Mein krieg aufzeichnungen aus 2129 Tagen



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6. Station der Fahrt, bemerkte ich ein Schild: Ärztl. Versorgungs- 399


Stützpunkt. Dorthin ging ich mit den beiden, wir wurden in Listen eingetragen. Bei der Lungenentzündung war es nun doch zu offensichtlich, daß diese Art der Behandlung nicht ausreichte.

Der Mann verschwand. Wir zwei letzten Mohikaner wurden einem behelfsmäßigen Sanitätszug zugewiesen, in dem jeder ein Lagerbett hat, und hier sitze ich nun und harre der Dinge. Fieber habe ich, glaube ich, keines, nur Schmerzen in den Unterschen- keln weisen darauf hin, daß ich mit einem gewissen Recht hier sitze. Der Zug fährt noch nicht, ich habe leider nichts mehr zu lesen. Wir werden ein bis zwei Tage fahren, vielleicht bis Balta? Wer hatte das gedacht!

8. Marz 44. Der z. Eisenbahn-Reisetag. Ich habe in meinem Hängelager nicht schlecht geschlafen. Wir sind irgendwo zwi- schen Golta und Balta. Diese öde Strecke fahre ich nun zum 3.

Mal – Oktober, Januar, März. Angeblich werden wir bald ausge- laden. Im Wagen nur Leichtverwundete und Kranke. Nichts zu lesen.

9. März 44. Wir sind den dritten Tag in dem ››B.V.Z.« =Be- helfsmäßiger Verwundetenzug. Die drei Güterwagen mit etwa 100 Verwundeten und Kranken sind an einen langen anderen Zug angehängt. Er hat es nicht eilig. Gestern stand er fast zwölf Stunden irgendwo herum. Das Begleitpersonal sind drei Sanitäts- gefreite, kein Arzt. Wir sollen angeblich in Birzula ausgeladen werden. Dort müßten wir in etwa zwei Stunden ankommen.

Nachdem gestern mittag der letzte Kaffee ausgegeben worden ist, gab es in Balta, etwa um 4 Uhr früh, eine Rübenwasser~Suppe, die je nach Temperament Schimpfen oder Gelächter weckte. Ich schlief erst schlecht, dann gegen Morgen mit zwei Tabletten. Es waren vielleicht nicht gerade die allerersten Schlaftabletten mei- nes Lebens, aber mehr als zehn diirfte ich seit 19:0 nicht verbraucht haben.

rr. März 44. Heute früh hatte die Reise endlich ihr Ende. Um dieses Nest im Nordteil des rumänischen Interessengebietes zu finden, hätte der Zug nicht so lange zu suchen brauchen. Solche Nester gibt es in der Ukraine Tausende. Wir sind fast 2.4 Stunden auf einem Bahnhof gestanden. Heute nachtfuhr der Unglückszug dann uber sein Ziel hinaus und mußte umkehren. Im Apparat ist der Wurm.

Das Lazarett ist eine ehemalige russische Kaserne, sie liegt auf 4oo

einem Abhang, ich übersehe vom Bett aus Bahngleise und die Hügel jenseits des Tales. In den Sälen liegen bis zu go Mann.

Mein Saal im 1. Stock wird erst belegt. Wir sind nur zehn oder zwölf. Zwei Mann meiner Division sind darunter. Die Heeresbe~ richte sagen, daß die Russen in Richtung Südwesten bei Uman und bei Kriwoi Rog vorstoßen, wodurch sie, wenn sie Erfolge haben sollten, die unseren schwer ins Gedränge brachten. Man muß sich die Karte anschauen. Sie müßten sich vielleicht anderswo auch die Karte anschauen. Aber wenn sie das zum ersten Male offenen Auges tun werden, mag ihnen ein Stadtplan genügen.

An die Truppe schreibe ich, daß man meine Post aufhebt, nicht nachschickt. Die Blätter 6o†62 sind gestern in Birzula zur Felde post. Meine Aufnahmenummer ins Lazarett hier hatte als Schluß- zahl die 28 – da kann es ja nicht fehlen. [Mehrere wichtige meiner Lebensdaten, das der Geburt eingeschlossen, liegen zu- fällig auf einem zSsten.]

