ii) Die “Bohemien-Status-Hypothese”
Abschließend zu Kap. II) wurde aufgrund der Literaturdurchsicht sowie der Befunde der “Vorstudie 81/82” die Hypothese formuliert, die Angehörigen der in dieser Arbeit interessierenden “Szene” hingen im Zusammenhang ihrer gemeinschaftlichen popularmusikalischen Tätigkeit wenigstens zeitweilig einem “Bohemien”-Lebensstil an.
Dass diese Annahme auf einige der “Vorstudien”-Musiker439 sowie auch auf Kollegen aus deren Dunstkreis zumindest zum damaligen Zeitpunkt (Anfang der 1980-er Jahre) zutraf, ergab sich aus dem empirischen Material (siehe Lederjacke II.). Auch kann aus Statements über die Bedeutung des “eigenen Musikstils” auf die Verbreitung geistiger Werte zeitgemäßer Bohéme auch unter den untersuchten AkteureInnen geschlossen werden : In dieser Weise äußerten sich z.B. Teilnehmer der “Vorstudie 81/82”, die eher ernsthaft ihrem Studium nachgingen und deren popularmusikalische Combotätigkeit vor dem Hintergrund ihrer “verlängerten-Adoleszenz”-Phasen zu sehen war 440.
Auf eine Betrachtungsmöglichkeit einer vergleichbaren Art neuer “Bohemien”-Einstellung (DJ) als ideologischer Hintergrund des Popularmusik-Genres der sog. “progressiven Rockmusik” von Ende der 1960-er bis etwa Anfang der 1980-er Jahre (DJ, Spaß I./II.) ließe sich zwar unter Berücksichtigung eines entsprechenden Zeitgeisthintergrundes interpretieren (DJ, Spaß II.), allerdings scheint auch in diesem Zusammenhang massenmediale Vermittlung auf 441 : Als Stichwort mag dabei die popularmusikbezogene “Ideologie” der Hippie-Subkultur dienen.
Die Hypothese II), gemäß der behauptet wurde, die Ausübung der popularmusikalischen Tätigkeit ginge zusammen mit der - zumindest zeitweiligen - Teilnahme an einem zeitgemäßen “Bohemien”-Lebensstil, kann aufgrund des vorliegenden empirischen Materials nicht bestätigt werden - wiewohl anderseits nicht bestritten wird, dass einige Teilnehmer der “Vorstudie 81/82” derzeitig einem solchen Lebensstil anhingen und eine solche Vermutung auch für Angehörige der neueren “Szene” Gültigkeit besitzen dürfte. Allerdings können keine diesbezüglichen “empirischen” Befunde zur Überprüfung dieser Annahme herangezogen werden, da derartige Untersuchungen über die lokale “Szene” nicht existieren.
Es soll hier ferner die Vermutung festgehalten werden, dass für die Herausbildung und zeitweilige Existenz zeitgemäßer “Bohemien”-Lebensstile - mit oder ohne Popularmusik-Bezug - sowie deren größere Auftretenswahrscheinlichkeit Ende der 1970-er/Anfang der 1980-er Jahre aufgrund der günstigen gesamtwirtschaftlichen Situation, - im Sinne von Brake - bessere Bedingungen vorhanden gewesen sein dürften als in der Gegenwart.
Dass die Begleitung der interessierenden musikalischen Tätigkeit durch Bohéme-Werte in gewissem Sinne Zeitbezug unterliegt und in welcher konkreten Art und Weise sich dieser Zeitbezug in der popularmusikalischen Gruppenpraxis wiederfinden kann, zeigt das Beispiel einiger hiesiger Nachwuchs-Musiker (teilnehmende Beobachtung), die ihrer Musikgruppentätigkeit gewissermaßen zweigleisig - auf einem reproduzierenden und einem kreativen Strang – nachgingen : So beginnt man als reine “Reproduktions-Combo” zunächst mit dem Nachspielen bekannter Rock-/Popstücke vorzugsweise der 1970-er Jahre 442.
Mit leicht veränderter Besetzung wird von den Musikern nach einiger Zeit auch eine “Kreations-Gruppe” ins Leben gerufen, deren Repertoire überwiegend Eigenkompositionen enthält, während mit einem Teil dieses Personals - unter dem alten, bereits lokal bekannten Namen - die “Reproduktions-Gruppe” weiter betrieben wird.
Mit der “Kreations-Gruppe” nehmen die Musiker in Eigenregie eine CD auf und beteiligen sich an Nachwuchswettbewerben. Anscheinend versucht man, mit der Combo eine Art “Karriere” in Angriff zu nehmen. Allerdings sinkt - im Vergleich zu der “Reproduktions-Gruppe” - für die “Kreations-Gruppe” zunächst die Zahl der Auftritte, wiewohl man sich andererseits auch um mehr überregionale Präsenz bemüht. Die eigene CD, von der man eine Auflage von 1.000 Exemplaren hatte herstellen lassen, scheint sich außerdem relativ gut zu verkaufen.
