Mitleid? Wer von der Brücke springt und glaubt, er lande unten in einem Polsterstuhl, beunruhigt mich. Niemand hat niemand über das Geländer gestoßen. Eben dieser blaue Dunst wird von uns après versprüht werden. Ich sehe ein, daß einer Volksgerneinschaft nichts anderes übrig bleibt, hat sie kollektiv sich z. B. Stalingrad eingehandelt, als das kollektive Handeln zu rechtfertigen. Die geschichtlichen Abläufe sind davon bestimmt, daß auf den zur nachträglichen Rechtfertigung eigener Handlungen erfundenen Motivationen die nächste Handlung aufgebaut wird, die dann wieder der Rechtfertigung bedarf. Lauter Akte der Schamlosigkeit. Wenn Dein Blick auf Stalingrad von Mitleid getrübt ist, so meiner von Scham – schließlich: ein Volk, ein Reich . . .
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EIN SOMMER nvı ALLGÄU
[Am 19. Februar 43 werde ich von Ingolstadt nach Kempten zu einem neuen Truppenteil in Marsch gesetzt. Unterwegs in einer Augsburger Kzısernez]
Zum Morgengruß lief ein junge mit Zeitungen durch die Stuben.
Ich kaufte eine und las darin die Sportpalastrede von Goebbels.
[Wollt ihr den totalen Krieg?? jaaall] Das nennt man aus der Not eine Untugend machen.
[Von Marieluise Fleißer]
Ingolstadt, 19. Fehruar 43. Wie ich Ihnen sagte, hat rnir das russische Tagehuth viel hesser gefallen als das französische. Ich gehe davon aus, daß die ursprünglich an Ihre Frau geschriehenen Briefe nunmehr eine Arheit darstellen, die zur Veröffentlichung hestirnrrıt ist. Sie wird 'vom Leser als das Erlehnis des französi- schen Feldzuges und der nachfolgenden Besetzungszeit durch einen deutschen Soldaten gewertet werden. ]eder künstlerische Gegen- stand hat seine gegebenen Voraussetzungen, die erfüllt werden mussen. Er rnuß in einer Form hehandelt werden, die ihm ange- messen und seiner würdig ist, wenn nicht ganz von selhst eine schiefe Wirleung entstehen soll. Wer üher den Krieg publiziert, /eann nicht anders, als sich dern verpflichtenden Gesetz des Krie- ges, unter derrı er durch höhere Gewalt steht, auch rnit dem Wil- len und der Betrachtungsweise zu unterziehen. Er erleht sonst ganz zu recht, daß seine Arheit von der Allgemeinheit ahgesto- /fen wird. Ein Soldat verteidigt sein Land und sein Volle, er ver- teidigt nicht den Feind, das liegt in der Natur der Dinge begrün- det. Das Gesetz des Krieges heißt selhst dann Notwehr, wenn wir gerade der Stärkere sind – wir wissen nicht, wie lange wir die Starleeren sein werden, es giht /eeine sicheren Vorausherechnungen, Viele hahen ihr Lehen hingegehen und viele Familien ihr Liehstes verloren.
Sie rnuflten dies fest in Ihrem Unterhewu/ltsein tragen. In Not- zeiten kann man nicht aus der Reihe tanzen. Feuer ist Feuer, es geht nicht an, rnit Sarnthandschuhen nach ihrn zu fassen. Was Sie dem Feind widerfahren lassen, ist ja nicht Gerechtigkeit, sondern eher eine Vorliehe auf Kosten des eigenen Vollees. Man darf aher 314
den Feind nicht liehen. Krieg will Niichternheit. Üherlegen Sie nur einmal, was die Franzosen an uns allen, auch an Ihrer Frau and Ihrem Kind, mn wollten, wenn sie es tan könnten.
Ganz anders im russischen Teil. Dort ist Ihre Grundhaltung rich- tig und elementar. Es war rnir eine Lust za lesen. Hier ist spontan männliche Haltung, echter Adel, iiherzeagendes Vorhild uns not- wendigen Tans. Dieser Teil heglıäiclet wie die lautere Wahrheit.
Sie 'wissen noch nicht, daß ich rnir einiges heransgeschrieherı hahe . _ .