12. März 44. Wodurch dieses Institut den Namen Lazarett verdient, ist nicht zu erkennen. Es ist eine Massenunterkunft mit ärztlicher Überwachung. Man holt sich das Essen selbst, der Weg zum Häuschen geht ıoo m durchs Gelände, von weißen Betten ist keine Rede. Damit es niemandem zu gut gefällt, gibt es wenig zu essen. Ich habe mich auf Diät setzen lassen, da gibt es noch weni- ger, aber ich komme gut damit aus. Griesbrei und Hafersuppen sind mir angenehmer als das Fleischzeug. Gestern nachmittag spielte plötzlich eine Jahrmarkt-Bummskapelle in einem Kran- kensaal unter uns, daß die Wände clröhnten. Eine seltsame Art, Kranke zu behandeln. Das Johlen und Schreien war durch die Decke zu hören, und als ich später auf dem Weg zur Essensausa gabe durch diesen Saal ging, war ein Qualm zum Schneiden dick.

Auf vielen Betten wurde Karten gespielt, und es fehlte nur das Bier. Bei uns geht es ruhiger zu. Etwa fünfzehn werden dieser Tage wieder zu ihrer Truppe gehen, und etwas Rüderes als diese Genesenen läßt sich nicht vorstellen. Der Weg zum Häuschen ist ihnen zu lang, sie scheißen deshalb in der Nacht in den anstoßen- den, noch leeren Saal. Anblick und Geruch heute früh waren überraschend, besonders für die Sanitäter. Zwei Wiener, die neben mir liegen, nahmen es zum Anlaß, das Wirken der deut- schen Landser in Europa zu charakterisieren. Wiener aus den 401


unteren Schichten sind von einer erstaunlichen Einheitlichkeit in ihrer geistigen und moralischen Ausbildung, in ihren Interessen.

Nichts Menschliches ist ihnen fremd, und kein Schatten von Moral verengt ihr Urteil. Sie erzählen mit großem Freimut diffi- zile Details aus ihrem Leben und finden eben diese und sonst nichts interessant. Ihre Ironie findet ihre Grenze an ihrer Senti- mentalitêít. Sie können stundenlang von Mahlzeiten reden, die sie bei ihrer Hochzeit oder bei anderen I-Iochzeiten gegessen haben.

Auch über die Garderobe von Filmleuten unterhalten sie sich mit Verve. Der eine sagt heute früh nach einem traurigen Rundblick über den Saal: Bei der ärmsten I-Inr wann ich schlafen tat, die am Stuhl schlaft weils kein Bett hat, wär ich besser untergebracht.

Die Hur ohne Bett schien ihm nicht unbekannt zu sein. Vor einer Stunde sind sie draufgekomnien, daß heute vor sechs Jahren Österreich zum Reich kam. Seitdem machen sie das große Gaudium: Kommt, Kameraden, gratuliert uns!

Gestern abend gab es so etwas wie Varieté, aber ich blieb in meinem Schlafsack, der nun auch die 1. Entlausung hinter sich hat. Das Waschen gestern mit heißem Wasser war ein Fest.

13. März 44. Vor den Fenstern dicker Morgennebel. Bahn und I-Iügel sind verschwunden. Der Saal, in Erwartung der Visite, benimmt sich lazarettmäßig. Dafür war die Nacht tumultuarisch.

Das Bier, das gestern noch fehlte, war später beim Rechnungs~ führer zu kaufen. Ich sah zwei Kästen mit go Flaschen herumstef hen. Es war nicht stark genug, um eine allgemeine Besäufnis zu erzeugen. Zwei kamen auch zu Wein und Schnaps, einer von ihnen, in den Saal zurückkehrend, schlug lang hin und stand nicht mehr auf. Sein blaugestreifter Lazarettanzug war bekotzt, sein Gesicht aufgeschlagen und blutig. Er wurde zwei Betten von mir entfernt auf einen Strohsack gelegt und man hielt ihn für tot, was weiter niemand zu stören schien. Nach einer Stunde war er aber wieder so lebendig, daß er nun auch das Bett und sich im Liegen vollkotzte. Mir war es störend. Ich ging zur Schreibstube, tastete mich die dunklen Treppen hinunter; ein Feldwebel und zwei Sanitäter kamen mit Taschenlampen und versuchten eine Viertelstunde lang, die Identität des Besoffenen festzustellen, was schließlich gelang. Es wurde entschieden, er könne liegen bleiben, wenn er sich ruhig verhielte. Eine Weile ging es gut, dann begannen die Eruptionen von neuem. Nun wurde der Mann samt 407.


Strohsack in den anschließenden kalten Raum getragen, in das F,rsatz†Scheißhaus. Bei uns war noch eine Weile Krach, dann wurde es still und ich dachte, dabei bliebe es. Es war plötzlich ein Platschern wie aus einer Gießkanne zu hören und meine Taschen~ lampe entdeckte ein junges Bürschlein, das wankend mitten im Saal auf einem Tisch saß und es laufen ließ. Niemand wußte, woher er kam. Ich griff zur Selbsthilfe und warf ihn hinaus. Er wußte nicht, wie ihm geschah. Der Saal erging sich in furchtbaren Drohungen gegen weitere Störungen, Draußen aber war es kalt, und Kotzer Nr. 2 kehrte zurück. Diesmal sprangen vier oder fünf aus ihren Betten und entfernten den jungen. Sie legten ihn zu Nr. 1 hinaus.

Die Nachtschau zu vollenden, kam Nr. 1 durch die Kälte wieder zu sich und tappte plötzlich zwischen unseren Betten herum, im Licht der Taschenlampe anzusehen wie ein Mörder nach der Tat, blutüberströmt.

Gestern nachmittag hatte ich 38,4, zwei Stunden spater 37,3, Der Puls ist heute früh auf 60, gestern war er zwischen 70 und 80.

Eben kommt der Arzt, ein Österreicher, und es wird ruhig.

14. März 44. Draußen regnet und stürmt es. Das scheint hier länger zu dauern, ich gebe jetzt doch der Feldpost wieder etwas mit. Im Parterre hängt ein Kasten mit der Aufschrift: Für Mutti.

Ich sorge mich, daß Du zu wenig Gewicht hast und das Kleine Dir zuviel wegnimmt. [Ein zweites Kind war unterwegs] Später einmal wird Gabriele oder? (ein männlicher Vorname will mir nicht einfallen, vielleicht, weil er nicht benötigt wird) weniger ihr Geburtsjahr als ihre Eltern heroisch nennen. Aber 1807, 1814, r 919 sind auch Kinder geboren worden.

15. März 44. So man nur abwartet, erledigt sich manches von selbst. Ich wollte den Arzt schon bitten, mich zu verlegen, und sei es zur Truppe, denn dies hier ist ein Saustall, da kam er vorhin und nahm in großer Eile fast alle Krankenblätter mit. Das Lazaf rett wird geräumt, wir werden verlegt, zweifellos weiter zurück.

Ich frage mich, ob der Durchbruch der Russen bis zum mittleren Bug auf der Höhe von Uman und die gleichzeitige Offensive bei Kriwoi Rog, die vorgestern zur Räumung von Cherson führte, nun eine endgültige Zurücknahme der ganzen Südfront erzwin- gen. Es sieht fast so aus. Wo ich dann meine Truppe wiederfände? Ich denke, daß wir übermorgen ins Rollen kommen.

403

Meine Tage sind ganz friedlich, meine Nächte sind es nicht. Ich schlafe miserabel. Das Fieber ist nicht nennenswert.

Abends. Der Aufbruch wird hastig vorbereitet. Ich glaube, daß wir schon morgen in Bewegung kommen. Ich werde ››liegend<< transportiert, das habe ich durchgesetzt, damit ich nicht etwa tagelang auf einer Holzbank sitzend durch Europa fahre. Seit Stunden draußen Sturm und Schneetreiben.

16. März 44. Noch an Ort und Stelle. Ich bin sogar in einen andern Saal im Parterre verlegt worden, von wo aus ich den Hügel nicht mehr sehe, nur noch die Abfallgrube. Der Sturm läßt nicht nach, die Kälte nimmt zu. Zuweilen Schneetreiben. Das Wetter begünstigt die Russen. Die Atmosphäre in unserem Stall ist ganz schlecht. Decken und Uniformstücke werden in der Dämmerung an Frauen aus dem Ort verkauft, für eine Decke gibt es zoo Mark. Bei Tageslicht kommen dieselben Frauen und bieten Eier und andere Nahrungsmittel an. Sie werden gekauft, weil das Lazarett den 4. Verpflegungssatz hat, das ist der schlech- teste. Große Beträge, in ein paar Minuten mehrere hundert Mark, wechseln in Glücksspiclen, vor allem mit ›› 17 und 4«, ihre Besit- zer. Heute früh brachte ich einen erbärrnlichen Harmonikaspieler nur dadurch zum Schweigen, daß ich ihm fürs Stillsein zehn Zigaretten hot.

17. Marz 44. Der Abtransport hat begonnen. Ich liege schon in einem Tragbett im Zug. Das Nest, das wir verlassen, heißt Chol- badnaja.

18. März 44. Wir sind gestern in den Lazarettzug eingeladen worden, und damit wir uns gleich an das Tempo rumänischer Eisenbahn gewohnten, blieben wir bis 7 Uhr früh auf den Bahn- hofgleisen stehen. Der Zug, wenn auch behelfsmäßig, ist Viel besser ausgestattet als der vorige. Die Lager sind gefedert, 21 Mann füllen einen Waggon, sechs mehr, als Betten vorhanden sind. Sie liegen auf dem Boden. Die Nacht war meine schlechteste seit 14 Tagen. Die Schmerzen in den Beinen nehmen zu. Ich denke, es wird irgendwo nach Polen gehen. Wir stehen schon wieder fünf Stunden auf einem Bahnhof (Rebnica).

[Mit sich endlos hinziehenden Aufenthalten erreicht der Laza- rettzug am 26. März 44 Krakau, wo die Kranken der Sammel- stelle zugeführt werden. Starke Fieberanfälle wechseln mit besse- ren Stunden]

404

28. Marz 44. Noch in Krakau, des nächsten Zuges harrend. Nun bin ich gerade einen Monat lang krank. Hier gibt es viele Soldaf ten, die vorne waren, als die Russen loslegten. Offenbar war der Zug, in den ich verladen wurde, einer der letzten, der von Nowo Mirgorod abging.

30. März 44. Der Reisende befindet sich wieder im Zuge, 2. Klas- se, weil er so sehr krank ist. Ist er aber nicht. Der Zug hält im Augenblick in Graudenz. In dieser Stadt hielt sich der Reisende für drei Stunden auf, als er Ende Mai 1941 mit einem Vorkome mando nach Ostpreußen ging, worauf dann der russische Krieg bald begann. So schließen sich die Kreise. I-Iöehstwahrscheinlich fährt der reisende Soldat jetzt wieder nach Ostpreußen und wird, so will es ein Gerücht wissen, in Marienburg ausgeladen. Es ist, als habe sich eine höhere Reiseleitung überlegt, welcher reichsei- gene Ort am weitesten von Uberlingen entfernt ist, Aber das soll uns nicht verdriefšen, uns gelernte Eisenbal-ınfahrer. Das Mittag- essen kommt. Wir sind nur zu zweit im Abteil, der andere ist ein stiller Unteroffizier, der gleichfalls Wolynisches Fieber in den Gliedern hat. Die andern vier, die es bisher noch gab, wurden in Graudenz aus dem Zug geholt. Er vertröpfelt jetzt seinen Inhalt von Stadt zu Stadt. Die Nacht verbrachte ich im Gepäcknetz, dessen Stützen durch den Schlafsack hindurch mir Ringe in den Leib schnitten. Aber besser als Sitzen war es doch. In Krakau, am vorletzten Tag, stieß ich auf eine Bücherei im Soldatenheim und griff mit nachtwandlerischer Sicherheit eine Darstellung der Beziehung zwischen Ludwig II. Und Wagner heraus. Es war ein schauerliches Buch f aber das Thema entschuldigt bei mir alles.

Ich habe aber nicht nur diesen wilden Schmöker gelesen. In der Krankensamınelstelle zu Krakau, die uns vergessen machen woll- te, wo wir eigentlich sind, in welchem Staat, in welchen Verhält- nissen, gab es sogar einen kleinen Laden, und dort erwarb ich zwei Bücher, die nicht ganz übel waren: Arnold Ulitz, Der verlo- rene Ring, und: Der Sohn, von Arno Wegrich, erschienen in einem obskuren Krakauer Verlag. Ein tristes Buch und schon deshalb besser als das meiste, was seelisch aufrüsten soll. Erzäh- lung vom Tod eines Neunzehnjšihrigen zu Anfang des Krieges in Polen. Das erste Buch für mich, das, in diesem Krieg und von diesem Krieg hervorgebracht, nicht durch und durch verlogen ist.

405

Wir sind in Westpreußen. Nächste Station: alles aussteigen! Morgen hast Du eine normale Postadresse in Marienburg.

[Ich bleibe ein paar Wochen als Rekonvaleszent im Lazarett zu Marienburg. In dieser Zeit schreibe ich fast nichts; nur der Notiz- kalender wird regelmäßig weitergeführt. Dann bekomme ich ››Genesungsurlaub«, den ich in Überlingen verbringe, halte mich jedoch vorher ein paar Tage in Berlin auf.]

[An Agnes Ruoff]

zr. April 44, Berlin. Ich war in unserer alten Wohnung am Ro- seneck. Wie du weißt, hat S, sie übernommen. Sie bewohnt nur noch das große Zimmer, und auch dort sind die Scheiben teilweise durch Pappe ersetzt. Die Wände haben Sprünge und der hintere Raum ein Loch in der Außenwand, durch das ich kriechen könnte.

Der Wind wehte von der Ruine gegenüber Glassplitter auf die Straße, das Geräusch war unsere Tafelmusik. Morgen werde ich in Überlingen sein. Da sind die Scheiben noch heil.

[Am 5. Mai 44 endet der Urlaub. Der Marschbefehl lautet auf eine Kaserne in Kornwestheim bei Ludwigsburg in Württemberg.

Dort bleibe ich bis zum 1 1. Mai und werde dann zu einer Ersatz- einheit nach Esslingen kommandiert. Die Kaserne liegt über der auf einen steilen Hang gebauten alten Reichsstadt, die bis dahin von Bombenangriffen verschont geblieben war.]

I4. Mai 44. Stuttgart, Hotel Marquardt. In diesem Hotel fand der Bote König Ludwigs II. Den flüchtenden Richard Wagner. Zu uns kommt kein Bote und verkündet, er Wolle uns ins Paradies versetzen. Ein Teil der Fenster ist durchßretterverschlage ersetzt, auch das unterscheidet 1944 von 1 863. Ich gehe in ››Daphne<< von Strauß, eine »bukolische Tragikornödie«. Von Mama einen Brief.

Sie hat 2.6 Fässer Jauche in den Obstgarten fahren lassen und den ganzen übrigen Garten ums Haus selber gedüngt. Außerdem gibt sie französische, englische,italienische und spanische Stunden, weil seit Frau B.s Tod, bei der ich auch einmal englische Nachhilfe- stunden hatte, niemand mehr für solche Zwecke in Weilheim ist.

Sie hält es für Wahnsinn, daß Du in Deinem Zustand [Schwan- gerschaft] noch den Berg in die Stadt hinunterraclelst, und dieser Meinung schließe ich mich an.

Nach der Vorstellung. In ››Daphne« rankte sich das virtuose Ge- 406


klingel um den Ernst des Griechischen und bringt es um. Im Or- chester wurde ordentlich gespielt, auf cler Bühne leidlich gesun- gen, aber was die Schauspielkunst angeht, die man schließlich auch in der Oper erwarten darf, so war es allerletzte Provinz.

Das Theater ist alluminiumfarben und scheußlich. Das biedere Schloß der württembergischen Kënige ist zerstört, die Ruinen rek- ken ihre Mauern in den Maihirnmel, im Park ist unter den Ka- stanien Gerümpel aufgeschichtet, Bauschutt und verkohlte Bal- ken, und der runde Teich ist zur Hälfte von einem zerfetzten Tarnnetz überzogen. Zehn Jahre lang geackert, zehn Jahre lang gesät, jetzt ist Erntezeit.

Esslingen, 17. Mai 44. Beim Antreten zu Hilfsdiensten ließ ich mich bei einem kleinen Leutnant einteilen, cler im Laufe des Nach- mittags aufbrechen mußte, er ist irgendwohin versetzt. Zum er- stenmal in meiner militärischen Karriere fungierte ich als Offi- ziershursche und ››Putzer«, reinigte die Waschsehüssel, die es nötig hatte, und packte des Leutnants Koffer. Es lohnte sich, er sorgte dafür, daß ich frühzeitig aus der Kaserne kam. Er war rührend nett und fühlte sich geniert von meinem Tun. Ich hingegen gar nicht, ich bin trainiert für kommende Zeiten, keinerlei Dienst- leistungen werden mir entwürcligend vorkommen.

Durch ein Versehen versaumte ich in Stuttgart im Kleinen Haus »Maß für Maß« und ging statt dessen in »Heinrich und Anna« von Rehberg. Dieser Rehberg hat alles von Shakespeare, nur das Shakespearesche nicht. Was er da lieferte, war Historien-Illustra- tion. Das Theater war voll mit KdF-Publikum, und ich will Nep- tun heißen, wenn auch nur ein Viertel der Leute begriff, was sich auf der Bühne abspielte.

18. Mai 44. Heute früh durfte ich schon wieder nach Stuttgart.

Den schlechten Füßen, denen ich so manches verdanke, verclankte ich auch diese Fahrt zum Orthopäden. Erst seitdem so viel We- sens von ihnen gemacht wird, sind sie wirklich enorm platt und schwer beweglich.

In einer Buchhandlung ging die ältliche Verkäuferin, die den Chef vertrat, nach einer langen Unterhaltung an ein geheimes Lager und hatte die Gnade, mir Fahre-Luce, das vielgerühmte Tagebuch über Frankreich 1939/40, zu verkaufen. So lese ich jetzt drei Bü- cher parallel, die nicht verschiedener sein könnten: einen Fontane, den Franzosen und einen dünnen Band mit einem blöden Titel: 407


. _ . und die Quellen behalten das letzte Wort. Die Verfasserin heißt Anna Schieber. Das Bändchen kaufte ich, weil es von Ess- lingen handelt. I

In dieser Kaserne werden 1 go Italiener gedrillt. Italienische Kom- mandos hallen über den Exerzierplatz, sie klingen nicht melo- diöser als deutsche. 1 go Italiener irn Speisesaal riechen anders und machen sich akustisch anders bemerkbar als eine gleiche Zahl von Deutschen. Wenn ich mir die spiegelbildliche Situation vorstelle, Deutschland ist aus dem Krieg geworfen, ich kämpfe in Italien weiter und muß in Padua exerzieren, dann tun mir diese Bur- schen in der Seele leid. Sie aber sind so froh darüber, nicht an der Front zu sein, daß sie in den Laden hier geradezu eine heitere Note bringen.

Diese Schwaben sind immer noch nicht vollständig korrumpiert.

Sie haben sich in der Arbeit einen Rest von Sorgsamkeit bewahrt.

Der Mann, der in Stuttgart die Gipsabgüsse meiner Füße für die Einlagen machte, brachte nach der Prozedur eine Schüssel mit Wasser und ein Handtuch, er wusch und trocknete meine Füße sorgfältig. Ich kam mir vor wie ein Jünger Christi auf der Bühne von Oberammergau.

Heute lernte ich einen Mann kennen, der Hildebrandt heißt. Er ist Musik-Studienrat an einem rheinischen Gymnasium; als Ger- manist Schüler von Ernst Bertram, als Musiker von Braunfels, blieb er nicht in der Schule hängen. Er wurde Dirigent. Seine Frau ist eine angehende Bach~Sängerin, und nach den Bildern zu schlie- ßen, hat er eine entzückende Tochter namens Regine, drei jahre alt. Er macht sich auch seine Gedanken, und so habe ich plötzlich jemand, mit dem ich reden kann.

Ende Mai 44, Esslingen, Sonntag [ohne Datum]. Hildebrandt sagte gestern aus gegebenem Anlaß: Haben denn die Leute keine Kraft mehr zur Trauer? Du siehst, er spricht ein wenig unsere Sprache. Die Bekanntschaft mit ihm, die sich entwickelt, verän- dert meine Tage insofern, als ich nicht mehr ganz stumm zu sein brauche. Von H. abgesehen ~ in diesem Haufen von Nachrichten- soldaten weht doch eine etwas andere, nicht ganz so dumpfe Luft wie bei den Einheiten, bei denen ich die letzten Jahre verbrachte.

Bringe ein gutes Kleid mit, wenn Du kommst. H. und ich fahren fast jeden Abend nach Stuttgart ins Theater. Ihr werdet hier un- mittelbar neben der Kaserne wohnen, Flandernstraße 1 I, bei 408

Frau Klein. Jenseits der Straße wirst Du die untere Ecke der Ka- sernenrnauer sehen, die wegen des abfallenden Geländes an die- ser Stelle fast 4 m hoch ist. Drei Soldaten in Mänteln, Stahlhelm auf dem Kopf, und ein größerer, auch mit Stahlhelm, aber im üb- rigen nackt bis auf ein Schwert, das er züchtig vor sich hält, sind in die Mauer eingelassen, aus Tuffstein.Neben dem großen Nack- ten steht in riesigen Lettern: Das Paradies liegt im Schatten des Schwertes.

Den Zeitungen entnehme ich, daß die englische Regierung ein Verbrechen begeht, weil sie es offenbar doch auf eine Kraftprobe und damit auf eine Katastrophe für England ankommen lassen will, statt die Segel zu streichen und der »Neuordnung Europas« still zuzusehen. Dieser Churchill, ich muß schon sagen _ . .! Soll- ten unsere Zeitungen so laut bellen, weil etwas im Busch ist?

2.6. Mai 44 [Stuttgart] Im Hotel Graf Zeppelin trinke ich mit

Hildebrandt Tee oder was sich so nennt, und anschließend gehen wir in Mozarts Idomeneo. Heute beim Schießen fragte der Feld- webel: Wo haben Sie das gelernt?, nachdem ich 9, 12, I 1 Ringe mit den drei befohlenen Schüssen erreicht hatte. (Zuletzt War ich in Ingolstadt auf dem Schießstand und hatte dort kaum die Scheibe getroffen.) Daß ein Feldwebel ein gutes Haar an rnir fand, weckte in mir den Gedanken, wie ich wohl durch den Krieg gekommen wäre, wenn ich mir 1939 ein taktisch vernünftiges Konzept ge- macht hätte?

Auf zu Mozart. Hildebrandt sagt: Nun hör schon auf zu schrei- ben, das bringt ja doch nichts!!

27. Mai 44. ››Idomeneo« war insofern eine Enttäuschung, als ich dachte, die Oper wäre von Mozart, sie war aber von Strauss, d.h.

Eine Überarbeitung von ihm, und er hat nichts getan, sich stili- stisch zu verbergen, worin man allenfalls einen moralischen, aber bestimmt keinen musikalischen Vorzug sehen kann. Man hörte an diesem Fleckerlteppich, mit wie wenig Mitteln ein Genie aus- kommt und wie viele ein Talent braucht. Idomeneo sah wie eine Mischung aus Ludwig II. Und Balbo [ital. Minister für Flug- Wesen] aus. Die 40 Nachthemden aus dem >›Orpheus<< durften auch wieder auftreten. Irn z. Akt bekam eine Frau im Parkett einen epileptischen Anfall und schrie, bis man sie endlich hinaus- trug. Allen gefiel die Frau viel besser als die Vorgänge im Or- Chester und auf der Bühne.

409

28. Mai 44. Um I8 Uhr gingen wir in ›>Arabella<< und hielten drei Stunden aus. Dann beschlossen wir, nicht mehr so oft in die Oper zu gehen. Wir bekommen das Stuttgarter Mittelmaß lang- sam über. Arabella wog mindestens 2 Zentner.

[Aus dem Notizkalenderz] 1. juni 44. Abends in Stuttgart, Edith und Thomas auf dem Bahnhof abgeholt. Sie beziehen die Stube bei Frau Klein. Wir essen im Hirsch.

6. juni 44. Die beiden sind nun bald eine Woche da. Bei Frau Klein ist es nett. Thomas ist glücklich, bei der 7jährigen Ursula Klein schlafen zu dürfen in einem weißen Schlafzimmer. So et- was hat er noch nie gesehen. Im Garten ist ein Planschbecken, darin gibt es einen Frosch und tote Käfer, die Th. Herausfischt.

Wir machen auf dem Hügel kleine, E.s Zustand angemessene Spaziergänge. Die Kaserne sieht mich nur,wenn es unbedingt sein muß. Den Sonntag verbringen wir im Kleinsclıen kleinen Garten, weil ich in der Nähe der Kaserne bleiben muß (Išrandwachel).


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