Nach des Dichters Tod bis zur Reichsgründung sprach die akademische Goethephilologie
von „einer Epoche der Goetheferne und der Goethefeindschaft“ und bezeichnete dessen 100.
Geburtstag als den „tiefsten Stand seines Ansehens in der Nation“. Tatsächlich
erschien in
der Zeitspanne zwischen 1832 und 1871 „keine einzige Goethebiographie von bleibendem
Wert“.
[341]
Aber, wie Mandelkow zu berichten weiß, bildete dieser Abschnitt der
Wirkungsgeschichte Goethes ein „Spannungsfeld zwischen Negation und
Apotheose
“. Die
Weimarer Kunstfreunde und Mitarbeiter Goethes – die drei testamentarischen Verwalter von
Goethes Nachlass (Eckermann,
Riemer
, Kanzler
Friedrich Müller
) und andere aus dem
engeren Umkreis – gründeten gleich nach Goethes Tod den ersten „Goethe-Verein“ und
legten mit ihren Nachlass-Editionen und -Dokumentationen „das erste Fundament einer
Goethephilologie“.
[342]
Gegen deren Goetheverehrung standen Heinrich Heines und
Ludwig
Börnes
kritische Aneignung Goethes. Beide kritisierten zwar seine auf Ruhe und Ordnung
bedachte „Kunstbehaglichkeit“
in einer Zeit politischer
Restauration
, aber in fundamentalem
Gegensatz zu dem erbitterten „Goethehasser“ Börne schätzte Heine Goethes Dichtung als
das Höchste. Für das
Junge Deutschland
stand Goethe im Schatten Schillers, dessen
revolutionäre Tendenzen besser in die Zeit des
Vormärz
passten als die politisch
konservative Haltung Goethes.
[343]
Auch eine christliche Opposition, sowohl von katholischer als auch von protestantischer
Seite, bildete sich
gegen Goethes Leben und Werk, wobei insbesondere die
Wahlverwandtschaften und der
Faust ins Fadenkreuz der Kritik gerieten. Mit „unverhohlener
Schärfe“ richteten sich verschiedene Kampfschriften kirchlicher Parteigänger gegen den im
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sich abzeichnenden Klassiker- und Goethekult. Der
Jesuit
Alexander Baumgartner schrieb eine umfangreiche Goethedarstellung, in der er allerdings
Goethe als einen „glänzend begabten“ Dichter charakterisierte, aber dessen „unsittliche“
Lebensführung, „unbekümmerte Lebenslust und Genußsucht“ geißelte: „Mitten in einer
christlichen Gesellschaft hat er sich offen zum Heidentum bekannt und ebenso offen nach
dessen Grundsätzen sein Leben eingerichtet.“
[344]
Johann Wolfgang von Goethe, Teilansicht des
Goethe-Schiller-Denkmals
in Weimar, errichtet 1856/57 von
Ernst
Rietschel
[345]
Nachdem Goethe schon seit den 1860er Jahren zum Lektürekanon an deutschen Schulen
gehörte,
[346]
wurde
er nach der
Reichsgründung
1871 allmählich zum Genius des neuen
Reiches erklärt. Beispielhaft dafür standen die Goethe-Vorlesungen Herman Grimms von
1874/75. Ihm zufolge habe Goethe „auf die geistige Atmosphäre Deutschlands gewirkt […]
wie ein tellurisches Ereigniß, das unsere klimatische Wärme um so und soviele Grade im
Durchschnitte erhöhte“. – „Goethe’s Prosa ist nach und nach für alle Fächer des geistigen
Lebens zur mustergültigen Ausdrucksweise geworden. Durch
Schelling
ist sie in die
Philosophie,
durch
Savigny
in die
Jurisprudenz
, durch
Alexander von Humboldt
in die
Naturwissenschaften, durch
Wilhelm von Humboldt
in die
philologische
Gelehrsamkeit
eingedrungen.“
[347]
Eine Flut von Goethe-Ausgaben und Goethe-Sekundärliteratur erschien. Seit 1885 widmet
sich die
Goethe-Gesellschaft
der Erforschung und Verbreitung des Goetheschen Werkes; zu
ihren Mitgliedern gehörten die Spitzen der Gesellschaft im In- und Ausland, darunter das
deutsche Kaiserpaar.
