E. 2. Madonna als symbolische Führerfigur
Die moderne Musikkultur als Alltagskunst bildete besondere symbolische Formen aus, wobei dem Mythos besondere Aufmerksamkeit zukommt, da mythische Symbole auf Grund ihrer sinnlichen Wahrnehmbarkeit auch besonders wirksam sind. Das Symbol bildet eine Brücke zwischen Sinnlichem und Geistigem, da die sinnlich wahrnehmbare Materie mit einem Netz von Bedeutungen überzogen ist. Symbolische Formen sind immer auch zugleich soziale Formen, da sie mit einem über individuelles hinausgehenden Objektivitäts- und Wahrheitsanspruch auftreten und sich aufeinander beziehen (vgl. Cassirer 1964 Bd. S. 21). Nach Mead (1991) steht das Individuum in einer durch Symbole vermittelten Welt, in der nur durch die Interaktion mit anderen Symbole von gemeinsamer und zwingender Bedeutung geschaffen werden, die gemeinsame Konzeptionen und Überzeugungen über die Außenwelt ausbilden.
Die Musikkultur hat einen Output von symbolischen Verdichtungen für das Publikum wichtiger Themen und Konflikte, die den Rezipienten die Gelegenheit bieten, ihre Unzufriedenheit oder Zustimmung, ihre Wünsche, Hoffnungen und Ängste zu artikulieren und so die Aufmerksamkeit auf gemeinsame soziale Grundwerte lenkt. Die gesellschaftskritische Wirkung von Rock- und Popmusik ergibt sich dabei weniger aus den Texten oder den musikalischen Formen, sondern aus der Persönlichkeit der Musiker, ihrem nach außen sichtbaren- oft als Image bewusst produziertem Lebensstil (vgl. Hermansen 1990, S. 160). Die Kommunikation mit den Massen, die Beeinflussung der öffentlichen Meinung erfolgt mittels publikumsbezogener symbolischer Formen, die sich in verbaler und nonverbaler Handlung an die symbolisch organisierten, kollektiven Bedeutungs-, Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster wenden. Man findet bei Madonna vor allem die Mythologisierung und Personifizierung von sexualmoralischen Sachverhalten, die mit impliziten Wertprämissen verbunden sind.
Auch in der Musikkultur sind Mythos und Ritus die symbolischen Formen, die es den Stars erlauben, die Aufmerksamkeit des Publikums zu binden und dessen Wahrnehmungen und Überzeugungen zu beeinflussen, wobei sie allerdings oft selektiv, simplifizierend und verzerrend wirken. Doch stellen sie offenbar das einzige Mittel dar, durch das Gruppen, die zu einer rationalen Analyse nicht fähig sind, mit komplexen Situationen umgehen lernen.
Es ergibt sich in der Musikkultur ein Kommunikationsmodell, in dem sich Musikstars und Massen und Massen untereinander durch Symbole verständigen. Die Phänomene der Musikkultur spielen sich im Kopf des Publikums als eine Flut von Bildern und Musikstücken ab, mit denen es von Radio, Fernsehen, Zeitschriften und öffentlichen Diskussionen überschüttet wird, als einer Parade von Symbolen und Mythen, die mit starken gefühlsmäßigen Assoziationen verbunden sein können und es so ermöglichen, Gefühle, Bewertungen und Normen zu überprüfen, zu bestätigen oder zu verändern. Die Musikkultur ist Projektionsleinwand starker Ängste und Hoffnungen, positiver und negativer Identifikationen und Übertragungen, ein öffentlicher "Kult" (vgl. Käsler 1991, S. 25).
Das Image eines Stars im Zeitalter des Massenmedien spricht nicht so sehr das Denken, sondern die Emotionen des Publikums an. Auf dem Gebiet der Musikkultur wird das Denken assoziativ und affektmäßig, wobei die Stars dem Rechnung tragen, indem sie dem Massenpublikum Angebote auf der Symbolebene machen. Das grundsätzliche Bedürfnis nach symbolischer Deutung der Wirklichkeit, nach dem Mythos, wächst noch zusätzlich in Krisenzeiten, in Phasen gesellschaftlichen Wandels, in denen der Alltag von immer größeren Bevölkerungsgruppen als gefährlich und unsicher erlebt wird. Stars dienen hier als Projektionsleinwände kollektiver Erwartungen, Ängste und Bedürfnisse. In der komplexen postmodernen Pluralität besteht zwar nicht mehr die archaische Totalität des Mythos aus Weltdeutung und Herrschaft, er besitzt eine eigene spezifische, plastische Rationalität, doch dient er der Übertragung reduzierter Komplexität, bewältigt damit Anschlussprobleme, hat hohe Integrations- und Stabilisierungsfunktion und trägt zur Identitätskonstruktion, Sozialisation und Enkulturation bei (vgl. Käsler 1991, S. 54 f).
