Thema 1: Wesen und Aufgaben der Phonetik. Physiologie und Akustik der Sprachlaute


III.3. Geschwächte Formstufen der deutschen Standardaussprache



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Vorlesung Theoretische Phonetik

III.3. Geschwächte Formstufen der deutschen Standardaussprache
Hier sind eigentlich zwei Arten der Rede zu unterscheiden: eine gemäßigte und eine lässige, die nicht selten an die Umgangssprache grenzt. Das ist immer eine unvorbereitete (spontane) Rede bald in Monologform mit unterschiedlichem Grad an Offizialität bald in Form eines Alltagsdialogs. Die Rede kann sachlich-informierend gestaltet werden (Betriebsreportage, Kommentar) oder aktivierend-emotionell (Sportreportage u.ä.).
Die gemäßigte Formstufe ist eine Lautung mit großer Zahl der assimilierten und reduzierten Formen.
Als phonetische Besonderheiten dieser phonostilistischen Variante gelten sowohl quantitative als auch qualitative Reduktionen der Vollvokale in Dienstwörtern (Artikeln, Pronomen, Partikeln usw.), das Anwachsen der assimilierten Formen, Schwächung der Aspiration der Fortes, Gebrauch des velaren [ʁ] und des vokalischen [ɐ]. Die abgeschwächte Artikulations­spannung kennzeichnet diese Variante. Als Folge davon erscheinen Elisionen (komprimierte Formen), Lautverlust (Lautabstoßung), das velare [ʁ] und das vokalische [ɐ]. Sie kommen in akzentlosen schnell gesprochenen Wortgruppen besonders deutlich zutage.
Für die intonatorische Gestaltung dieser Variante ist das Aneinander­reihen der kurzen Syntagmen mit Halbschluss und Überlegungspausen sowie die ungleichmäßige Verteilung der akzentuierten Silben typisch.
Eine große Zahl von Reduktionen dieser Variante sind oft auch eine Folge von scharfen Kontrastierungsmöglichkeiten der deutschen Satz­betonung, die von der semantisch wirksamen kontrastiven Betonung bis zu den verschiedenen expressiven Aufstockungen, die phonetisch als Ver­schärfungen der melodischen, dynamischen und temporalen Kontraste (gegenüber der Akzentumgebung) zu definieren sind, im Ausspruch wirken [39, S. 15]. Die für die deutsche Sprache typische zentrierende Betonung ruft eine geschwächte Realisation der Vor- und Nachsilben hervor. G. Meinhold führt diese Erscheinung auf die sog. physiologische „Relaxation“- zurück, d.h. die Erschlaffung der artikulierenden und stimmbildenden Organe, z.B. am Satzschluss oder nach einer starken Akzenthervorhebung.
Für den Aufbau der ungezwungenen spontanen Rede ist das „Stückweise-Verfertigen“ charakteristisch [50, S 185-187]. Diese Struktur entspricht dem Denkprozess beim spontanen Sprechen und äußert sich im Aneinanderreihen kurzer, durch Pausen abgesonderter Syntagmen mit Halbschluss. Die Intonation wird durch scharfe Melodiekonturen, starke Variabilität des Tempos und der Lautheit, durch Überlegungspausen und Stockungen, durch das intonatorische Zusammenwirken der Grenzteile einzelner Aussprüche gekennzeichnet. An der Gestaltung der spontanen Rede nehmen auch Gestik und Mimik teil.
