteilung der Reichsschrifttumskarnrner vorn 4. 1.. besteht die Möglichkeit, daß ich die Gehilfenprüfung als Buchhändler in Rücksicht auf meinen Wehrdienst ohne vorherigen Besuch der 78

Reichsschule des Deutschen Buchhandels am 29. oder 30. 3. 41 vor dem Landesleiter der Reichsschrifttumskarnmer in Berlin ab- lege. Gemäß den bestehenden Bestimmungen ist die weitere Aus- übung meines Berufes nach Beendigung des Krieges von dieser Prüfung abhängig, durch die ich ordentliches Mitglied der Reichs- schrifttumskammer (Gruppe Buchhandel) werde, Es ist daher für mich von größter Wichtigkeit, von dieser Gelegenheit Gebrauch machen zu können, um nicht nach Jahren der durch den Krieg verursachten Unterbrechung der Berufsausübung weitere Zeit durch den Besuch der Reichsschule zu verlieren.

Ich bitte daher die Abteilung, unter Bezugnahme auf die für die Wehrmacht geltenden Bestimmungen betr. Förderung der Berufs- ausbildung während des Krieges, mich zum Zwecke der Vorberei- tung auf das Examen vom I. März bis I. April zu beurlauben.

[An Dr. jürgen Eggebrecht]

Berlin, 1;. Februar 41. Sehr verehrter Herr Dr. Eggebrecht, rnit diesem Brief übergebe ich Ihnen ein Manuskript, das unter dem Arbeitstitel »Kriegsfahrt durch Frankreich« eine redigierte Zu- sammenstellung meiner Kriegsbriefe enthalt. Noch während ich in Frankreich war, hat meine Frau in Freundeskrcisen aus diesen Briefen vorgelesen, und als ich zurückkam, wurde ich von den verschiedensten Seiten angeregt, eine Veröffentlichung vorzu- bereiten. Nun, da die Briefe in dieser geschlossenen und gereinig« ten Form vorliegen, meine ich selbst, daß das Buch einige Leser finden wird, und ich bin zufrieden, daß mir der Winter Zeit zu dieser Arbeit gelassen hat.

Es wäre mir auf jeden Fall wertvoll und wichtig gewesen, von Ihnen ein Wort über das Manuskript zu erfahren; ich bedauere sogar, daß Ihre amtliche Eigenschaft es mir untunlich erscheinen läßt, in diesem Falle die persönlichen Worte zu finden, die ich sonst diesem Manuskript mitgegeben hätte. Aber ich darf Ihnen versichern, daß es nicht nur der Zensor ist, dem ich diese Briefe vorlege.

Es ist jedoch auch der Zensor, den ich bitte, sich der Mühe zu un- terziehen, diese Seiten zu lesen und mir die Unbedenklichkeit zu bestätigen oder mich auf Wendungen aufmerksam zu machen, die zu Mißdeutungen Anlaß geben könnten, so daß ich dem Ver- leger diese Mühe der Zensurvorlage durch einen Brief von Ihnen 79

abnehmen kann und so den Vorgang der Buchwerdung beschleu- nige. Meine Truppe wird wohl demnächst wieder in Bewegung kommen und ich hätte doch gerne vorher das Ms. Unter Dach und Fach gehabt – man kann ja nicht voraussehen, was geschieht.

[An den Paul List Verlag, Leipzig]

Berlin, 22. Februar 41. Sehr geehrte I-Ierren, ich übergebe Ihnen mit diesem Brief ein Manuskript, das unter dem Arbeitstitel »Kriegsfahrt durch Frankreich« eine redigierte Zusammenstellung meiner Briefe aus Frankreich enthält. Ich bitte Sie, sich durch die Flut derartiger Veröffentlichungen nicht davon abhalten zu las- sen, das Titelblatt des Ms. Umzuschlagen. Zum mindesten unter- scheidet es sich in der Haltung von jeder Form des heldischen Geschwätzes.

