Divergent Thinking
ersetzt werden. Darunter
versteht er vereinfacht gesagt das Phänomen, dass es für eine Fragestellung unterschiedliche Zugänge und
Antwortmöglichkeiten gibt. Er trifft damit einen ganz zentralen Punkt, der im aktuellen Diskurs über die
Unvereinbarkeit der Konzepte von Standardisierung und Individualisierung thematisiert wird (vgl. dazu
Kapitel 4.2.3).
20
ADHS bedeutet: Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung
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Abbildung 9: Changing Education Paradigm (Sir Robinson 2010) – Online verfügbar unter:
https://www.thersa.org/discover/videos/rsa-animate/2010/10/rsa-animate---changing-paradigms
KÜNZLI (2001) sieht das Problem darin, dass Schule das Lernen nicht bloß zeitlich vermisst, sondern
es auch fachlich verortet. Damit verbunden ist eine administrative Verstörung, die nicht mit der
individuellen Verarbeitung von Informationen einhergeht. Er erinnert an die zentrale Aufgabe von Schule,
nämlich den Umgang mit fremdem Wissen zu ermöglichen. Der Vorteil schulischen Lernens besteht darin,
dass Erfahrung durch Lernen ersetzt wird und ein Individuum somit viel mehr lernt, als es jemals selbst
erfahren könnte. Er sieht den Paradigmenwechsel in der Bildung dahingehend, dass es nicht Zweck der
Schule ist Gegenwartsprobleme zu bearbeiten, sondern es das Ziel sein muss, die humanen Möglichkeiten
durch die Kultivierung des Umgangs mit Wissen und Können zu steigern. (vgl. dazu Künzli 2001)
Dies ist ein Ansatz, der dem Konzept des
Divergent Thinking
ähnelt. Das Ziel ist es, sich fremdes Wissen
anzueignen, es zu bewerten und weiter zu entwickeln, damit es für eigene Problemlösungen eingesetzt
werden kann. Die Logik der schulischen Wissensorganisation, in Form des existierenden Bildungskanons,
steht seines Erachtens in einem komplexen Spannungsverhältnis zur individuellen Erfahrungsverarbeitung.
Die erlebbare Welt in ihrer unbegrenzten Komplexität bildet an sich den Stoff für das organisierte Leben in
der Schule. Der vordefinierte Bildungskanon isoliert die Disziplinen voneinander und es wird keine
institutionalisierte Möglichkeit der Vernetzung geboten, um komplexe Problemstellungen zu lösen (Künzli
2001). Dadurch entzieht sich den Schüler/innen oftmals die Sinnhaftigkeit schulischen Lernens, da keine
Verbindungen zu den lebensweltlichen Realitäten hergestellt werden kann (vgl. dazu Abbildung 10). Womit
der schon sehr alte Spruch „Nicht für die Schule lernt man, sondern für das Leben“ – „Non scholae, sed
vitae discimus“ seine Relevanz auch heute nicht verliert. Der Zynismus, dass somit „allem schulischen
Lernen kategorisch eine lebenspraktische Relevanz unterstellt“ (Daum 2002) wird, ist nicht von der Hand
zu weisen.
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Abbildung 10: Schule und Lebenswelten (eigene Fotocollage nach Pixabay.com 2017)
4.2.2
Was ist Wissen?
Spricht man vom Lernen in der Wissensgesellschaft, so stellt sich vorab die Frage, wie sich eine derartige
Gesellschaft definiert und was Wissen in diesem Kontext konkret bedeutet. Wissen gilt als die zentrale
Ressource in der Wissensgesellschaft, die in immer mehr Lebensbereichen von Bedeutung ist, wie die
Begriffsbestimmung in Textfeld 10 verdeutlicht.
Begriffsbestimmung Wissensgesellschaft
Der Begriff wird in zweierlei Hinsicht verwendet:
als ein beschreibender Begriff, mit dem eine bestimmte Stufe der wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Entwicklung benannt werden soll: Die Wissensgesellschaft des 21.
Jahrhunderts wird als Nachfolgerin der Industriegesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts
verstanden.
als ein strategischer Begriff, der die Aufmerksamkeit gezielt auf einen bestimmten Aspekt der
gesellschaftlichen Entwicklung lenkt, mit dem Ziel politischen Handlungsdruck zu erzeugen
und entsprechende Entwicklungen anzustoßen.
Textfeld 10: Definition Wissensgesellschaft (Poltermann 2013)
Insbesondere der strategische Begriff stellt die Wichtigkeit von Bildung in das Zentrum des Interesses.
Kennzeichnend dafür sind beispielsweise die stetig wachsenden zeitlichen Kapazitäten (vgl. dazu Abbildung
11), die in der Schule und für Lernen aufgewendet werden. Die Schulzeiten sind lebensbestimmende und
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identitätsstiftende Phasen für jedes Individuum. In Anbetracht der Diskussionen rund um Ganztagsschulen
wird die Bedeutung der Lebensstunden, die in Bildungseinrichtungen verbracht werden, nochmals
wichtiger.
