B. 8. Das Subversionsmodell in der Pop-Kultur
Da das Madonna-Phänomen auch immer in engem Zusammenhang mit einer sexuell-revolutionären Attitüde steht und da auch später noch auf die möglichen Auswirkungen der kulturell aktivierten Kräfte eingegangen werden soll, müssen zunächst die subversiven Möglichkeiten in der Popkultur im Allgemeinen betrachtet werden.
Einige Bedenken sind gegenüber dem grundsätzlichen Festhalten an einem positiven Verständnis von Subkultur als Ort der Rebellion angebracht. Aus historischer Perspektive betrachtet hat, wie bereits angedeutet, der Siegeszug der popular music seinen Ursprung in der Entwicklung der fordistischen Gesellschaft nach 1945. Er ist dabei gleichzeitig Ausdruck einer erfolgreichen Durchsetzung ebenso wie ihrer Krise. Als Gegenentwurf zum traditionellen bürgerlichen Kulturgenuss, der sich nur vermittelt über Warenbesitz konstituierte, versprach Pop eine Ästhetik von Lust und Vergnügen, deren Bedürfnisse direkt über die Produkte der Unterhaltungsindustrie befriedigt werden konnten. Rock kreierte neue Märkte für neue Bedürfnisse und war zum Zeitpunkt einer wirtschaftlich gespannten Situation in den Vereinigten Staaten Teil der globalen Durchsetzung der Kapitalismusvariante des Massenkonsums. Das gesellschaftliche Ideal der "Jugendlichkeit" sollte sich als äußerst erfolgreich erweisen, einen immer größer werdenden Bedarf nach immer kurzlebigeren Produkten zu stimulieren und dabei traditionelle Konsumgewohnheiten zu unterminieren.
Dabei ist Popmusik unübersehbar Vorbote jener von Baudrillard als postindustriell bezeichneten Wirtschaftsform, die auf der Verdrängung industrieller Produkte durch den Verkauf und Umschlag von Images und elektrischer Impulse beruht. Noch in einer zweiten Hinsicht ist Pop damit eine Krisenerscheinung der industriellen Gesellschaft. Als Antwort auf die Standardisierung und Uniformisierung der fordistischen Gesellschaft tritt Pop als Strategie zur Identitätsvermittlung des individuellen Konsumenten auf, die sich von traditionellen Rahmen einer klassen- oder milieuvermittelten Identität löst. Der Mythos ‘Klasse’ fand seine Ersetzung in der Flüchtigkeit der antitraditionalen Kategorie der "Jugend".
Ein Widerspruch liegt somit dem Konzept Musik-Subkultur von Beginn an zu Grunde: Als individueller Ausdruck des Anti-Establishment ist Subkultur stets durch Medien, Produktionsgesellschaften und Vertriebstrukturen, also durch die kapitalistisch organisierte Kulturindustrie vermittelt. Es liegt also nahe, die politische Interventionskraft des Konzeptes Subkultur gegen ein kapitalistisches Ordnungsgefüge als begrenzt einzustufen. So findet sich viel an revolutionärer Attitüde, aber wenig an deren konkreter Umsetzung. Das Dissidenzpotenzial von Subkultur beruht eher auf der Hoffnung in eine politische Kraft symbolischer Handlungen (vgl. Liesegang, 1999).
Die Entwicklung des Phänomens Jugend-Subkultur erscheint wie eine Ironie der Geschichte. Adorno und Horkheimer hatten eine totalitäre, vereinheitlichende, manipulative Kulturindustrie, die den Monopolismus im Kulturbereich umsetzte, beschrieben. Gegen dieses Kulturdiktat und die einengenden Lebensformen und Wertstrukturen der Nachkriegszeit hatte die Jugend rebelliert, um gesellschaftliche, politische und kulturelle Veränderungen durchzusetzen. Ungewollt hat dies zu einer erheblichen Modernisierung, Flexibilisierung und Anpassungsfähigkeit des bestehenden Systems selber geführt.