Sollten Sie eine Veröffentlichung in Erwägung ziehen, so ist es nicht notwendig, daß Sie sich über die Stellung des Zensors zu diesem Ms. Gedanken machen. Dessen Zustimmung hoffe ich auf unmittelbarem Wege einholen zu können.

Ich wäre Ihnen für eine baldige Antwort dankbar, da sich meine Truppe in nächster Zeit zur Eröffnung ihrer Frühjahrskriegs- saison in Bewegung setzen wird und ich das Buch gerne vorher unter Dach und Fach hätte.

[Die im Jahre 1975 zur Veröffentlichung ausgewählten Teile meiner Kriegsaufzeichnungen und -briefe sind selbstverständlich nicht identisch mit jenen, die ich im Winter 1940/41 für »Kriegs- reise durch Frankreich« zusamrnenstellte. Es findet sich dort kein Satz, der mich durch seinen Inhalt, seine verbal fafšbare Aussage der Staatspolizei ausgeliefert hätte. Aber es konnte sich darin auch kein Satz finden, der den Tonfall gehabt hatte, in dem die Deut- schen öffentlich und privat sprachen.

Indem ich zustimmende Freundes-Urteile von damals in die Texte dieses Buches aufnehme, könnte man mir vorwerfen, ich lie- ferte für die Kritik eine Sprachregelung gleich mit. So ist es gewiß nicht gemeint. Es würde aber das Bild der Zeit, das dieses Buch vermittelt, verzerren, wenn ich den Eindruck erweckte, ich hätte alleingestanden.]

4. Februar 41. Von Rothe heute einen neuen, drei Seiten langen Brief zum Manuskript. Was er an einzelnen Korrekturen vor- schlägt, ist vernünftig, manches hatte ich ganz ähnlich im Sinn.

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Aus dem allgemeinen Schmus folgende Zitate:

››. _ . so fiihrt das persönliche Erlebnis doch noch eine besondere Sprache, und das ist das Fundament Ihrer schönen und – ja! - rein dichteríschen Briefe . , . Man 'vergißt darüber den Krieg, der Anlaß zu ihnen gab. Die Dosis, mit der Sie Ihre Meinung aus- sagen, ist wirklich so, wie Sie mir in einem Brief schrieben: du/3 leemrn Zensur die Schlupffwinleel aufstöbern können wird. Und schließlich das 'verdiente und genialisehe Gliic/e der Begegnung [mit Romain Rolland], mit der Sie schließen – der Geist behält das letzte Wort auch über diesen Krieg. Sie zitieren zweimal Cé- zanne und zweimal Bach, 'von beiden haben Ihre Briefe das Be- clingende, Farbe und Ton.«

Mir ist es komisch,so etwas über mich zu lesen, come down möchte ich sagen. Nicht daß ich nicht wüßte, wie ich in dieser Landschaft stehe, aber ich sehe das nicht literarisch, sondern existentiell. Gut, ich schreibe, aber das sind Briefe, die meisten an Dich, und wäh- rend ich schreibe, denke ich nicht eine Sekunde daran, Formen hinzustellen. Ich teile etwas mit, der Unterschied zwischen Briefen Tante Olgas an eine Kaffeefreundin und meinen ist nur der, daß ich mir bewußt bin, daß Fakten, manchmal auch Stimmungen und Meinungen, festgehalten werden müssen nicht nur, damit Du sie erfährst, sondern auch, weil sie Verhältnisse widerspiegeln, die unter gar keinen Umständen spurlos verschwinden dürfen. Bräche nachher das Paradies aus, dürften, sollten wir alles so rasch als möglich vergessen. Das Paradies bricht aber nicht aus. Das Ende dieser Herrschaft zerbricht nicht die Linien dieses Jahrhunderts.

Das Individuum bleibt ausgeliefert, Vernunft Mangelware, nicht mal auf Karten zu haben.

[An Carl Rothe, Überlingen]

4. Februar 41. Die Morgenpost hat Ihren Brief gebracht. - Sie haben mich in Dankesschulden gestürzt. Daß Sie den Briefen Lobendes nachsagen, freut mich. Mehr noch die Kritik im einzel- nen, die ich beherzigen werde. Einen Titel will ich erst ausbrüten, wenn ein Verleger gewonnen ist.