Wie es z.Zt. um die “Kreations-Gruppe” bestellt ist, ist nicht genau bekannt, wohl aber, dass einige Combo-Mitglieder mittlerweile aus Studiengründen einen Ortswechsel vorgenommen haben, dass die Gruppe trotzdem in immer wieder anderen Besetzungen weiterbesteht und dass sich für die Musik der Combo zwischenzeitlich ein interessierter Verwerter sowie Sponsoren gefunden hatten und ferner überregionale Tournee-Aktivitäten durchgeführt wurden 443. Es kann inzwischen aber davon gesprochen werden, dass es sich bei dem Kontakt “Kreations-Gruppe” zur “Welt der professionellen Popularmusik” um eine ephemere Angelegenheit gehandelt hat.
Dass die betreffenden Musiker sich von ihrer popularmusikalischen Tätigkeit auch Spaß versprochen und wohl gehabt haben dürften, kann sicher nicht auf das Aufscheinen spezifischer “Bohéme”-Werte hin interpretiert werden. Nicht zuletzt mag sich ein gewisser Spaßgewinn auch aus dem reproduktiven Teil der musikalischen Tätigkeit ergeben haben. Aus dem Umstand, dass man jedoch erst mit eigener Musik eine überregionale Karriere zu machen versucht, kann auf ein verändertes Selbstverständnis zeitgemäßer lokaler Rockbands geschlossen werden, zumindest gegenüber den Beat-Combos der 1960-er Jahre, denen es - gemäß Spaß und Beat - reichte, fremde Beat-Stücke zu reproduzieren und deren Mitglieder sich die Anfertigung eigener Kompositionen nicht zugetraut hatten. Dies gilt aber auch gegenüber den Musikgruppen aus der “Vorstudie 81/82” - zumindest insofern, als dass man der Reproduktion fremder Musikstücke in der gemeinsamen musikalischen Tätigkeit einen sehr großen Stellenwert einräumt und sich daraus ergebende Publikumserfolge auch nicht verschmäht werden.
Obwohl man mit der “Reproduktions-Gruppe” zunächst auf regionaler Ebene - was Auftrittshäufigkeit und materielle Messbarkeit der Gagenhöhen anbelangt etc. - mehr Erfolg hatte als mit der “Kreations-Gruppe”, scheint in den Aktivitäten der Musiker eine Einstellung etwa der Art auf, als ernstzunehmende Rockgruppe könne man nur mit eigenem Repertoire - eigener Musik - und unverwechselbarer Note richtig bzw. überhaupt Karriere machen.
Insofern ergeben sich hier nicht nur gewisse Parallelen zu Statements von Teilnehmern der “Vorstudie 81/82”, sondern auch zur Einstellung einiger Protagonisten der “progressiven Rockmusik” der 1970-er Jahre (vergl. DJ), die hinsichtlich ihrer künstlerischen Belange Eigenverantwortlichkeit und Unabhängigkeit gegenüber Bevormundung durch etwaige Verwerter einforderten. Auf massenmediale Vermittlung kann in diesem Zusammenhang insofern interpretiert werden, als dass auch die letztgenannten “progressiven” Musiker-Protagonisten als Bestandteil des Frith´schen popularmusikalischen Massenmedien-Phänomens firmierten - ferner auch auf eine gewisse “ideologische” Natur der geschilderten Auffassung, zumal für die betreffenden Musiker aus ihrer so in Angriff genommenen “Karriere” zunächst keinerlei wirtschaftliche Vorteile erwuchsen.
Deswegen wird an dieser Stelle die Behauptung formuliert, dass es sich bei der Absicht der Akteure, im Rahmen ihrer gemeinschaftlichen musikalischen Tätigkeit eigene Musik machen zu wollen, sogar inzwischen um eine Art seit den 1960-er Jahren gewachsenes “Understatement” handeln dürfte - gewissermaßen eine Tradition, gemäß der die musikalische Tätigkeit ausgeübt wird : Auch in anderen Statements “jüngerer” Interviewter 444 wird den Aspekten der “künstlerischen Authentizität” und der “Selbstverwirklichung durch popularmusikalische Tätigkeit” große Bedeutung zugewiesen. Demgegenüber kann von einer Orientierung an der Musik und der diesbezüglichen Ideologie der 1970-er Jahre nur mit Einschränkungen gesprochen werden (Independent).
Stattdessen bietet sich die Sichtweise an, dass die Akteure sich in Entsprechung zu dem Mitte des 19-ten Jahrhunderts aufgekommenen Bild des nur für die Erfüllung seiner künstlerischen Sendung lebenden Künstlers befinden, der an wirtschaftlichen Erwägungen bzw. Verwertungsabsichten uninteressiert ist. Als “zeitgemäße Bohemien” würden sie somit im Rahmen ihrer musikalischen Tätigkeit im Einklang mit der Tradition “bürgerlicher” Kunstausübung des 19-en Jahrhunderts handeln - mit dem Unterschied, dass zumindest einige Akteure sich über eine Popularmusik-Praxis gemäß “l´art pour l´art” bisweilen auch wirtschaftlichen Erfolg versprechen 445.
