Freeride
-Skifahren ist eine Sparte des
Freeskiings
. Es meint das Skifahren im freien Gelände,
also abseits der präparierten und gesicherten Pisten, mit dem Ziel, möglichst anspruchsvolle
Hänge flüssig und schnell zu befahren (Beckedahl 2013). Im Gegensatz zum
Freestyle
-
Skifahren gibt es beim
Freeride
keine künstlichen Hindernisse, z.B. Schanzen zu überwinden.
Die Sportler bewegen sich in einem freien, unpräpariertenteils alpinem Gelände, und zwar im
Tiefschnee. Neben dem Befahren von steilen und unwegsamen Gelände werden auch Sprünge
über Felsen (engl. Cliffs) ausgeführt und mit diversen Manövern (engl. Tricks) verbunden. In
den letzten Jahren nahm die Anzahl an Freeride-Skifahrern kontinuierlich zu, was zu einer
Verbesserung der Sportgeräte und des Sicherheitsequipements führte
. Auch wenn Freerider
mittlerweile durch verschiedene Entwicklungen aus der Sportindustrie
,
wie das LVS
-
Gerät, die
Lawinensonde,
die Lawinenschaufel oder Airbag-Rucksäcke, minimale Risikoabnehmer mit
sich führen, so sind sie nie vor unerwarteten Gefahren „sicher“ gewappnet. Opaschwoski
(2000) unterscheidet Risiken und Gefahren beim Freeriden:
1.
Objektive Risiken:
a.
Lawinenabgang
b.
Wechtenbruch
c.
Eis/Steinschlag
d.
Spaltenbruch/Sturz
e.
Materialbruch
2.
Persönliche Fehleinschätzungen (Subjektives Risiko):
a.
Sturz
b.
Absturz
c.
Landung auf Stein/Eis
Das Freeride-Skifahren hat sich in den letzten zwei Jahrzenten von einem Trendsport zur
etablierten Sportart entwickelt. Spätestens seit 2008, als die
Freeride World Tour
(FWT) ins
Leben gerufen wurde, erreichte die Sportart ein weit größeres Publikum. Das Medieninteresse
steigt seitdem stetig an, was auch immer mehr professionelle Karrieren in diesem Bereich
ermöglicht.
Bei Freeride-Wettbewerben dürfen die Athleten den Hang zuvor nicht befahren, sondern
diesen lediglich mit einem Fernglas von der gegenüberliegenden Seite inspizieren. Dies stellt
eine besondere Schwierigkeit dar. Bewertet werden die „runs
“ dann von ausgewählten
14
„Judges“. Die zu bewertenden Kategorien sind: „Air and Style“, „fluidity“, „control“,
„creativity“, “technique“.
Forget placing slalom poles down the mountain. Forget building artificial jumps
and hips and halfpipes and tabletops. Forget grooming the slopes even. Freeride
contests are 100% natural, 100% clean. Indeed, the event is all about
celebrating the god-given terrain features found on any mountainside in the
most exciting and elemental format possible. There‘s a start gate at the summit
and a finish gate at the bottom. That’s it. Best run down wins.
(https://www.freerideworldtour.com/about-philosophy)
Die Freeride World
Tour gliedert sich in mehrere Kategorien auf. Zum einen gibt es die World
Tour Serie an sich, in der nur professionelle Freeskier starten. In der Profiliga nehmen pro
Saison circa 50 Starter Teil. Diese setzen sich aus allen vier Kategorien (Ski Herren, Ski Damen,
Snowboard Herren, Snowboard Damen) zusammen. Zum anderen gibt es die World Tour
Qualifier (FWQ), die sich in ein bis vier Stern-Bewerbe untergliedern, wobei die Vier-Stern-
Bewerbe die hochrangigen und für die Qualifikation in die World Tour relevant sind. Bei den
Ski Herren qualifizieren sich die drei Besten nach jeder Saison für die Profiliga.
Abbildung 2 Freeride World Tour
15
Als Vorbereitung für die Qualifikationsbewerbe gibt es seit 2012 die Freeride Junior Tour (FJT),
die es nun auch unter 18-Jährigen erlaubt, an Freeride-Bewerben teilzunehmen. Für diese
Studie wurden 22 (ehemalige) Teilnehmer an FJT-Bewerben, im Alter von 14 bis 20 Jahren,
rekrutiert.
Zusätzlich gibt es in Europa, Neuseeland, Kanada und den Vereinigten Staaten Freeride World
Tour Clubs, die speziell für Jugendliche sogenannte Freeride Camps anbiet
en. Dort werden
diverse Grundfertigkeiten trainiert und Sicherheitsaspekte kommuniziert.
3.
