I.2. E
rstes Kapitel: Einstimmung in den Verfall
Wenn schon das Interesse einer Untersuchung
auf einem fortwährenden Knötchen-Knüpfen und Lösen beruht (...)
so darf sich noch weniger im Roman irgend eine Gegenwart
ohne Kerne und Knospen der Zukunft zeigen.
Jean Paul
Über Tony erfahren wir als erstes, daß sie ein "Kleidchen aus ganz leicht
changierender Seide" (M,I,9) trägt. Hier wird bereits auf ihre spätere Vorliebe für
changierende Seide (M,I,244), elegante Schlafröcke (M,I,199,445,447) und
Atlasschleifen (M,I,447,616) angespielt, die Ausdruck ihres Luxusbedürfnisses sind,
das bei den vielen Fehlentscheidungen, die sie trifft, keine geringe Rolle spielt. So wird
z.B. selbst Grünlich, den sie als Heiratskandidaten verwirft, erstmals interessant für sie,
als sich ihr die Aussicht eröffnet, sich mit seidenen Portieren einrichten zu können, wenn
sie ihn heiratet (M,I,106f.). Ihr Anspruch auf Vornehmheit und luxuriöses Leben läßt sie
auch begeistert zuraten, als Thomas ihr von seinem Plan berichtet, ein neues Haus zu
bauen, obwohl das alte groß genug ist (M,I,421). Thomas wird diesen Entschluß später
oft bereuen, weil er eigentlich seine Mittel überstieg.
Daß die Seide von Tonys Kleid hier wie an späterer Stelle changiert, also in
mehreren Nuancen schillernd die Farbe wechselt, ist im Hinblick auf ihren Charakter
bedeutsam: Es steht für ihr wetterwendisches, launenhaftes, leicht wechselndes Wesen.
Ohne zu reifen oder sich wirklich weiterzuentwickeln, kann sie dank dieser Eigenschaft
sich immer wieder den neuen Umständen anpassen. Auf der Rückfahrt von Travemünde
nach Hause ist sie noch in Tränen aufgelöst vor Kummer über den Abschied von
Morten. Doch das hindert sie nicht daran, in der folgenden Nacht tief und gut zu
schlafen und gleich am nächsten Morgen ihre Verlobung mit Grünlich in die
Familienpapiere einzutragen. Ähnlich ist es in vielen vergleichbaren Situationen: ein
erlösender Tränenerguß, und Tony geht wieder zur Tagesordnung über.
Wie Tony werden auch Thomas und Christian schon bei ihrem ersten Auftritt im
Roman mit Eigenschaften versehen, die sie auch im weiteren Romanverlauf
charakterisieren. So erfährt man als allererstes über Thomas: "Seine Zähne waren nicht
besonders schön, sondern klein und gelblich" (M,I,18). Hier wird sowohl auf seinen
künftigen labilen Gesundheitszustand als auch auf seinen Tod "an einem Zahne"
vorausgedeutet.
Christian, von seiner Mutter gefragt, was er denn heute in der Schule gelernt habe,
antwortet: "Wir haben furchtbar gelacht", und erzählt eine Anekdote (M,I,17). Genauso
wird er auch später ausweichen, wenn man ihn in die Pflicht nehmen will, und statt
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dessen die Gesellschaft unterhalten, wenn auch mit zunehmend wunderlichen und
teilweise anstößigen Geschichten.
Zahlreich sind die Hinweise auf den bevorstehenden Verfall der Familie. Schon in
Tonys Assoziation mit der Schlittenfahrt den Jerusalemsberg hinunter (M,I,9) - der
Roman sollte ursprünglich Abwärts heißen - , wird er erstmals angedeutet, dann wieder
symbolisch im "Sonnenuntergang" auf den Tapeten des Landschaftszimmers (M,I,12),
ebenso in der "Dämmerung" des Herbsttages, an dem "das Laub der kleinen Linden
vergilbt" ist, und in der Erwähnung des Friedhofs, des Marienkirchhofs (M,I,13,
Hervorhebungen v.d.V.).
Selbst Tonys so harmlos vorgebrachte Bauernweisheit über Blitz und Donner läßt
den, der den Roman bereits im Ganzen kennt, an den Tod des Konsuls bei einem
Gewitter und an die Vernichtung der Pöppenrader Ernte durch ein Unwetter denken.