Wir stehen ohne Zweifel am Vorabend der Ereignisse. Leider ist der Kanal [der Ärmelkanal] so tief, man kann ihn mit Leichen nicht füllen und darübermarschieren. Wir trafen Leute, die ziem- lich nahe dem oberen Ende der Pyramide sind und auch sonst 81

nicht ganz dumm, die sehen es rein als militärisches Problem, die Sache dauere diesmal zwölf Tage und dann sei Schluß [Beset- zung Englands]. In Hamburg werden bereits Firmen für Export nach Südamerika gegründet, einer hat eineinhalb Millionen in dieses Geschäft gesteckt, im Herbst soll der Handel blühen. Dem, der mit uns sprach, machte gerade das Eindruck, daß die Kauf- leute, die doch so genau Bescheid wiíßten, sich auf die optimisti- sche Seite würfen. Ich sagte ihm, daß die Kaufleute die größten Esel immer gewesen seien in außergewöhnlichen Zeitläufen, Gründerkrach, Schwarzer Freitag in den USA, usw. - Beispiele dafür, daß Kaufleute, mögen sie in ruhigen Zeiten noch so ge- schickt scin, gar keine tieferen Einsichten haben.

6. Februar 41. Du scheinst nicht bemerkt zu haben, daß der wert- vollste Inhalt Deines Briefes das Schreiben der Reichsschrifttums- kammer ist. Da bahnt sich ein Urlaub an gemäß den Bestimmun- gen über Förderung der Berufsausbildung. Vom 1. März bis

I. April – Wär das nichts? Die Arbeit für die Prüfung würde mich keine Woche beschäftigen. Ich muß das Formular jetzt zum Ver- lag schicken. Steiniger kann es an die Kammer weiterleiten.

Ferner Will die Organisation eine Liste von zehn Büchern, die ich in letzter Zeit gelesen habe. Wenn ich diese Liste wahrheitsgetreu aufstelle, werden sie an meiner weiteren Berufsausbildung kein Interesse mehr haben. Ich koche ihnen einen schönen Brei zusam- men, unter anderem wird ››Michael« von Goebbels draufstehen; diese expressionistische Jugendsünde hat mit dem N. S. inhaltlich nichts zu tun, aber gegen den Verfasser können sie nichts haben, und ich möchte wetten, daß der Kammer noch von keinem Kandi- daten eine Liste vorgelegt wurde, auf der ›>Michaek< genannt ist.

Das Buch ist längst nicht mehr im Handel.

[Die hier abgedruckte, für die Reichsschrifttumskammer bestimm- te Liste zeigt, daß ich ››Michael« dann doch nicht aufgenommen habe.]

Frankfurt, zo. Februar 41

ro Bücher,

die ich in den letzten Monaten gelesen habe:

(Ich zitiere die Titel aus dem Gedächtnis und wahrscheinlich un- vollständig, da ich im Militärdienst stehe und keine Gelegenheit habe, nachzuschlagen.)

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r. Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges

2. Hans F. K. Günther, Der nordische Gedanke

3. Lechler, yooo Jahre Deutschland

4. Ina Seidel, Unser Freund Peregrin

5. Weinheber, Vereinsamtes Herz

6. Thomas Wolfe, Strom und Zeit, 3 Bd.

7. Kurt Kluge, Der Herr Kortürn

8. Adam Kuckhoff, Der Deutsche von Bayencourt

9. Zillich, Zwischen Grenzen und Zeiten

to. Ortega y Gasset, Aufstand der Massen.

zz. Februar 41. Heute war ich mit Bertram im Film »Sieg im Westen« - Du mußt ihn Dir wegen einer Szene anschauen: es wird ein Soldat gezeigt, der auf der Orgel der Kathedrale von Laon spielt. Ich bin es nicht, aber Du hast genau die Situation, in der ich mich befand. Der Soldat spielt etwas anderes, als der Ton Wiedergibt. Das läßt die Stellung der Hände und die Bewegung der Finger erkennen. Nicht einmal in einer so einfachen Sache können sie zuverlässig sein.