Motive für Risikosport
Doch warum begeben sich Menschen bewusst in lebensgefährliche Situationen, die ihnen im
Ernstfall sogar das Leben kosten können? Welchen Gewinn erhoffen sich Sportler durch diese
risikoreichen Aktivitäten?
Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Motivforschung. Im folgenden Kapitel wird der Versuch
unternommen
,
Risikoverhalten anhand von verschiedenen Erklärungsmodellen und
Forschungsbeiträgen aus der Verhaltensbiologie, der Verhaltenspsychologie und der
Psychoanalyse zu beantworten.
Abhängig vom Forschungsfokus und den Perspektiven rücken unterschiedliche Ansätze in den
Vordergrund (vgl. Willig, 2008, S. 692). Risikoverhalten ist nie als monokausal zu betrachten,
sondern es bestehen immer mehrere Ansätze nebeneinander, die sich teils überschneiden
oder ergänzen. Eine Gemeinsamkeit, die die vorliegenden Ansätze mit sich bringen, scheinen
jedoch die Motive zu sein. Hier lässt sich das Suchen nach Emotionen
, besonderen Zuständen,
Erlebnissen, Abenteuern, Reizen und Grenzen erkennen (Allmer, 1995).
16
a.
Klassische Erklärungsmodelle aus der Psychologie
Im Folgenden wird ein Überblick über bereits validierte Erklärungsmodelle und Theorien aus
der Psychologie gegeben. Der ungarische Psychoanalytiker Michael Balint und der deutsche
Psychologe Gert Semler stellten die Überwindung von Angst in den Mittelpunkt ihrer
Untersuchungen. Angst wurde demnach nicht als Erfahrung oder Erlebnis untersucht, sondern
als ursprüngliche Ursache für riskantes Verhalten.
Nach Warwitz (2001) ist die Risikosuche als Auseinandersetzung mit der Angst zu verstehen,
um sich selbst als stark und souverän zu erleben und auch in gefährlichen Situationen
handlungsfähig zu bleiben. Risikosport bietet zudem Anreize zur Selbstbestätigung und
Selbsterfahrung durch herausfordernde Handlungselemente
.
i.
Der Thrill nach Balint
In der Monographie „Angstlust und Regression“ (2009) erklärt Balint das Eingehen
risikoreicher Situationen mit dem Begriff Thrill. Damit beschreibt er eine Mischung aus Furcht
und zuversichtlicher Hoffnung. Angstlust meint nach Balint (2009): „Die objektive äußere
Gefahr, welche Furcht auslöst, das freiwillige und absichtliche Sich-Ihr-Aussetzen und die
zuversichtliche Hoffnung, dass schließlich alles gut wird.“ (Balint, 2009, S. 21).
Thrill fungiert als Antrieb auf der Suche nach risikoreichen Tätigkeiten. Dabei geht es um das
Aufgeben und Wiedererlangen von Sicherheit (Balint, 2009, S. 23). Als Beispiel dafür lässt sich
ein Fahrvergnügen im Vergnügungspark nennen. Dabei muss der Akteur seine Angst
überwinden und die gewohnte Sicherheit (Stand auf dem Boden) aufgeben. Die geweckte
Angst muss also ertragen werden, um die Achterbahnfahrt als Vergnügen zu erleben.
Balint (2009) nennt drei wichtige Merkmale für das Eingehen von solchen Risiken:
1.
Erlebnisse mit angstauslösender objektiver Gefahr
2.
das Individuum setzt sich der Gefahr freiwillig aus
3.
das Individuum ist zuversichtlich, dass der Ausgang
positiv ist
.
17
Nach Balint lässt
sich zwischen zwei Persönlichkeitsprofilen, die auf unterschiedliche Weise
mit gefährlichen und risikoreichen Situationen reagieren, unterscheiden. Der Risikosuchende
(Philiobat), ist immer auf der Suche nach Abenteuer und Nervenkitzel, der Risikovermeidende
(Oknophile) geht diesen Situationen bewusst aus dem
Weg.
Diese Klassifizierungen dienen jedoch mehr der Veranschaulichung, als dass solche reinen
Formen in der realen Welt vorkommen. Vielmehr würde man verschiedenartige Mischungen
der zwei Typen treffen. Nach Balint sind beide Typen sekundäre Zustände. Das Aufsuchen von
risikoreichen Aktivitäten kann als Versuch verstanden werden, das sogenannte Trauma der
Trennung der Mutter-Kind-Einheit zu bewältigen (vgl. Balint, 2009, S. 81), um somit den
Primärzustand wieder herbeizuführen. Durch die Auseinandersetzung mit Gefahren erwirbt
der Risikosucher Fertigkeiten (engl. Skills), die ihn dazu befähigen, „[...] bis zu einem gewissen
Grad die zerstörte Harmonie zwischen ihm und der Welt wieder herzustellen“ (Balint, 2009,
S. 73).
ii.