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Tonys Vater Jean, der selbst die sonderbarsten Gefühlsanwandlungen und Träumereien
kennt, verteidigt Tonys Äußerung ebenso wie den wildwachsenden Garten der Familie
vor dem Burgtor. Sein Vater hält von solcher "Verdunkelung" des Verstandes gar nichts
(M,I,14), doch Jean wird sich noch mehrmals an diesem Abend seinen Stimmungen
hingeben und damit dem Leser andeuten, daß der sichere und feste Charakter Johann
Buddenbrook d.Ä. bald von verträumteren, grüblerischen Nachkommen abgelöst
werden wird. In dem träumerischen Ausdruck der Augen Jeans ist bereits derjenige der
Augen Hannos vorweggenommen; und die Bemerkung, daß er sich mit einer "nervösen
Bewegung" vorbeuge, verweist, ebenso wie die Beschreibung seiner Gesichtszüge,
welche "ernster und schärfer" sind als die des Vaters, auf Thomas' reizbares, ernstes und
nervöses Wesen (M,I,11). In Jeans Kleidung, den Ärmeln, die sich "eng um die Hand
schlossen", den anschließenden Beinkleidern" und den "steifen Vatermörder(n)"
(M,I,11, Hervorhebungen v.d.V.) sind Enge und Zwang seiner Existenz angedeutet.
Schon hier trägt er Gottholds Brief in der Brusttasche, und die Sorge um den Ausgang
dieses Familienstreites wird ihn den ganzen Abend beschäftigen, obwohl er sich bemüht,
dies hinter der gesellschaftlichen Maske zu verbergen. Dieses Versteckspiel, dieses
Gefühl von Enge und Zwang wird Thomas' Existenz noch stärker bestimmen als die
seines Vaters.
Wie man an diesem Beispiel sieht, enthält der erste Teil des Romans
Vorausdeutungen sowohl in bezug auf die bereits anwesenden Figuren und ihr künftiges
Schicksal als auch auf das später hinzukommender Figuren. Das für Jean typische
Dilemma zwischen Humanität und Geschäftssinn wird ihm später noch oft
Entscheidungen erschweren, und es wird sich bei Thomas wiederholen und verstärken.
Figuren weisen also auf sich selbst und über sich selbst hinaus auf die Zukunft voraus.
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Vgl. hierzu diese Arbeit, Kapitel II.2.1., S.44
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Ebenso können Vorausdeutungen gleichermaßen auf unmittelbar bevorstehendes wie auf
in ferner Zukunft liegendes Geschehen vorverweisen.
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In Jeans Zurechtweisung seines Vaters, als dieser Tony mit dem Katechismus
aufzieht: "Aber Vater, Sie belustigen sich wieder einmal über das Heiligste" (M,I,12),
deutet sich, wenn diese auch halb scherzhaft vorgebracht wird, die Frömmelei an, die
sich mit zunehmendem Alter bei Jean und nach seinem Tod auch bei seiner Frau zeigen
wird. Die Unterbringung und üppige Verpflegung der vielen durchreisenden Pastoren
wird ein großes Loch in der Firmenkasse hinterlassen; und der Frömmelei der Familie
wird es auch zu verdanken sein, daß Clara den ebenfalls durchreisenden Pastor
Tiburtius heiratet, der die Familie nach ihrem Tod um ihr Erbe betrügt.
Die zu Romanbeginn achtjährige Klothilde ist bereits hier ein "außerordentlich
mageres" Wesen "mit glanzlosem, aschigem Haar und stiller Altjungfernmiene"
(M,I,15, Hervorhebung v.d.V.). Sie wird schon bei diesem ersten Festessen - wie auch
bei späteren - einen erstaunlichen Appetit an den Tag legen, ohne jemals zuzunehmen.
Ihr Haar wird unmerklich bereits in jungen Jahren von seiner aschblonden Farbe ins
Mattgraue wechseln, und in ihrer - bei einem achtjährigen Mädchen verwunderlichen -
Altjungfernmiene ist bereits ihr künftiges Schicksal ausgedrückt.
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Bezeichnend für die Thomas Mann eigene Art, auf kommendes Geschehen
vorauszudeuten, ist, daß sie teilweise so subtil und indirekt ist, daß man sie kaum
erkennt. Das nun angeführte Beispiel zeigt, daß Thomas Mann sich an Fontanes
Erzählweise geschult hat. Auch für diesen ist es typisch, daß er in anscheinend
willkürlich-leicht hingeworfenen Gesprächsszenen die wesentlichen Themen anklingen
läßt. Vermeintlich belangloses Geplauder maskiert oft zentrale Aussagen.
Tony wird von ihrem Vater ermahnt, sich an ihrer fleißigen Cousine Klothilde ein
Beispiel zu nehmen. Wohl wissend, daß der Großvater zu ihr halten wird, läßt sie kokett
den Kopf sinken. "'Nein,nein', sagte er, 'Kopf hoch, Tony, courage! Eines schickt sich
nicht für alle'" (M,I,15, Hervorhebung v.d.V.). Diese Worte nimmt man leicht als
einfache, tröstende Redewendung hin.
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Es handelt sich jedoch um eine Zeile eines
Goethe-Gedichtes, das hier ganz abgedruckt werden soll:
Do'stlaringiz bilan baham: |