Ein weiterer Indikator für die zunehmende Bedeutung von Wissen und Bildung für die Gesellschaft ist
die politische Forcierung von Konzepten, wie das lebenslange Lernen, um im internationalen Wettbewerb
bestehen zu können (Poltermann 2013).
Abbildung 11: Zeitaufwand für Lernen nimmt zu (Imhäuser 2011)
Im alltäglichen Sprachgebrauch wird „Wissen“ sehr oft als eine quantitativ messbare Größe oder auch
als „Kenntnis von etwas haben“ verstanden. SCHWANITZ (2006) entscheidet beispielsweise mit seiner
Publikation „Bildung. Alles, was man wissen muss“ (Schwanitz 2006) darüber, welches Wissen als wichtig
oder unwesentlich einzustufen ist. Auch Quizsendungen, die das Allgemeinwissen prüfen und uns
Wissenslücken erkennen lassen, oder Aussagen wie „Schüler/in X weiß mehr als Schüler/in Y“ sind Beispiele
für die Annahme, dass alles Wissen messbar sei.
Die erwähnten Begriffsbestimmungen zeigen, dass Wissen viel breiter zu fassen ist und zusätzlich
individuelle Erfahrungen, Wertvorstellungen und Fähigkeiten integriert werden. Wissen unterscheidet sich
demnach auch von verwandten Begriffen wie „Überzeugung“, „Glauben“ oder „Meinung“ (Textfeld 11).
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Etymologische Wurzeln: von der indogermanischen Wurzel vid, „klar und gestalthaft sehen“, leiten
sich auch lateinisch videre, „sehen“, griechisch (v)idea, „ursprüngliche Gestalt“ und Sanskrit veda, „er
weiß“ ab. Wissen, gotisch widan, althochdeutsch wizzan meint so viel wie „finden, sehen“, also „ich
habe gesehen,“ und somit „ich weiß nun“.
Definition: „Wissen beruht auf in Sinneszusammenhängen gespeicherten Informationen, die durch
Erfahrungen in Lernprozessen konstruiert worden sind. Wissen sollte möglichst wahr sein, sich
rechtfertigen können, akzeptiert sein, sich im Handeln als viabel erweisen sowie zweckdienlich,
relevant, kontextbezogen und mittelbar sein. Wissen umfasst somit nicht nur kognitive Inhalte und
Funktionen, sondern auch Werte, Einstellungen und Handlungskompetenzen.“
Textfeld 11: Begriffsbestimmungen Wissen (Kegelmann 2008; N.N. 2010)
Die Tatsache, dass Wissen nicht nur auf kognitive Inhalte reduzierbar ist, spiegelt sich in der
Unterscheidung von explizitem und implizitem Wissen wider (Textfeld 12). Für die vorliegende Arbeit ist
diese Differenzierung vor allem für das Konzept der Individualisierung von Bedeutung, da die vielfältigen
Begabungen der Lernenden und ihre spezifischen Lernvoraussetzungen bei der Gestaltung von Lehr-/
Lernprozessen zu berücksichtigen sind. Hinzu kommt, dass andere Kategoriensysteme, wie beispielsweise
deklaratives und prozeduales oder angeborenes und erworbenes Wissen sehr ähnliche Erklärungsmuster wie
implizites und explizites Wissen aufweisen. Unabhängig davon ist es in Hinblick auf die Betrachtung
individualisierter Lehr/-Lernprozesse im Rahmen dieser Arbeit wichtig diese beiden Formen zu
unterscheiden. Nicht alles Wissen kann formalisiert und auf Knopfdruck von den Lernenden reproduziert
und durch Abprüfen gemessen werden. Schüler/innen bringen viele Fähigkeiten und Vorwissen in den Lehr-
/Lernprozess mit, die der Kategorie des impliziten Wissens zuzuordnen sind.
explizites vs. implizites Wissen (nach Polanyi 1966):
Man spricht von expliziten oder auch kodifizierten Wissen, wenn ein Subjekt bewusst über
Wissensinhalte verfügt und diese auch sprachlich ausdrücken kann. Dieses Wissen ist in
formalisierter, systematischer Sprache transferierbar und kann bewahrt werden.
Im Gegensatz dazu steht das implizite Wissen, das logisch nur schwer erklärbar ist (z.B. Sprachgefühl).
Es handelt sich um ein Phänomen des Könnens: „We know more than we can tell.“ (Polany 1966)
Implizites Wissen ist eine Art Residualkategorie, der alles Wissen zugerechnet wird, das nicht direkt
explizit gemacht werden kann.
Textfeld 12: explizites versus implizites Wissen (Pechar 2010)
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Im alltäglichen Kontext, aber auch in Verbindung mit dem schulischen Lernen wird Wissen oft auf die
explizite Komponente, sprich die Vermittlung von Faktenwissen reduziert, wie AMRHEIN-KREML
(2008) verdeutlicht:
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