Lust an der Angst nach Semler
Semler (1994) betont, dass Risikosportler keineswegs Individuen sind, die ohne Angst leben,
sondern vielmehr Per
sonen, „die einer gefährlichen Tätigkeit nachgehen, sich ihrer
Gefährdung bewusst sind, und auf diese Gefährdung ganz normal und vernünftig reagieren,
nämlich mit Angst.“ (Semler, 1994, S. 15).
Risikosportler haben also ein klares Angstempfinden. Dennoch ist Risikoverhalten nach Semler
(1994) „ein hervorragendes Mittel gegen die Angst vor der Angst. Durch den Erwerb von
Fähigkeiten, die ein Kontrollieren der Gefahr ermöglichen, verliert die Angst ihren Schrecken.
Als Risikosucher lebt man besser mit ihr, weil man gelernt hat, mit ihr umzugehen.“ (Semler,
1994, S. 159). Risikosportler können somit vernünftig auf Angst reagieren und bleiben in
risikoreichen Situationen handlungsfähig, da sie gelernt haben, vernünftig mit ihr umzugehen.
Doch warum begeben sich Menschen freiwillig in solche Situationen, wenn sie diverse
problematische Konsequenzen einfach vermeiden könnten? Nach Semler (1994) haben
Risiken einfach eine gewisse Attraktivität, da sich der Risikosportler in seinem Können
verbessern kann und Grenzerfahrungen möglich werden. „Erst durch das Aufsuchen der
eigenen Grenzen erfährt man wirklich, wer man ist.“ (Semler, 1994, S. 170).
18
Zudem gehen mit der Angstüberwindung positiv gekoppelte Emotionen, wie Freude und
Glücksgefühle, einher. Hierbei bezieht er sich auf das „Flow“-Konzept nach Csikszentmihalyi,
das im folgenden Kapitel näher betrachtet werden soll. Semler betont auch, dass der
Genusszustand des Flow-Erlebnisses abhängig machen kann, wenn man dem oft
unangenehmen Alltag durch Sportausübung zu entfliehen versucht. Der mit dem Risikosport
assoziierte Begriff der Freiheit verwandelt sich somit in einen Zwang (Semler, 1994). Des
Weiteren schreibt Semler (1994) von der „Freude an Entwicklung und Wachstum“ (Semler,
1994, S. 135) von Risikosportlern. Risikosucher streben keine Sicherheit signalisierende
Gewohnheiten an, sondern erkunden unbekannte Erfahrungsräume und eröffnen sich somit
neue Entwicklungschancen (Semler, 1994). Demnach sind Risikosportler offen für
Veränderungen, stellen ihr Selbstbild in Frage und können sich Angst eingestehen. Für nicht
Risikosuchende stellt der Eingang von Risiko eine Angst der Überforderung, der
Orientierungslosigkeit oder Unvollkommenheit dar. Der entwicklungsfreudigere Mensch
scheint demnach der Risikosportler zu sein. Dennoch könnte der nicht-risikofreudige Mensch
versuchen, sich ein Beispiel an der Einstellung des Risikofreudigen zu nehmen, ohne sogar eine
physische Verletzung eingehen zu müssen. Dadurch wäre eine Weiterentwicklung - nicht nur
des Einzelnen, sondern der Gesellschaft - möglich. Zu dieser Folgerung kommt Apter in seinem
Forschungsbeitrag von 1984. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Angstüberwindung
– dargestellt anhand von zwei verschiedenen Forschungsansätzen – als Traumabewältigung
oder als identitäts- und gesellschaftsstabilisierende Selbstbestätigung gesehen
werden kann
(Göring, 2006, S. 135).
iii.
Flow-erleben nach Csikszentmihalyi (1975)
Mihaly Csikszentmihalyi, Professor in Chicago und Autor, entwickelte mit seiner Flow-Theorie
ein weiteres
Konzept des positiven Erlebens im Risiko. Dabei nimmt er an, dass eine
Risikosituation im Zustand des Flows keine
Angst hervorruft (Csikszentmihalyi, 1985, S. 58).
„Flow erleben heißt, sich völlig in Einklang zu fühlen mit der Tätigkeit, die Sie gerade ausüben,
zu wissen, dass Sie stark sind und fähig, zumindest für den Augenblick Ihr Geschick zu
bestimmen und ein Gefühl der Freude zu empfinden, das nicht vom Erfolg abhängig ist.“
(Csikszentmihalyi & Jackson, 2000, S. 7).