"Die Werte des Sixties-Gegenkultur [sind] zur Doktrin des Warenkapitalismus geworden. Alle Rebellion bestätigt in dem Moment, wo sie die Form der Ware oder Kaufentscheidung annimmt, die Logik einer Kulturindustrie, die scheinbar niemanden mehr ausschließt, weil sie auf der ständigen Suche nach neuen Märkten ist. Noch das abseitigste Bedürfnis kann mittlerweile befriedigt werden, ganz gleichgültig, auf welchen Inhalt es sich richtet."
(zit. nach Christoph Gurk in Tom Holert/Mark Terkessidis (Hg.), 1996).
Während vor 50 Jahren noch dissidente Lebensentwürfe mit harten gesellschaftlichen Sanktionen belegt wurden, ist das jugendliche Innovationspotenzial heute selbst nicht nur zum Objekt, sondern zum Motor einer gigantischen Medien- und Vermarktungsindustrie geworden. Der passive Kulturkonsument in der Beschreibung von Adorno und Horkheimer wurde durch den kreativen, medienkompetenten Kulturkonsumenten abgelöst, der immer auf der Suche nach Neuem und Innovativem ist. Zwar existieren Subkulturen unter diesen Bedingungen weiter, aber mit einem veränderten Wirkungspotenzial: Sie bieten ein facettenreiches Patchwork von Identitätsangeboten und Haltungen, deren Übernahme aber relativ konfliktfrei erfolgen kann.
Das Subversionsmodell "Pop" ist heute dort angelangt, wo die Kunst in den 60er-Jahren mit Pop-Art angelangt war: Die Pop-Art der 60er-Jahre legitimierte erstmals Inhalte von Populärkultur und Massenmedien und veränderte dadurch, dass sie den Massengeschmack nicht mehr läutern wollte, nicht nur den high-culture-Status der bildenden Künste, sondern demontierte auch die traditionell gewordene Avantgardekunstproduktion.
Pop-Subkultur als Subversionsmodell innerhalb der Kulturindustrie ist offenbar strukturell nicht möglich. Ein Gegensatz zwischen kulturellem "Underground" und (angeblich homogenem) kulturellem "Mainstream" existiert schon lange nicht mehr. Aber das bedeutet nicht, dass avantgardistisch-subkulturelle Gesten keine materielle Basis mehr hätten. Die theoretische Erkenntnis ist nicht das Gleiche wie die soziale Wirklichkeit. Die massenkulturellen Praktiken übernehmen angesichts des sozialen Abgrenzungs- und Unterscheidungszwanges alte hochkulturelle Praktiken und reproduzieren deren hierachische Differenzierung. Es ergibt sich ein soziokulturell-ökonomisches System, das immer vielfältigere Muster hervorbringt, das diese Mannigfaltigkeiten gegeneinander setzt, hierarchisiert und sich in den Konkurrenzen zwischen ihnen aufrechterhält. Es gibt daher auch heute hohe, mittlere und niedrigwertige Pop-Kultur und somit auch im Pop Raum für hochkulturelles Künstlerverhalten und Avantgarde-Praktiken. Der "Underground" wird auch deshalb erhalten bleiben, weil die Kulturindustrie viel Geld in diesen Mythos investiert hat. "Pop-Subkultur" ist heute ein Industrieprojekt. Die Underground-Mainstream-Dichtonomie wird von der Kulturindustrie als unverzichtbares Identifikationsangebot gesponsert. Wer daher Pop als Subversionsmodell konservieren will, bejaht auch den Erhalt seiner kapitalistischen Voraussetzungen (vgl. Jakob, 2000).
