Popularmusiker in der provinz


(10) Gedächtnisprotokoll eines Interviews mit Vagabund, durchgeführt von Andreas Wilczek am 13.8.1988



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(10) Gedächtnisprotokoll eines Interviews mit Vagabund, durchgeführt von Andreas Wilczek am 13.8.1988


Vagabund erzählt, dass sie eigentlich schon ihr ganzes Leben Musik gemacht hat. Sie ist in Dortmund aufgewachsen und bekam ihren ersten Instrumentalunterricht (Klavier) mit sieben oder acht Jahren. Parallel dazu spielte sie in der Schule in einem Blockflötenorchester und sang im Schulchor.

Sie ”klimperte” bereits im Alter von zwei oder drei Jahren auf dem Klavier ihrer Mutter herum. Der Lehrer und seine Lehrmethoden gefielen ihr jedoch überhaupt nicht. Sie umging die Notwendigkeit, Noten zu lesen und danach spielen zu können, durch ihr Talent, sich Melodien und Akkorde merken zu können. Ihr erstes Interesse lag darin, improvisierend Klavier zu spielen und so eigene Stücke zu komponieren. Diese Stücke entwickelte sie aus sog. ”Lieblingsakkorden und -melodien”, die ihr ”im Kopf” herumschwebten. Sie tauschte dann im Alter von 13 Jahren mit ihrer Schwester, die Gitarrenunterricht hatte, die Lehrer und wechselte zur klassischen Gitarre, merkte aber schnell, dass sie sich auf der Gitarre nicht so ausdrücken konnte (komponieren) wie auf dem Klavier.

Ihre stilistischen Vorlieben wechselten bald, und sie begann im Alter 14, 15 Jahren bei einem Bekannten ”Fingerpicking” statt klassischer Gitarre zu lernen. Sie spielte allein in ihrem Zimmer, wie sie sagt, ”Weltschmerz-Lieder” von Donovan, ihrem ersten Lieblingskünstler, den sie später auch persönlich kennenlernte, und lernte dessen Lieder durch die Schallplattensammlung des Bruders einer Freundin eher zufällig kennen. Ihre erste eigene Schallplatte war ”The Gallery” von Jethro Tull. ELP (”Emerson, Lake and Palmer” - britische ”Art-Rock”-Gruppe der 1970-er Jahre) gefielen ihr auch.

Mit 15 verbrachte sie einen, wie sie es nennt, ”Offenbarungsurlaub” auf Sylt, in dem sie durch neue Bekannte die Musik der ”Doors” kennenlernt. Besonders gefiel ihr an den ”Doors” das selbstzerstörerische Lebensgefühl, das ihr die Gruppe vermittelte - wahrscheinlich auch deshalb, weil Jim Morrison, der Sänger, zu diesem Zeitpunkt bereits fünf Jahre tot war. Sie hat in dieser Phase aufgehört, selbst Stücke zu schreiben und spielt nur noch nach, vorzugsweise Musik von den ”Doors”, die sie sich ”heraushörte” und auf der Gitarre spielte. Diese nachgespielten Stücke, die ihr bei der Bewältigung ihrer oft auch negativen Gefühle und Stimmungen halfen, wählte sie nach ihrer momentanen Stimmungslage aus.

Eine weitere Lieblingsband waren die ”Stranglers”. An ihnen mochte sie neben der Musik besonders deren rauhe, aggressive und von der frühen Punk-Ära beeinflusste ”Rebellen-Mentalität”. Ihr imponierte deren philosophischer Hintergrund und ihre Intellektualität parallel zu dem plakativen harten Image.

Der Drogenaspekt in der Musik dieser Zeit hatte auf sie keinen Einfluss. Ihre Erfahrung, keine Musik unter Drogeneinfluss machen zu können, hielt sie von Drogenexperimenten ab. Sie empfand dies eher als abstoßend : ”Dann ist bald der Lack ab.”

Im Alter von 17 Jahren zog sie in eine WG, in der sie die musikalische Praxis intensivierte. In der WG wurde ”Hausmusik” gemacht, hauptsächlich ”Hippie-Musik” und ”Zigeuner-Jazz”. Auf einer Party in diesem WG-Kreis, deren Datum ihr noch genau in Erinnerung geblieben ist (30.4.1979) hatte sie ihren ersten öffentlichen Auftritt.