Die lässige spontane Rede bildet das alltägliche Unterhaltungs­gespräch, das nicht offiziell, im Familienkreis, unter Freunden geführt wird. Wie gesagt, ist dabei die Aussprache luschig, enthält viele phonetische Erscheinungen der Umgangssprache.
Das Alltagsgespräch kann ruhig, sachlich-informierend oder emotional stark gefärbt sein. Minimale Deutlichkeit der Lautung mit maximaler Zahl der Assimilierungen (Elisionen und Lautverlust), Öffnung und Zentrali­sierung der Vollvokale, Vokallosigkeit in Synsemantika, Spirantisierung der Konsonanten sind Folgen der minimalen Artikulationsspannung, die diese Variante auszeichnen. Diese Formen sind auch Folgen des beschleunigten Tempos und des unterschiedlichen Grades der Akzentuierung. Sie können auch dialektaler Herkunft sein. Hier dominiert das vokalische [ɐ]. Es kommt zu einer Spirantisierung der Verschlusssprenglaute b, d, g – w, ð.
Scharf kontrastierende Melodie mit Halbschluss, variables Tempo, Verminderung der Zahl der akzentuierten Silben im Ausspruch und Verstärkung des Akzents auf der betonten Silbe sind Kennzeichen der intonatorischen Gestaltung dieser phonostilistischen Variante.
Das Unterhaltungsgespräch wird durch den Austausch von Äußerungen zwischen den Gesprächspartnern charakterisiert. Der Sprecher und der Hörer wechseln ihre Rollen ab. Bereits in dieser Wechselbeziehung liegt eine höhere kommunikative Wirksamkeit als in der Rede, weil zwischen den Kom­munikationspartnern im Gespräch ein unmittelbarer Kontakt entsteht, wobei die Rückinformationen schneller verlaufen als in der distanten Rede in Monologform. Die Äußerungen der Gesprächspartner hängen von der konkreten Situation und von der sprechsprachlichen Partnerreaktion ab.
Im Unterschied zum Klärungsgespräch (siehe: die Formstufe IIa nach Meinhold) hat das Unterhaltungsgespräch einen überwiegend zufälligen, intimen, emotional-gefärbten Charakter. Es wird in ungezwungenen, nicht offiziellen Situationen verwendet. Das Unterhaltungsgespräch ist zumeist nicht geplant, ist in Bezug auf Thema, Form und Verlauf ungebunden. Es wird dabei keine formelle Vollständigkeit der Sätze verlangt, Elisionen herrschen vor. Die Rationalisierung des strukturellen Aufbaus und der phonetischen Gestaltung der Sätze ist situationsbedingt, weil die Situation in diesem Fall eindeutig ist, z.B. Schönes Wetter, was?, Ein Glas Limonade? Einen Kaffee bitte! Es kommt auf den Grad der Ungezwungenheit des Gesprächs an, der dem Sprecher einen größeren Spielraum der phonetischen Gestaltung seiner Rede gewährleistet und ihm das Abgleiten in die Umgangssprache ermöglicht. Die phonetischen Besonderheiten dieser Variante veranschaulicht folgendes Beispiel:
[ ¿ vɔ (l)n zi (zǝ) fla͜eç liwɐ mɔɐŋ kɔm: ].
(„Wollen Sie vielleicht lieber morgen kommen?“).
Das Unterhaltungsgespräch stellt eine logisch-semantische, grammatische, lexikalische und prosodische Ganzheit dar. Der folgende Dialog kann als Beispiel dienen:
– Entschuldigen Sie bitte, können Sie mir eventuell sagen, wie ich von hier zum Stadion der Weltjugend komme.
– Ja, ich muss erst mal überlegen. Aha, also Sie müssen jetzt durch diesen Tunnel gehen, den Sie hier sehen. Und auf der anderen Seite, wenn Sie ’raus kommen, ist 'ne Bushaltestelle...
In diesem Dialog erscheinen solche Züge des Unterhaltungsgesprächs wie die große Zahl der Sprechtakte mit Halbschluss, Überlegungspausen usw. Eine geringe Zahl von betonten Silben ist auch für diesen Sprechtext typisch. Die intonatorische Hervorhebung der ersten (akzentuierten) und der letzten akzentuierten Silbe im Sprechtakt führt zur Abschwächung der zwischen ihnen liegenden Silben, zur Tonsenkung, zur Entstehung eines großen Tonhöhenintervalls zwischen den unbetonten und betonten Silben. Der Tonanstieg erfolgt erst am Ende des Sprechtaktes.
Beim Unterhaltungsgespräch verfolgt der Hörer besonders aufmerksam die Intonation des Sprechers, um seine Gedanken besser zu erkennen und seine Absichten zu verstehen. Dabei wird der Gedanke vom Gesprächspartner fortgesetzt, weiterentwickelt und sogar umgeformt.
Im Unterhaltungsgespräch ist es meist schwer, einzelne Sprechtakte und Aussprüche herauszugliedern, da hier oft einige Glieder überhaupt fehlen. Das Fehlende wird vom Gesprächspartner aus dem Kontext hergestellt. Im Dialog ist oft die Tonführung nicht abgeschlossen, das zeigt, dass das Gespräch noch nicht zu Ende ist. Der Sprecher gibt damit seinem Partner die Möglichkeit, das Gespräch zu vollenden.
Obwohl jeder Gesprächspartner seine eigenen Sprechbesonderheiten aufweist, d.h. sein Sprechtempo, seine Lautstärke, Pausierung usw., kommt es im Unterhaltungsdialog zu einer Art Ausgleich der intonatorischen Gestaltung der Rede, weil die Gesprächspartner während des Gesprächs einander intonatorisch beeinflussen. Der emotionale Zustand eines Gesprächspartners findet seinen Ausdruck in der Intonation, vor allem in der Tonhöhe, Lautstärke, in der damit verbundenen Klangfarbe und im Sprechtempo. Die Antwort (besonders der Anfang der Antwort) kommt oft in demselben Ton. Der folgende Dialog veranschaulicht das.
So eine intonatorische Ausgleichung kann nicht zustande kommen, wenn die Gesprächspartner sozial ungleich sind. In diesem Fall werden die prosodischen Mittel wie Tonhöhen, Stimmfarbe, Lautstärke, Tempo usw. unterschiedlich gebraucht, so dass die Rede des einen Sprechers einen Kontrast zur Rede des anderen darstellt. Als Beispiel können folgende Sätze aus einem Dialog dienen:
– Ah, guten Morgen, Herr Kunze! Schön, dass Sie noch kommen. Sie kommen ja schon wieder zu spät.
– Ja, es ist mir wirklich sehr peinlich.
Zusammenfassend sei noch einmal wiederholt, dass die Gesamtheit der Kommunikationsbedingungen die phonostilistische Gestaltung jeder Variante bestimmt. Diese Einteilung kann man nur relativ genau vornehmen, weil die Grenzen zwischen den Texttypen fließend sind und lautliche bzw. intonatorische Besonderheiten manche Mischformen aufweisen.