Die Zyklen der Pop- bzw. Massenmusik und ihrer Phänomene gehen auf die beschriebenen Prozesse zurück, die man in ihrer idealen Form folgendermaßen darstellen kann: Subkulturen (oder subkulturelle Szenen) bilden sich als Antworten auf spezifische historische Umstände. Hier erfolgt die Konstitution der Phänomene auf Grund von kreativen Prozessen in Bezug auf Legitimationsdefizite. Die Medien als selektive Vermittler tragen zur Umformung des Phänomens bei, welches so in "sekundäre Subkulturen" bzw. den so genannten "Mainstream" diffundiert, in dem die Inkorporation und Vermarktung des Phänomens erfolgt. Dieser Vermarktungsprozess geht mit einer Verflachung einher, sodass sich die primären Subkulturen entweder auflösen oder wieder auf einen kleinen Kreis zurückschrumpfen und sekundäre Subkulturen im Mainstream als bloße Modevariationen entstehen, die das Phänomen wieder schnell fallen lassen (vgl. Brake, 1981, S. 188 f.).
Dieser idealtypische Prozess der massenmedialen und kulturindustriellen Vermittlung der Pop-Phänomene kann vielleicht nicht durchbrochen werden, wenn aber im Extremfall der Konstitutionsprozess mit dem Inkorporationsprozess zusammenfällt, d.h. die für die massenmediale Bearbeitung charakteristische sekundäre Umformung des Phänomens bereits in dessen Konstitutionsprozess eingeht, kann versucht werden subversive Elemente in den Markt zu tragen, als Gegenstrategie zur sekundären Umformung, indem bereits in der Gestaltung des Phänomens reflexiv auf die Mechanismen und Reaktionen des Marktes, der Medien und der Öffentlichkeit eingegangen wird. Es muss ja nicht immer gleich gegen das kapitalistische Ordnungsgefüge im Ganzen angegangen werden, es werden aber gerade in der Popmusik auch innerhalb des kulturindustriellen Rahmens immer wieder subversive Elemente eines abweichenden Wertekanons transportiert und können sich etablieren. Gerade zum Verständnis des Phänomens "Madonna" ist dieser Aspekt von Bedeutung, wenn man bedenkt, dass ihre Darstellungen in den Augen eines Großteils des Publikums als reiner Manierismus erscheinen, während die Fans tatsächlich dauerhaft authentische Bedeutungen finden können. Unzweifelhaft beinhaltet das Madonna-Phänomen auch subversive Elemente, die konkrete Auswirkungen zeigten und besonders in den USA Änderungen der puritanischen Sexualmoral erreichten.
Nachdem versucht wurde, in groben Zügen die kulturellen Zusammenhänge von Pop-Kultur, Sub- und Gegenkulturen, Szenen, postmodernen Stilformen, Fankultur, Identitätsfindung und deren Verbindungen mit den Phänomenen von Stars und Musik der modernen Massenmusikkultur darzulegen, soll gezeigt werden, inwieweit "Madonna" als Popstar und Kultfigur in diese Zusammenhänge einzuordnen ist. Die Schwierigkeit dabei ist, Madonna als mythologische und symbolische Figur nicht als Symbol für sich zu beanspruchen, weiterzuentwickeln und in Besitz zu nehmen, wie dies in vielfältiger Form nicht nur von Subkulturen und Medien, sondern auch gerne von Kultur-Wissenschaftlern getan wird. Um diesen Fehler zu vermeiden, soll versucht werden, vor allen phänomenologisch vorzugehen und sich möglichst von weitergehenden Deutungen und Interpretationen abzugrenzen. So wird im Folgenden eine Vielzahl an Fakten über Madonna angeführt, deren Vielfalt ihrer postmodernen Plastizität entspricht, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu können. Gerade der Begriff "postmoderner Star" zeigt schon die Schwierigkeit auf, in der Ambivalenz und Mehrdeutigkeit dieses Phänomens Eindeutigkeiten finden zu können. Postmoderne als Übergangsphase und Madonnas Startum selbst, als Phase des fortwährenden Wandels, entsprechen sich zwar, doch kann Postmodernität allein nicht als Auslösefaktor ihres Ruhmes angesehen werden. Denn wer bei diesem Phänomen Eindeutigkeit sucht, verfehlt eben gerade das Charakteristische. Nichtsdestotrotz soll versucht werden, einige wichtige Elemente darzulegen, die zu ihrem Aufstieg beitrugen.
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