Obschon die meisten der interessierenden MusikerInnen ihre Musik i.d.R. nicht notieren - ein Umstand, der in der Popularmusik-Praxis verbreitet ist -, wird dennoch großer Wert auf eine Art werkgetreuer Wiedergabe der eigenen Musik gelegt, und man bemüht sich, die Kompositionen bei unterschiedlichen Anlässen in klanglicher sowie musikalischer Hinsicht möglichst identisch aufzuführen. Die hier aufscheinende “klassische Tradition” der Werktreue, die - im Gegensatz zur Aufführungspraxis z.B. des Jazz - eine mehr oder weniger immer wieder gleiche bzw. authentische Aufführbarkeit von Musikstücken impliziert, bildet sich darüber bisweilen auch in dem Sachverhalt ab, wenn von den interessierenden MusikerInnen u.U. im Bereich der eingesetzten Technologie erhebliche Geldinvestitionen vorgenommen werden 446.
Vor diesem Hintergrund bietet sich die Interpretationsmöglichkeit an, auch die im vorangegangenen beschriebenen selbstinitiierten Tonträgerveröffentlichungen als Teil dieser Tradition aufzufassen. Andererseits scheint aber auch Nachahmungsverhalten des popularmusikbezogenen auf, welches u.a. durch die sinkenden Kosten für Tonträgerherstellung/-vervielfältigung begünstigt werden dürfte.
Seit etwa den 1960-er Jahren steigt die Bedeutung der “verlängerten Adoleszenz” für die zeitliche Konstanz musikalischer Tätigkeit : Während nicht wenige Angehörige der Osnabrücker Beat-Gruppen-Szene der 1960-er Jahre - so Beat und Spaß - Auszubildende waren, rekrutierte sich bereits der Großteil der “Vorstudien”-MusikerInnen aus dem Studenten-Lager, und auch für viele “jüngere” Teilnehmer der interessierenden “Szene” 447 trifft diese Rahmenbedingung zu. Allerdings muss eingeräumt werden, dass quantitative Vergleiche über Zeit hinsichtlich der Zusammensetzung der “Szene”, der einzelnen Combos und/oder “Szene”-Cliquen hier fehlen.
Ob das oben beschriebene Verhalten der Nachwuchsmusiker etwa gemäß einem der Ergebnisse der “Shell-Jugendstudie `97” zu betrachten ist448, wonach viele ältere Jugendliche bzw. junger Erwachsene sich vor dem Hintergrund unter jungen Menschen zunehmend verbreiteter Zukunftsängste in der Phase der sog. “Post-Adoleszenz” mehr auf Erwerb von berufsbezogenen zusätzlichen Qualifikations-Aspekten orientieren, kann hier nicht weiter diskutiert werden. Zu diesem Zweck müssten einschlägige Motivationstheorien konsultiert wie auch zusätzliche im Zusammenhang dieser Untersuchung nicht verfügbare biographische Materialien über die betreffenden Akteure herangezogen werden.
Hinsichtlich der Ablehnung der Hypothese II) seien die Befunde im folgenden zusammengefasst festgehalten :
Während zwischen der Osnabrücker Beat-Welle der 1960-er Jahre und dem lokalen Tanzmusiklager eine gewisse Nähe bestand (Beat, Spaß), nach Abflauen dieser Welle einige Musiker und Combos zur Tanzmusik überwechselten (Spaß) und andere wenige Angehörige dieser “Szene” dem professionellen Lager beitraten und dabei auch in Kontakt zu gesellschaftlichen Randgruppen kamen (Beat), wurde die popularmusikalische Tätigkeit der “Vorstudien”-MusikerIn-nen durch Werte begleitet, bei denen es sich im wesentlichen um Werte aktueller jugendkultureller “Bohéme” (z.B. der Hippies - vergl. Willis) handelte, weniger durch einen entsprechenden Lebensstil der Akteure.
Wie bei den meisten Teilnehmern der “Vorstudie 81/82” ist auch für viele jüngere Akteure verlängerte Adoleszenz eine bedeutende Rahmenbedingung der musikalischen Tätigkeit. Ebenso scheint nach wie vor - wenn auch verdünnt - die popularmusikbezogene Ideologie der 1970-er Jahre bzw. Elemente davon, als eine Art popularmusikalische(s) “Understatement” oder “Tradition” auf. Der Lebensstil der Mehrheit der befragten AktuerInnen steht allerdings nicht bzw. kaum in Entsprechung dazu. Die Aspekte der künstlerischen Authentizität und der Selbstverwirklichung durch popularmusikalische Tätigkeit wären vor diesem Hintergrund eher in Entsprechung zu einer Form der Kunstausübung zu sehen, die einer Mitte des 19-ten Jahrhunderts aufgekommenen “bürgerlichen” Vorstellung des “l´art pour l´art”-Prinzips verpflichtet ist.
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