Weil die dort lebenden Kinder einen Teil des Hauses anzündeten, musste sich die WG auflösen. Vagabund jobbte in verschiedenen Berufen, aus denen sie oft nach kurzer Zeit gefeuert wurde, meist weil sie sich nach eigener Aussage als sehr renitent zeigte.

Auf einem Festival in Amsterdam lernte Vagabund eine irische Comedy-Truppe kennen, deren Ausstrahlung, Humor und Verrücktheit ihr sehr imponieren. Sie verliebte sich in einen der Künstler, gab Wohnung und Job auf und begann, mit ihnen herumzureisen und Musik zu machen. Die Musik dieser Truppe war eine Mischung aus Folk, Magie und Punk. Ein Lebensgefühl, das ihrem damaligen sehr entsprach. Man versprach ihr einen gewissen Ruhm und nahm sie mit auf Tourneen in verschiedene europäische Länder. Vagabunds künstlerische Tätigkeit bestand damals aus einer Mischung aus Theater und Musik. Diese Phase dauerte insgesamt zwei Jahre, bis sich Vagabund von dem Mann und dem Ensemble trennte. Anschließend arbeitete sie angeblich als Schauspielerin und Pianistin an einem Theater in New York.

Diese ständigen Auslandsaufenthalte dauerten insgesamt drei Jahre. Im Spätsommer 1988 kehrte sie - inzwischen 22 oder 23 Jahre alt - schließlich nach Dortmund zurück, war mittellos und begann in einem Cafè (Bochum) zu jobben. In diesem Umfeld traf sie auch ihre alten Freunde und Kollegen wieder und begann, zum Spaß in einer Art Punk-Band zu spielen.

Ebenso begegnete sie in diesen Kreisen K., einem Bassisten, der ihr das Angebot machte, in seinem Demo-Studio in Berlin an Musikstücken zu arbeiten. K. verfügte aufgrund seiner Tätigkeit bei ”Fehlfarben”, einer derzeit populären ”Neue Deutsche Welle”-Band, über gewisse Erfahrung und Leumund. Mit diesem Drei-Song-Demo, einem hinzugezogenen Manager-Team und einem Verlag bekam die neue Band ”Twenty Colours” einen ”Major”-Plattenvertrag. In dieser Zeit lernt sie auch Lederjacke, ihren späteren langjährigen Freund und Ehemann kennen.

Die folgenden Aufnahmen zur ersten Maxi-Single in einem professionellen Studio mit einem Produzenten verliefen nach Vagabunds Aussage ziemlich schrecklich, weil die Musiker in der Band nicht gut genug spielen konnten. Da die Demos bislang ausschließlich mit Hilfe von Computern hergestellt wurden, war ihr dies nicht aufgefallen. Die Maxi-Single verkaufte sich nicht erwartungsgemäß, was zu Unstimmigkeiten in der Band und mit der Plattenfirma führte.



Vagabund fand im Laufe der Proben- und Studioarbeit z.B. heraus, dass K. überhaupt nicht Bass spielen konnte. Sein Bass hatte immer nur drei Saiten, was er u.a. mit der Ausrede begründete, es sei Ostersonntag, alle Geschäfte geschlossen, so dass er keine Saiten habe kaufen können. Außerdem mussten ihm die anderen stets sagen, in welchem Bund seines Instrumentes welche Noten zu finden seien.

Die Band nahm mit einem neuen Produzenten in Berlin weitere Songs auf, welche Vagabund als ”ganz gut” bezeichnet. Als weitere Schwierigkeit kam nun hinzu, dass Vagabund schwanger und deswegen nicht mehr so belastbar war. Als die Platte dann auf den Markt kam, war sie nicht mehr in der Lage, Fernsehauftritte und Interviews zu absolvieren. Einige Pannen, die auf die Schluderigkeit einzelner Bandmitglieder zurückzuführen seien, führten zu weiteren negativen Erlebnissen.

Nach der Geburt ihres Sohnes Max sollte die Band auf Tournee gehen, um die Platte zu promoten, zumal die Verkäufe unter den Erwartungen der Plattenfirma geblieben waren und von dort aus ein gewisser Druck auf die Band ausgeübt wurde.