Im Kriegsfilm waren kleine Schulkinder, und als ein Dorf, von schweren Bomben (oder Granaten) getroffen, in der Luft herum- wirbelte, hatten sie viel Spaß, als wären sie im Kasperletheater.

Bertram hat in unserem Arbeitsraum Fotos von Maillol-Plastiken aufgehängt. Von den Wänden herab wirken sie noch stärker, als wenn man nur die Mappe durchblättert.

[Meinen »Arbeitsurlaub zwecks Abschluß der Berufsausbildung« (März 1941) benützen wir, um die Berliner Wohnung aufzulösen, bleiben aber im Vertrag. Die kleine Wohnung am Bodensee über- nehmen wir möbliert. Die eigenen Sachen und den umfangreichen Besitz von emigrierten Freunden, den ich bis dahin in Berlin ein- gelagert hatte, darunter zwei Flügel, verstecken wir in Zimmern verschiedener Bauernhäuser im Dorf Ricklingen bei Salem, die wir auf Kriegsdauer mieten. Wir suchen diesen Ort auf einer Ge- neralstabskarte aus, weil er weder an einer Eisenbahn noch an einer Durehgangsstraße liegt und für Bombenflieger demnach un- interessant ist. Die Holzschuhproduktion meiner Frau wird zu- nachst von meiner Schwester in Berlin weitergeführt, dann nach Überlingen verlagert, bis die Schwierigkeiten so groß werden, daß sie eingestellt werden muß. Dod1 gerade in der Zeit, in der wir 83


Berlin verlassen, entwickelt sie sich gut, Modezeitschriften bringen Berichte darüber.]

[An die Mutter]

Berlin, 2. Marz 41. Bestelle für den 14. bitte schon jetzt Zimmer für uns in der Pension A. [in Müncl-ien], die Menge der norddeut- schen Auswanderer läßt es ratsam erscheinen. In Überlingen ist alles gut vorbereitet, ein vorzüglicher Arzt vorhanden und durch Rothes eine freundliche Umwelt. Rothe hat sogar aus dem Ma- nuskript meiner für die Veröffentlichung vorbereiteten Kriegs- briefe in einer größeren Gesellschaft vorgelesen, um, wie er sagte, Edith einen guten Startplatz zu bauen. Was wir dort haben wer- den, ist nur eine ausgebaute Mansarde, aber hoch über dem See schwebend mit Blick bis zum Säntis hinüber. Weinberge nebenan.

29. März 41, Berlin. Heute früh von ro-I mußte ich fünf Klau- surarbeiten in der Hardenbergstraße nachschreiben, und heute nachmittag von 2-6 war mündliche Prüfung. Sie haben gar kei- nen dummen Kram gefragt (Politik etc.), sondern nur Verlags- technisches, Gesetze usw., ich war erstaunt, was ich alles wußte.

Im ganzen war es vernünftig. Man sagte mir nachher etwas Lo- bendes und gab mir das Zeugnis.

Mit Jugoslawien wird es doch Krieg geben, d. h. ich vermute, die Kroaten rufen eine Separatregierung aus, unterstellen sich »deut- schem Schutz«, das übrige Land besetzen wir per kleinem Krieg.

In der Wohnung fand ich drei oder vier Anfragen von Bildfir- men, sie wollen Aufnahmen von Deinen Schuhen machen, aber nur mit Dir zusammen für Berichte: Deutsche Frau im Krieg. Da Du nicht da bist, könnte vielleicht Lisl figurieren, sie sieht so teutsch aus.