Man kann bei der Typologie von symbolischen Führerfiguren offenbar von einer begrenzten Auswahl von dramaturgisch wirksameren Rollen ausgehen, wie z.B. die des Helden, der Schurken, des Verlierers, des Opfers oder des Narren (vgl. Klapp 1964, S. 23; Schwartzenberg 1980, S. 11 ff.; Käsler 1991, S. 31). Die Heldenfigur kontrolliert in den Augen des Publikums die Handlung auf der Bühne des Geschehens und geht aus Konflikten als Gewinner hervor. Wenn eine Person als Held in verschiedenen öffentlichen Dramen auftritt, beginnt sie auf die Persönlichkeiten einer Vielzahl von Menschen Einfluss auszuüben. Besonders eine große Zahl von heranwachsenden Mädchen findet offenbar in Madonna ein Rollenmodell unabhängiger Weiblichkeit im Kampf gegen die patriarchalische Vorherrschaft.
"Ich weiß nicht, ob sie talentiert ist, aber mir gefällt, wie sie ihr Leben kontrolliert." (Monica Seles: zit. nach Tetzlaff in Schwichtenberg 1993, S. 240)
"Zuerst dachte ich Madonna wäre nur eine Schlampe. Aber sie siegt. Sie ist glücklich." (weiblicher Fan, Tetzlaff in Schwichtenberg 1993, S. 243).
So sehen die Fans in Madonna die symbolische Figur des Helden, die als Vehikel zur Identifikation dient und als Modell der Imitation. Der Held verschafft dem Publikum eine Stellvertretererfahrung und gibt bestimmten Gruppen Handlungsmuster vor. Durch die Identifikation mit einer Heldenrolle erfährt das Publikum eine Selbsterhöhung, eine Art von Sicherheit und Wohlgefühl. Die Bedeutungen die das Publikum findet, können in Funktionen der sozialen Organisation umgewandelt werden, wie die eigene Moral zu heben, sich institutionalisierte Rollenmodelle oder Gruppenselbstbilder zu verschaffen, Ursachen zu dramatisieren und so soziale Bewegungen in die Welt zu rufen oder einen Heldenkult zu entwickeln (Klapp 1964, S. 43).
Man kann das populäre Drama als einen Prozess der Einflussnahme auf ein Publikum sehen, der auf Grund der dargestellten Rolle des Akteurs stattfindet. Das Publikum kann stellvertretend vom Star in eine Art neuer Wirklichkeit transportiert werden, deren Regeln und Gesetze sich von der Alltagsroutine unterscheiden, wobei Images projiziert und Rollen dargestellt werden, die wiederum als symbolisch bedeutsam wahrgenommen werden.
Bevor man also von einem mysteriösen Scharm, einer Aura der Macht oder der charismatischen Ausstrahlung des Stars spricht, die in seiner Persönlichkeit allein gar nicht gefunden werden kann, muss man die Geschichte seines Aufstiegs zum Ruhm selbst einer dramaturgischen Analyse unterziehen. Madonnas Selbstbestimmtheit, ihr vor nichts zurückschreckender Ehrgeiz, ihr offen zur Schau gestellter Triumph über als falsch kenntlich gemachte Verhältnisse, ließen sie zu einem heldenhaften Frauentyp werden, der sich illusionslos, abgeklärt und stark an die Spitze kämpfte, ohne sich selbst zu verraten. Sie bot damit jungen Mädchen die Möglichkeit, Bedeutungen einer eigenständigen, unabhängigen weiblichen Sexualität zu finden (Kaplan in Schwichtenberg 1993, S. 154). Die Aschenputtel-Geschichte ihrer Biografie, das Ausspielen ihres weiblichen Scharms und der Pathos ihrer Unabhängigkeit trafen offenbar zusammen mit dem Timing ihres Aufstiegs die Stimmung des Publikums.