Die Musiker hatten allerdings größere Schwierigkeiten mit der Live-Umsetzung der Stücke bzw. mit dem Nervenkostüm bei Live-Auftritten. Vagabund hingegen hatte große Lust, live zu spielen, zumal dies ihrer bisherigen musikalischen Praxis entsprach und sie auch viel Live-Erfahrung besaß. Sie vermisste auch die Entwicklungsphase, die neue Stücke in einer Live-Situation durchlaufen.

Die Tourneevorbereitungen verliefen aufgrund ständiger Besetzungswechsel und interner Streitereien sehr chaotisch. Vagabund dachte bereits daran, die Band zu verlassen. Die Schwierigkeiten mehrten sich schließlich in einem Ausmaß, dass die Tournee eine Woche vor dem ersten Auftritt abgesagt wurde. Kurz danach stieg K. aus. Ein neuer, ”fähiger” Bassist wurde engagiert, und die Band ging wieder ins Studio. Der Band lag inzwischen ein neues Angebot einer anderen großen, deutschen Tonträgerfirma vor, der Vertrag kam allerdings nicht zustande. Die Musik der Band lag aber durch das Aufkommen der ”Jazz-Pop-Welle” - etwa um die Mitte der 1980-er Jahre - plötzlich sehr im Trend.

Allerdings bekamen ”T.C.” das Image ”verpasst”, nur auf diesem Trend ”mitzuschwimmen” und die Vorbilder - wie z.B. die englische Gruppe ”Sade” - lediglich zu kopieren. Dass die Stücke der Band z.T. schon mehrere Jahre alt waren, spielte für die Imagebewertung keine Rolle. Die Promotionarbeit der Plattenfirma beschränkte sich nach Vagabunds Aussagen darauf, Journalisten in Köln zum Mittagessen auf Kosten des Produktionsetats der Band einzuladen. Vagabund, hochschwanger, konnte nicht einmal richtig mit essen, geschweige denn trinken. Sie habe ohnehin, nach eigener Aussage, mit ihrer ”großen Klappe” Schwierigkeiten im Umgang mit Journalisten, Managern und Plattenfirmvertretern, insgesamt dem ”Klinkenputzen”. Nach diesen enttäuschenden Erlebnissen lösten sich ”T.C.” auf.



Vagabund beschränkte sich in der darauffolgenden Zeit auf ihre Mutterrolle und verbrachte ihre Zeit überwiegend in Osnabrück. Zusammen mit Freundin S. gründete sie ein Duo, um zunächst ein bisschen in Kneipen Musik machen zu können. S. ist Mutter zweier Söhne und mit einem damals sehr beschäftigten Musiker verheiratet. Die beiden Frauen wollten nicht mehr nur allein zu Hause `rumsitzen und die Kinder erziehen. Sie studierten einige Cover-Versionen ein und hatten bereits nach zwei Wochen ihren ersten Auftritt.

Die ersten Auftritte des Duos waren ein großer Erfolg. Die beiden Frauen bekamen viele Auftrittsangebote, nicht zuletzt, weil sie sich flexibel auf die Wünsche ihres Publikums einstellen konnten.



Vagabund beschreibt die Phase, in der sie sich zum Interviewzeitpunkt befindet, als eine solche, in der sie sich weiterentwickeln will. Früher - so sagt sie - hat sie sich durch Wechsel des Wohnorts, der Bekannten oder des Landes weiterentwickelt. Z.Zt. (1988) ist sie mehr oder weniger durch Kind und Mann an Osnabrück gebunden und versucht, ihren Horizont durch u.a. Gesangsunterricht und Bodybuilding zu erweitern. Ihre Grundeinstellung, ”sich treiben zu lassen”, erlebt sie jetzt auf einer anderen Ebene. Sie hat zwar den Traum, noch einmal eine eigene Band zu gründen, aber wenig konkrete Vorstellungen darüber, wie diese Band aussehen bzw. welche Musik gespielt werden sollte. Sie schreibt immer noch Texte und hat mittelfristig den Plan, sich in Klausur zu begeben und dort weitere Texte und Songs zu schreiben.


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