1 Der linguistische Terminus «Phonetik» hat zwei Bedeutungen: a) Phonetik als Lautliches (Materielles) einer Sprache, als Gesamtheit lautlicher Ausdruckmit­tel; b) Phonetik als Lautlehre, als Lehre von den lautlichen Ausdrucksmitteln einer Sprache.

2 F. de Saussure. Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Ber­lin und Leipzig, 1931, S. 11, 16, 21 ff.

3 W. Meyer-Eppler. Grundlagen und Anwendungen der Informations­theorie, Berlin—Göttingen—Heidelberg, 1959.

4 K. Marx und F. Engels. Die deutsche Ideologie. Berlin, 1953, S. 27.

5 K. Marx und F. Enge1s. Die deutsche Ideologie. Berlin, 1953, S. 473.

6 W. I. Lenin. Ausgewählte Werke. Bd. 3, Berlin, 1967, S. 262.

7Siehe: Shannon C. E. und Weaver M, The Mathematical theorie of Communication, Urbana, 1949, S.. 7

8Zur sprachlichen Kommunikationskette siehe:W. M e y e r - E p p 1 e r, Grundlagen ……..S. 1—5.
G. L i n d n e r. Einführung in die experimentelle Phonetik, Berlin, 1961, S. 13ff.

9Siehe: die Arbeiten von L. W. Stscherba, L. R. S i n d e r, R. I. Awa­nessow, A. A. Reformatski und anderen sowjetischen Phonetikern und Phonologen.

10Л. В. Щ e p б a. Избранные труды по языкознанию и фонетике, т. 1, Изд. ЛГУ, 1958, стp. 23.

11 H. C. T p y б e ц к о й. Ocновы фонологии. Русский перевод, M. 1960, S..22.

12 А. M a p т и н e. Принцип экономии в фонетических изменениях. M., I960, cтp. 57.

13 Н. Pilch. Phonetics, phonemics and metaphonemics. The Hague, 1964, S. 902.

14 B. M a l m b e r g. Terminologisches und Begriffliche zur Methodik der phonematischen Beschreibung. Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung, 1963, B. 16, H. 1—3.

15 Siehe dazu: E. F i s c h e r-J ø r g e n s e n. Remarque sur les principes de analyse phonemics—TCLC, 1949, S. 5

16 N. S. T r u b e t z k o y unterscheidet in Anlehnung an K. Bühler 3 Funktio­nen der Sprache: 1. explikative:
2. expressive; 3. appelative. Wenn man die drei Funktionen in der Phonetik studiert, so wird der Umfang der phonetischen Untersuchungen erweitert. Sie umfassen dann nach N. S. Trubetzkoy explikative Pho­nologie und Lautstilistik. Siehe:H. C. T р у б е ц к о й. Ocновы фонологии. М., 1960, cтp. 22.

17R. H u s s o n. Der gegenwärtige Stand der physiologischen Phonetik, Phonetica, voll 4, № 1, 1959.

18Vgl. die Äußerung von Panconcelli-Calzia: «Die Atmung ist—ein sekundä­rer Faktor bei der Stimmerzeugung». Wiss. Zs. der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg, Ges-Sprach., Jgg. V, H. 3, Halle, Febr. 1956, S. 403 ff.

19O. F. R a n k e und H. L u l l i e s. Gehör, Stimme, Sprache. Berlin, Göt­tingen, Heidelberg, 1953, S. 213.
B. S c h l o s s h a u e r: «Kann die myoelastische Stimmtheorie von heute ver­treten werden», in: Zs. f. Phonetik u. allg. Sprachwiss. Bd. 10, H. 4, Berlin, 1957. S. 307 ff.

20H. И. Ж и н к и н. О теориях глосообразования. M., 1963. Ähnlichen Standpunkt vertritt auch E. Kurka: Kleine Enzyklopädie, Die deutsche Sprache, 2. B. Leipzig, 1970, S. 754.

21H.-H. Wängler. Grundriß einer Phonetik des Deutschen, 2. Augsburg, I968, S. 70.

22H.-H. Wängler. Uber die Funktion des weichen Gaumens heim Sprechen, Wiiss. Zs. d. Martin—Luther Universität Halle—Wittenberg, 1962, S. 1747 ff.



23Der Terminus wurde von L. Hermann empfohlen: Phonophotographaische Untersuchungen, Pflügers Archiv. Phvs. 1889 bis 1895.

24Zur Resonanztheorie und zum Resonator siehe: O. Zacher, Deutsche Phone­tik, Leningrad, 1969, S. 44 ff.

25G. Lindner. Einführung in die experimentelle Phonetik, Berlin 1969, S. 74.

26G. L i n d n e r. Ebenda, S. 76.

27Ausführlicher dazu: O. Zacher, Deutsche Phonetik, Leningrad 1969, S. 41.

28Z. B. A. И. T о м с о н. Общее языковедение. Oдecca, 1910. Er schlug vor, alle Laute in silbische und unsilbische einzuteilen und trat energisch gegen ihre Einteilung in Vokale und Konsonanten auf.

29E. Sievers. Grundzüge der Phonetik. Leipzig, 1876, S. 26.

30J. Forchhammer. Die Sprachlaute in Wort und Bild. Heidelberg, 1942, S. 10.

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