30. März 4x, Berlin. Ich sitze im großen oberen Eckzimmer auf dem Fichteberg [Haus der Schwiegereltern] nach gutem Abend- essen und etwas Unterhaltung. Der Krieg rnit Rußland, allen Leuten, die ein wenig informiert sind, als nahe bevorstehend ge- wiß, wirkt auch hier deprimierend. Daran, daß Einzelentwicklun- gen des Krieges solche Wirkung tun, ermesse ich, wie sich doch die meisten noch optimistischen Erwartungen hingeben. Als wäre die Entwicklung eine militärische Frage. Daß die wenigen Nicht-Ver rückten nicht begreifen, daß das Volk verrückt geworden ist, be- deutet eigentlich, daß sie auch verrückt sind.

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Übermorgen geht Ernst (jüngster Bruder von E. K.-Sch., der mit 18 in Rußland fiel] zum Regiment – das liegt Deinen Eltern sehr auf.

Dich an einem der ruhigsten Plätze der Welt zu wissen, ist doch sehr gut. Ein Beweis für die allgemeine Verrücktheit ist auch, daß uns viele für verrückt halten, weil wir glauben, man dürfe nicht länger in Berlin bleiben. Der allgemeine Schwachsinn ist ein be- deutender, würde eine bedeutende Person des Reiches sagen, wenn sie die Natur des Schwachsinns begriffe. In diesem Fall hätten wir in Berlin bleiben können. Ich frage mich manchmal, ob Irren- ärzte durch ihren Beruf zur Ironie neigen.

Wie mir Lisl sagt, finden sich für Deine Schuhe ganz feine Kun- dinnen ein: Frau v. Collancle, Gisela Uhlen – also von der Sorte.

Eggebrecht ist aufgerührt durch das Manuskript und scheint jetzt besser zu ziehen. Er will mich dem obersten Kommandeur der Propagandakompanien empfehlen, und ich diktiere heute früh vom Fichteberg aus seiner Sekretärin telefonisch meinen Lebens- lauf, der mögliche Zuhörer in anstofšcnden Zimmern nicht schlecht amüsiert haben dürfte. Was ich wirklich tun wiirde, wenn Egge- brechts Initiative in dieser Richtung Erfolg haben sollte, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Aber ich hätte mir ja vor Prüm auch nicht vorstellen können, daß ich dort einen Winter lang Mu- sik machen würde, statt das Vaterland zu verteidigen. In unseres Herrn Narrenhaus sind viele Wohnungen und Notquartiere.

[Aus dem Notizkalenderı]

Wieder Frankfurt, 3. April 41. Ich halte abends einen Vortrag über die politisch-militärische Lage im Gasthaus, wo die Leichte Kolonne einquartiert ist, und nur für diese. Ich sage ziemlich offen meine Meinung.

{Zu diesem ››Vortrag«, dem einzigen, den ich bis zur Gefangen- schaft als Soldat gehalten habe, liegen handschriftlich aufgezeich- nete Stichworte vor. Ich sagte offen, ich glaubte an Krieg mit Ruß- land. Wäre ein Offizier anwesend gewesen, so wäre mir diese Äußerung nicht durchgegangen. Nur die völlige Inkompetenz meiner Zuhörer bewahrte mich vor unabsehbaren Konsequenzen.

Hier die Stichworteı]

Politische Lage

Jedes Teilproblem steht im Zusammenhang mit der gesamten Weltlage.

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Im Brennpunkt steht im Augenblick Jugoslawien

Agram Bauernpartei, Nationalpartei

Einigungsbestrehungen, Alexander, Innenpolitik.

Heißes Eisen, da eigentlich italienische Einflußsphäre. Noch 1938 wäre jedes Eingreifen in Ju. Ein Kriegsgrund für England gewe- sen.

Von allen Seiten Einmarsch. Serbisches Landheer ausgezeichnet.

Marine unwesentlich: 6U-Boote, 1 moderner ioooo-t-Kreuzer, 3 kl. Kreuzer, 1 Hilfskreuzer, Schulschiffe.

Hauptproblem Rußland und der Balkan:

Änderung des Gesamtplanes seit vorigem Herbst. Vorläufige Auf- gabe des lnvasionsplanes [gegen England], da Flotte und Luft- flotte noch intakt. Versueh der Blockade. Zerstörung der engl.

