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Die oben erwähnte Theorie von Wilhelm v.
Humboldt diente dem
Sprachwissenschaftler Leo Weisgerber (1950) als Anstoß für seine Hypothese über
das sprachliche Weltbild
, wo er den sozialen Charakter der Sprache hervorhebt und
sie als entscheidende Rollenträgerin in der Entwicklung der Kultur beschreibt (siehe
dazu Abschnitt 2.3.2). Auch die Sapir-Whorf-Hypothese
1
, dass die Sprache sich auf
die Wirklichkeit, somit auf die Kultur auswirkt und die Denkweise der Sprachträger
beeinflusst, gehört zu den Impulsansätzen der Linguokulturologie.
Den ersten Schritt zur Etablierung der Linguokulturologie machten die
Fremdsprachendidaktiker Vereŝagin und Kostomarov mit der Erarbeitung des Faches
Linguolandeskunde
(auf
Russisch
ʻлингвострановедениеʼ,
auf
Deutsch
ʻsprachbezogene Landeskundeʼ) und dessen Einführung in den Lehrplan der
russischen Fremdsprachenphilologie. Dieses Unterrichtskonzept basiert auf der Arbeit
mit kulturbeladener Lexik und sieht dadurch eine Erleichterung des
Fremdsprachenlernens vor. Das Hauptziel ist nicht
zuletzt die Entwicklung
kommunikativer Kompetenz in interkulturellen Handlungen, um vor allem die adäquate
Wahrnehmung der Rede des Gesprächspartners zu gewährleisten. In Folge dessen
entstanden mehrere linguolandeskundliche Wörterbücher sowie Realienwörterbücher
mit kulturspezifischen Inhalten.
2
Die schnelle Verbreitung und Etablierung der Linguolandeskunde als Fach gab einen
weiteren Anstoß, im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts neue Forschungen am
Knotenpunkt der Linguolandeskunde, Ethnolinguistik, Psycholinguistik und
Interkultureller Kommunikation durchzuführen, was ein neues interdisziplinäres
Wissenschaftsparadigma ins Leben rief. Einen großen Beitrag leistete dabei die
phraseologische Schule Russlands unter der Leitung von Sprachwissenschaftler Telija
(1986). Die wissenschaftlichen Beiträge von Vorob’ev (1993), Stepanov (1995),
Schakleyin (1997), Arutjunova (1998) und Maslova (2001, 2010) gelten heutzutage als
Kanons des Faches. In Moskau entstanden auf diesem Wege vier große
linguokulturologische Schulen:
Die linguokulturologische Schule von Stepanov nähert
sich methodologisch
dem Konzept von Benveniste, dessen Ziel die Beschreibung der Kultur in ihrem
diachronischen Aspekt ist. Die Verifikation des Inhalts wird anhand von Texten
aus verschiedenen Epochen durchgeführt, d. h. aus der Sicht des Beobachters
1
Zur Begriffsklärung siehe Hoijer (1971).
2
Als empfehlenswerte Beispiele dienen dazu die linguolandeskundlichen Wörterbücher von Denisova (1983 [1978]),
Prohorov (1979), Sklârevskaâ (2000), Kapica (2000).
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und nicht aus der des aktiven Sprachträgers.
Die linguokulturologische Schule von Arutjunova untersucht universale Begriffe
der Kultur, die Texten verschiedener Zeiten und Völker entnommen werden.
Auch diese Begriffe werden aus der Sicht des Beobachters und nicht aus der
des wirklichen Sprachträgers rekonstruiert.
Die linguokulturologische Schule von
Telija ist sowohl in Russland als auch in
GUS-Staaten bekannt als die Moskauer Schule für die linguokulturologische
Analyse der Phraseologismen (MSLCFraz). Telija und Nachfolger dieser Schule
untersuchen Spracherscheinungen aus der Sicht der Reflexion des
Sprachträgers, d. h., es wird die Beherrschung der Kultursemantik unmittelbar
anhand des Subjekts der Sprache und Kultur untersucht. Dieses Konzept
nähert sich der wissenschaftlichen Position von Vejbitskaya,
der von der
Theorie
Lingua mentalis
(Imitation des redeaktiven mentalen Sprechzustandes
des Sprechers) ausgeht.
Die linguokulturologische Schule
von Schakleyn und Vorob’ev bei der
Universität für Völkerfreundschaft in Russland entwickelt das Konzept von
Vereŝagin und Kostomarov weiter (vgl. Maslova 2010, S. 30).
Auch in den letzten zwanzig Jahren hat sich die Linguokulturologie als Fach gut
etabliert. Es wurden zahlreiche Forschungen durchgeführt und die Linguokulturologie
wurde zur
neuen philologischen Disziplin, die sich mit der Widerspiegelung und
Fixierung von Kultur durch das Prisma der Sprache beschäftigt. Doch die Popularität
dieses interdisziplinären Faches bleibt weiterhin osteuropäisch konzentriert: Eine der
wichtigsten Forschungsrichtungen der russischen Germanistik findet im
westeuropäischen Wissenschaftsraum kaum noch Erwähnung (vgl. Földes 2019, S.
86). Dies könnte damit zusammenhängen, dass die meisten Forschungspublikationen
der Linguokulturologie in russischer Sprache erscheinen und nicht übersetzt werden.
Ein weiterer Problempunkt ist es, dass dieses Fach noch „
nicht genau ausdefiniert und
nicht systematisch durchkonstruiert ist
“ (ebd.: S. 111). Es fehlt an festgelegten
Mechanismen zur eindeutigen Handlungsweise bei der praktischen Untersuchung. Die
Mehrdeutigkeit und die unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten der kulturellen
Erscheinungen durch Sprache machen die Erarbeitung
von Analysetools in der
linguokulturellen Forschung notwendig, was als eine gute Zukunftsaufgabe für dieses
Fach anzusehen ist.
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