Charakteristisch für den Goethekult des Kaiserreiches war die Verlagerung des Interesses
von Goethes Werk auf „das Kunstwerk seines wohlgeführten, bewegten und reichen, und
doch durchaus in harmonischer Einheit zusammengehaltenen Lebens“,
[348]
hinter dem im
Allgemeinbewusstsein die dichterische Produktion zu verschwinden drohte. So schrieb der
Schriftsteller
Wilhelm Raabe
1880: „Goethe ist der deutschen Nation
gar nicht der Dichterei
usw. wegen gegeben, sondern daß sie aus seinem Leben einen ganzen vollen Menschen vom
Anfang bis zum Ende kennenlernen.“
[349]
Aus dem Studium von Goethes als beispielhaft
empfundenem Leben erhoffte man sich Rat und Nutzen für die eigene Lebensführung. Es gab
jedoch auch Stimmen, die die Inhaltsleere des Goethekults in Teilen der Bevölkerung
herausstellten.
Gottfried Keller
bemerkte 1884: „Jedes Gespräch wird durch den geweihten
Namen beherrscht, jede neue Publikation über Goethe beklatscht – er selbst aber nicht mehr
gelesen, weshalb man auch
die Werke nicht mehr kennt, die Kenntnis nicht mehr
fortbildet.“
[350]
Und
Friedrich Nietzsche
schrieb 1878: „Goethe ist in der Geschichte der
Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen: wer wäre im Stande, in der deutschen Politik der
letzten siebenzig Jahre zum Beispiel ein Stück Goethe aufzuzeigen!“
[351]
In der
Weimarer Republik
wurde Goethe als geistige Grundlage des neuen Staates
beschworen. 1919 verkündete der spätere Reichspräsident
Friedrich Ebert
, jetzt gelte es, die
Wandlung zu vollziehen, „vom
Imperialismus zum Idealismus, von der Weltmacht zur
geistigen Größe. […] Wir müssen die großen Gesellschaftsprobleme in dem Geiste behandeln,
in dem Goethe sie im zweiten Teil des Faust und in Wilhelm Meisters Wanderjahren erfaßt
hat“.
[352]
Der „Geist von Weimar“ wurde als Kontrapunkt zum überwunden geglaubten „Geist
von Potsdam“ gesetzt. Praktische Wirkung hatte dieses Bekenntnis jedoch nicht. Die
politische Linke kritisierte den Geniekult um Goethe mit dem „Naturschutzpark“ Weimar
(
Egon Erwin Kisch
).
Bertolt Brecht
erwiderte in einem Rundfunkgespräch: Die Klassiker sind
im Krieg gestorben.
[353]
Es gab jedoch auch bedeutende Schriftsteller, wie
Hermann Hesse
,
Thomas Mann
und
Hugo von Hofmannsthal
, die der linken Klassikerschelte ein positives
Goethebild entgegensetzten. Hermann Hesse fragte 1932: „War
er am Ende wirklich, wie die
ihn nicht gelesen habenden, naiven Marxisten meinen, eben nur ein Heros des Bürgertums,
der Mitschöpfer einer subalternen, kurzfristigen, heute längst schon wieder abgeblühten
Ideologie?“
[354]
Anders als mit Schiller,
Kleist
und
Hölderlin
, tat sich die
nationalsozialistische
Kulturpolitik
schwer, Goethe für ihre Ziele zu vereinnahmen.
Alfred Rosenberg
hatte 1930 in seinem Buch
Do'stlaringiz bilan baham: