„Das ist auch viel interessanter, da hocken Männer mit gebratenen Hühnern, mit Eiern,
mit Kwaß. Schwarz ist der Inhalt mancher Körbe, wenn jedoch der Händler mit einem
Wedel darüberfährt, so hebt sich die schwarze Decke in die Lüfte, sie bestand aus
Fliegen, und sichtbar werden metallisch glänzende Aprikosen, Kirschen, Äpfel und
Pfirsiche. Die wären nun für den hygienebeflissenen Europäer ungenießbar; zum Glück
sind wir nicht nur im Orient, sondern auch in Rußland, wo auf jedem Bahnhof eine
Therme sprudelt, der Kipjatok, das heiße Wasser für den Samowar; damit wäscht man
das fliegenbeschissene Obst, wenn man der hygienebeflissene Europäer ist.“
(Ebd.: S. 242-243)
Richter berichtet dagegen ziemlich ausführlich über die Üppigkeit des Essens, die
„
Völlerei
“ (Richter 1966, S. 31, 37), die für Usbeken eher „
ein bescheidenes Gastmahl
“
(ebd.: S. 31) ist. Er weist darauf hin, dass der Plow mit den Händen gegessen wird und
dass diese Art und Weise ihm schwer fällt (vgl. ebd.: S. 31) und dass „
alle [s]eine
Wünsche […] [in] immer neuen Gerichten, immer neuen ‚Gängen‘ erstickt
“ (ebd.: S.
37) werden. Er lernt viele usbekische Spezialitäten kennen, „
bis [s]ein Magen gegen
alle scharfen Gewürze, gegen Zwiebeln, Hammelfett und Pfefferschoten zu rebellieren
beginnt
“ (ebd.: S. 73).
Auch Richard Christ berichtet, wie einst Henri Moser, dass während eines usbekischen
Festmahles Tee, Süßigkeiten und Obst zuerst auf den Tisch kommen, in einer für die
europäische Sicht umgekehrten Reihenfolge (vgl. Christ 1976, S. 144).
Er schreibt außerdem:
235
„
Geschichten würzen das Mahl. Viele Geschichten, denn das Essen dauert länger als
fünf Stunden.
“
(Christ 1976, S. 146)
Die metaphorische Personifikation „
Geschichten würzen das Mahl
“ vermittelt dem
Leser die wichtige Funktion der Mahlzeit, also ihre kommunikative Funktion. Im
Vergleich zu manchen anderen Kulturen, wo beim Essen nur wenig oder gar nicht
gesprochen werden darf – im Russischen gibt es ein Sprichwort: „Когда я ем – я глух
и нем“, transkribiert „Kogda ja jem – ja gluh i njem“, deutsch „Während des Essens bin
ich taub und stumm“ – wird in Usbekistan beim Essen viel erzählt, besprochen und
gelacht. Dadurch, wie Christ ebenfalls berichtet und worüber sich Richter etwas ärgert,
dauert ein Fest- bzw. Gastmahl viel länger als im Westen. Die vielen Gänge beim
Essen sind zur Ehre des Gastes gedacht.
Typisch für Richard Christ ist, dass er in seinem Reisebericht immer wieder
Apostrophe als Stilmittel („
Aber da, meine Teure,…
“ (ebd.: S. 141, 144, 146))
verwendet, somit bekommt der Leser das Gefühl, als ob er die Briefe des Autors an
seine Frau lesen würde. Ein weiteres typisches Stilmittel für Christ sind die
humorvollen metaphorischen Periphrasen, wie z. B.:
„
Freilich war mir in meiner Übersattheit eine Spur bänglich, denn soviel wußte ich
schon, das Hauptgericht kam zum Schluß, der Himalaja über allen anderen Gerichten:
der Plow.
“
(Ebd.: S. 146)
Der Vergleich des Plow mit dem Himalaja drängte sich Christ sicher auf, weil sich
dieser wie ein Berg in der Schüssel türmt. Im Weiteren erzählt er etwas detaillierter
über den Plow, seine Zutaten und die Zubereitung. Christ vergleicht den Plow mit dem
Dresdener Weihnachtsstollen:
„
Plow kann auf mindestens achtundvierzig Arten zubereitet werden, vielleicht ist es
sogar so, daß so viele Rezepte vorhanden sind, wie Männer Plow zubereiten,
vergleichbar der Dresdener Weihnachtsstollen, wo auch jedes Haus nach eigener
sorgsam gehüteter Zutatenliste bäckt.
“
(Ebd.: S. 146)
Er berichtet, wie unentbehrlich und wichtig der Plow bei einem Festmahl ist, nennt ihn
„
eine gebieterische Übereinkunft bei allen Festmahlen
“ (ebd.: S. 147).
236
Er erwähnt, wie v. Schweinitz, noch einen interessanten kulturellen Aspekt, den
Prozess des Brotbrechens
62
:
„
Kamo bricht kleine runde Brotlaibe, kommt um den Tisch, legt dem Gast vor. Das Brot
heißt Libjoschka, es darf nicht geschnitten werden.
Warum bitte?
Es gefällt Gott nicht, sagt Boris, der Philosoph.
“
(Christ 1976, S. 145)
Auch in folgendem Beispiel ist das Stereotyp ‚
Der Gast muss essen
‘ gut erkennbar.
Christ erlebt, wie man als Gast immer wieder zum Essen aufgefordert wird. Alle sind
besorgt, ob der Gast gut isst. Nun will aber der Autor dies verweigern. Er verweist
indirekt mit Humor auf Vámbérys Worte „
‚Nicht mehr essen können‘ ist ein Ausdruck,
den der Mittelasiate für unglaublich, ja für recht ungezogen hält.
“ (Vámbéry 1983
[1865], S. 176).
„
‚Essen Sie‘, fordert der Koch auf. ‚Vielleicht haben Sie ein problemreiches Stück
Hammel erwischt? Warten Sie, ich suche ein besseres heraus, an dem mehr dran ist.‘
Ich wollte abwehren, trotz Vámbérys Warnung vor der Ungezogenheit.
(Christ/Kállay 1979, S. 147)
Do'stlaringiz bilan baham: |