Der Star benötigt in diesem dialektischen Prozess eine gewissen Art von Sensitivität, um in der Interaktion mit dem Publikum und den Medien das "Feed-back" aufzunehmen und seinen Stil zu perfektionieren. Erst dadurch tritt er in andauernde Interaktion und findet latente Funktionen, die in der Gesellschaft erfüllt werden müssen. Die primäre Funktion von Stars ist es, bestimmte Stiltypen sichtbar zu machen, neue Lebensstile und ästhetische Vorlieben aufscheinen zu lassen. Wenn eine symbolische Führerfigur eine spezielle Nische in der Gesellschaft findet, kann sein Image konsolidiert werden und erfüllt dann permanente Funktionen (vgl. Klapp 1962, S. 32). Für Madonna ergab sich diese Möglichkeit ihres Aufstiegs offenbar, indem sie den dominanten Trend postmoderner Geschlechtsrollenunsicherheiten aufgriff. Das kulturelle Thema fehlender adäquater mythologischer Absicherung der Sexualität, das latent offen in der Gesellschaft bereitlag, wurde von ihr angesprochen, was besonders in den USA die heftigen Reaktionen zur Folge hatte, sowohl in negativer als auch in positiver Hinsicht. In dieser Nische erfüllte Madonna allerdings nicht nur die Funktion des Helden, des Rollenmodells selbstbestimmter Weiblichkeit oder als Aufbrecherin der Dichotomien der Geschlechter, sondern auch die des "Objekts der Begierde", des Sexobjekts, des Pin-up-girls, der Sex- und Liebesgöttin, eine Art von Star, der die libidinösen voyeuristischen Begierden des Publikums direkt befriedigt, allerdings mehr durch ihren Körper, als durch ihre verkörperte Rolle. Sie selbst wirkt begehrenswert und voyeuristisch befriedigend auf Teile des Publikums, wobei die dramaturgisch dargestellten Rollen relativ unwichtig als Identifikationsmöglichkeiten bleiben, da einem zwar beispielsweise ihr nackter Busen gefallen kann, aber man sich deshalb noch lange nicht mit ihr identifizieren muss
Ihre exhibitionistische Offenheit wirkt ambivalent, da sie einerseits zwar versuchen mag die sexistische Doppelmoral bloßzustellen, doch andererseits als Paradebeispiel der Vermarktung des Körpers als sexuelle Ware erscheint.
Hier liegt auch eine Parallele zwischen Marilyn Monroe und Madonna, da beide als Sexobjekt funktionieren, unabhängig von den dramaturgischen Rollen, die sie darstellen. Doch während Marilyn Monroe in die tragische Rolle des Opfers gedrängt wurde, agiert Madonna als Held, der die Kontrolle über die Situation behält. "Damals war man wirklich ein Sklave der ganzen Hollywood- Maschinerie, und wenn man nicht die Kraft hatte sich selbst zu befreien, saß man in der Falle." (Madonna: zit. nach Bego 1992, S. 116). Sie transformiert die Rolle des Sexsymbols von der "tragischen Marilyn" in die des sexuell provokativen "bösen Mädchens" und destabilisiert damit diese Ikone heterosexueller Männlichkeit (vgl. Patton in Schwichtenberg 1993, S. 93).
Ihre Darstellungen verletzten viele zerbrechliche traditionelle sexuelle Kodizes und Schranken, wodurch sie sich bewusst in den gesellschaftlichen Ächtungsbereich begab. Ein Großteil der Aufregung entstand auch, da es Madonna als eine Frau wagte sexuell zu sein und damit Geld zu verdienen. So spielt sie in der Öffentlichkeit zusätzlich noch die Rolle der "Schlampe", des "populären Schurken", der Aufmerksamkeit erregt, nicht da man sich mit ihm identifizieren möchte, sondern da der Abscheu und Hass den man ihm entgegenbringt, die entlastende Funktion hat, sich selbst und seine Position gegenüber anderen Positionen abzugrenzen, sich selbst zu erhöhen, den Status Quo zu erhalten und Ordnung und Orientierung zu schaffen. Madonnas Erfolg beruht zwar auf ihrem Talent die bestehenden Hierarchien des Geschlechts und der Sexualität zu stören und damit die postmoderne Stimmung des Wandels und der Destabilisierung von traditionellen Kategorien aufzugreifen. Sie trägt als "populärer Schurke" aber auch zum Erhalt des Status Quo bei. Das gesamte Phänomen konstituiert sich aus den vielfältigen öffentlichen Diskursen, eingeschlossen ihrem eigenen und kann so vor allem in Bezug auf das Geschlecht auch als ein Zeichensystem gelesen werden, das nicht direkt mit Identität verbunden ist (vgl. Kaplan in Schwichtenberg 1993, S. 156).
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