Macht im Mittelmeer versucht. Ziel: Sperrung des Suezkanals und der Straße Sizilien~Afrika, Abtrennung der östl. Halfte.

Rücken- und Flankenhedrohung durch Rußland ~ das zentrale Problem.

Massierung deutscher Truppen an der russ. Grenze. Bau des Ost- walls, Bau der Luftschutzeinrichtungen. Ukraine und Ölquellen am Kaukasus.

Griechenland: wahrscheinlich rücken die Bulgaren ein. Schutz der bulg. Grenze durch unsere Panzer.

Türkei: Papens Tätigkeit möglicherweise erfolgreich-durch jugosl. Widerstaiıd neuerdings versteifte Haltung.

Spanien: eine Öde, auf der die letzten Reste eines kriegeri- schen Volkes hungernd und frierend herumirren.

Widerstand der Falange (radikal) gegen Franco.

Italien: Deutschenhaß geringer geworden, seit wir in Afri- ka helfen. Baut aber weiter an der Befestigung

längs der Alpenfront. Fängt erst an, Karten für

Wollstoffe und einige Lebensmittel einzuführen.

Schweiz: sehr vorsichtig geworden. Presse antideutsch.

Frankreichs Schwäche ist während des Krieges seine Stärke. Flotte und Kolonialheer intakt. Marokko prodeutsch, Sy-

rien wankelmütig, hat de Gaulle empfangen. Bau

der Saharabahn. Lebensmittelhilfe.

Indoehina durch Japan auf unserer Seite gehalten, gestattet aber Durchlaß von Kriegsmaterial nach China.

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Holland, Belgien, Dänemark, Norwegen führen Listen über die Familien, die mit Deutschen verkehren. Ernäh-

rungslage noch gut.

Schweden: Erhöhung der Wehrkraft um 1oo°/o. Liefert Eisen- erze, wenig Nahrungsmittel.

Das OKW BNTDECKT DEN GEFREITEN E. K.

10.April 4ı. Der Verlagsvertrag [über »Kriegsreise durch Frank- reich«] von List ist heute gekommen. Der Begleitbrief beginnt: »Sehr geehrter lieber Herr Kuby« - das geht ein bißchen schnell mit der Familiarität! Wenn das Buch, wie vorgesehen, für 6,10 verkauft wird, verdienen wir an den ersten ıoooo Exemplaren brutto etwa g7c›o Mark.

Seit einem halben jahr habe ich, heute zu H.s Geburtstag para- dierend, zum ersten Male wieder ein Gewehr in der Hand ge- habt uncl damit komische Bewegungen ausgeführt.

Gestern bei Froweins in Berlin [Freunde,die auch nachÜberlingen gingen] lag Rothes Weimarer Rede gedruckt auf dem Tisch. [Carl Rothe hatte auf einer großen Schriftsteller-Tagung in Weimar die Festrede gehalten] Owei, owei, nein, da tu ich nicht mit. Und das von ihm, der von früh bis spät in der Antithcse lebt! Wer zwingt ihn denn dazu? Stil und Inhalt ganz dürftig, das auch noch, der erste Satz wie einer der umständlichsten Schreibsätze von Thomas Mann, rg Zeilen lang, niemals ein Rede-Anfang, und verworren dazu! Diesen Th. M. vergleicht er dann mit Ca- rossa, beschimpft Th. M., verhimmelt C., und so geht es fort.

Laß Dir den Text doch geben, und sei dann diplomatisch. Er ist doch – ich wollte sagen: ein grundanständiger Mensch, natürlich ist er das, und doch zögerte ich. Warum, umHimmels willen, hält er so eine Rede??

zr. April 41. Zu Deinen Haushaltssorgen muß ich Dir eine Stelle aus den Hofmiller-Briefen abschreiben. Ich schickeDir alleßände, sobald ich sie fertig gelesen habe. Rgzo schreibt er an seine Frau, die, obwohl noch erholungsbeclürftig, zurückkommen will des Haushalts wegen: »Alles in der Hand haben wollen ist's, was 87


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