19
D
er Begriff Flow wurde ursprünglich für den Risikosport entwickelt (Csikszentmihalyi, 1975;
1985), wird heute jedoch auch breiter verwendet. In seinen neueren Werken beschreibt
Csikszentmihalyi dieses Gefühl als etwas, das auch in alltäglichen Handlungen erlebt werden
kann (Csikszentmihalyi 1994). Kennzeichen für Flow sind ein völliges Aufgehen in seinem Run
und das Verschmelzen von Aktivität und Bewusstsein. Es wird ein „[...]Zustand der
Selbstvergessenheit erreicht, in dem sich das Individuum in einer ungebrochenen Einheit
erlebt, in dem keine Zweifel bei der Ausübung der Tätigkeit stören. Alles geschieht scheinbar
mühelos, selbst schwerste körperliche Anstrengungen.“ (Csikszentmihalyl, 1985, S. 179).
Dieser Zustand völliger Konzentration und optimaler Beanspruchung ist nach Csikszentmihalyl
jener, wonach Risikosportler suchen und warum sich diese Menschen in solchen Tätigkeiten
versuchen. Denn in diesem Flow-Zustand werden externe Reize und Einflüsse ausgeblendet
und es wird nur noch die Aufgabe, mit der man konfrontiert ist, wahrgenommen. Im
Deutschen wird der Begriff oft mit Funktionslust übersetzt. Dieser meint einen Zustand, der
durch Freude über die Weiterentwicklung von Fähigkeiten und das Gefühl von Kontrolle
ausgelöst wird (Wurzel & Stenger, 2013).
Um in diesem Zustand zu verweilen, muss die Aktivität eine stetige Herausforderung bieten.
Nur so bleibt dem Sportler keine Zeit für Versagensängste oder Langeweile. Zudem muss die
Herausfordernde Situation stets mit der Einschätzung des Eigenkönnens harmonieren. Eine zu
geringe Herausforderung sorgt für Langeweile, während eine zu große Hürde zur
Überforderung führt.
Die extrinsische Belohnung, die Risikosport demnach bietet, ist ein Verweilen im Hier und
Jetzt, in einem Zustand der durch Fokus und Erleben des Eigenkönnens gekennzeichnet ist.
Komponenten des Flow-Erlebnisses sind:
•
die Aktivität ist klar zielgerichtet oder wird von unmittelbarem Feedback gefolgt
•
man konzentriert sich während der Tätigkeit auf sein Tun
•
subjektive Wahrnehmung der Zeit
•
Anforderung und Fähigkeit stehen in Balance
(vgl. Csikszentmihalyi & Jackson, 2000, S. 24 f.)
20
iv.
Reizsuche als Persönlichkeitsmerkmal – Sensation Seeking nach
Zuckerman
Das bis heute bekannteste Modell zur Erklärung von Risikosport ist das Sensation-Seeking-
Konzept von Zuckerman (1974). Sensation Seeking ist, so Zuckerman
,
„eine
Verhaltensdisposition, die gekennzeichnet ist durch das Bedürfnis nach abwechslungsreichen,
neuen, komplexen Eindrücken und Erfahrungen […]“ (Zuckerman, 1979; In: Burst, 1999,
S.159). Dieses Bedürfnis nach vielfältigen, neuen und komplexen Erfahrungen geht bei
Risikosportlern mit der Bereitschaft einher, Risiken in vielfältiger Weise einzugehen.
Primäres Ziel von solchen Verhaltensweisen ist, die Langeweile in Zustände der Wachheit und
der Anspannung zu transformieren (Schumacher & Roth, 2004). Nach Zuckerman suchen
Sensation-Seeker nicht primär das Risiko, sondern die neuen Erfahrungen
und die damit
ausgelösten neuen Emotionen. Für das Erreichen von solchen Gefühlen sind Sensation
Seeker
auch bereit, hohe Risiken einzugehen. Das Risiko wird dieser Theorie nach, zum Preis welcher
für diese neuen Erfahrungen bezahlt werden muss (Zuckerman, 2007, S. 27).
Alle Men
schen sind Sensation Seeker, jedoch unterscheidet man je nach der Ausprägung
dieses Merkmals. Für High Sensation Seeker vermitteln monotone und reizarme Situationen
ein negatives Gefühl, da das Erregungsniveau dabei als nicht optimal empfunden wird. Diese
Menschen neigen also zu einem starken Bedürfnis nach Stimulation, Abwechslung und
neuartigen Erfahrungen. Low Sensation Seeker wiederum fühlen sich in eher reizarmen
Situationen wohl und gehen einer gewöhnlichen Lebensform nach (Zuckerman, 1994, 2007)
Männer haben generell eine höhere Ausprägung des Merkmals Sensation Seeking als Frauen
(Cross, Cyrenne & Brown, 2013). Zudem nimmt die Ausprägung des Sensation Seeking mit
zunehmendem Alter ab.
21
Do'stlaringiz bilan baham: |