[Von meiner Antwort an Marieluise Fleißer haben sich drei Ent- würfe erhalten. Es muß mir schwergefallen sein, auf ihren Brief vom 19. Februar 43 einzugehen. Welche Fassung ich abschickte, läßt sich aus den vorliegenden Texten nicht mit Sicherheit ent- nehmen. Ich wähle zum Abdruck jene aus, von der ich nach der Lektüre annehmen darf, sie sei als dritte (und letzte?) entstan- den.]
[An Marieluise Fleißer]
zo. Februar 43, Kempten. Ich bin nicht Ihrer Meinung. Ich sage Ihnen gleich, wie weit ich mit Ihnen gehe. Als der Rußlandkrieg sich ankündigte und ich überzeugt davon war, daß er unternom- men werden würde – schon in diesem Zeitpunkt war ich heilfroh, daß der französische Teil nicht erschienen war. Um wieviel mehr noch, als wir uns im russischen Krieg befanden und er sich ent- wickelte. Ich war mir durchaus darüber klar, daß eine Menge Leute den französischen Teil als frivol empfunden hätten, nun, da es für jedermann ernst geworden War.
Aber gerade deshalb hat dieser Teil seine historische Wahrheit.
Meine Fröhlichkeit, wenn ich so sagen kann, obgleich der Ernst auch diesem Teil nicht abzusprcchen sein wird, riihrte von mei- ner Freude über die Schönheit dieses Landes her, insofern war es eine besonnene Freude. Die Masse aber war in einer reinen Hurra- stimmung und genoß unser frischfröhliches Siegen. Die ernst- haftesten Leute verloren ihre Maßstäbe und dachten zwei Monate lang, Europa würde uns geschenkt. Ich dachte es nicht, und ich habe mit aller Deutlichkeit gesagt, daß ich es nicht dachte. Trotz- dem ist Glanz und Freude in diesen Blättern, Weil, was auch gesagt ist, der Krieg nur sporadisch gewütet hatte, dazwischen aber lag noch das Frankreich, das jetzt untergeht. Wir Soldaten 315
des Feldzuges sind die letzten Ausländer gewesen, welche dieses Frankreich sahen.
Sie können heute jeden Infanteristen fragen, der den Maas- und den Aisne-Übergang mitgemacht hat in vorderster Linie, er wird vom Frankreich-Feldzug heute ebenso sprechen wie von den >›Blumenkriegen« gegen die Tschechei und Österreich. Der fran- zösische Teil hat genau so, wie er dasteht, eine historische Bedeu- tung. Vielleicht ist kein Augenblick ungeeigneter als unser gegen- wärtiger, diesem Teil gerecht zu werden. Wir stecken nun im Krieg wie in einem Sumpf. Damals ritten Wir, um im Bild zu bleiben, einen eleganten Trab auf guten Wegen.
Sie glauben, der Unterschied zwischen den Teilen läge in einer verschiedenen Haltung des Berichtenden. Ich würde Ihnen nur dann zustimmen, wenn ich am 1. September 1939 gedacht hätte, daß wir in einen Blitzkrieg gehen, im August 41 aber, daß wir zehn Jahre Krieg haben werdenr Es fiele mir leicht, zu beweisen, daß ich wohl in Einzelheiten meine Meinung modifizieren mußte, daß ich jedoch von dem Krieg, von seinen Ursachen und vor allem vom Zustand unseres Volkes (und vom Zustand der anderen bc- teiligten Völker) einen Begriff hatte, der mir diese Entwicklung des Krieges wahrscheinlich machte, unabhängig von Schwankun- gen, Teilerfolgen oder Mißerfolgen. Sehen Sie doch bitte in die- ser Feststellung keine Selbstgefälligkeit. Ich hätte immer viel darum gegeben, Unrecht zu haben. Ich war im September 39 und später in keiner Hurrastimmung, ich glaubte den leichten Siegen nicht, und doch steht der französische Feldzug mit so leichtem Gewicht in meinen Blättern – er war nämlich leicht. Es kommt nicht darauf an, ob es Gefallene und Verwundete gegeben hat.
Im Bewußtsein des Volkes wird der französische Feldzug als ein kriegerisches Unternehmen weiterleben, in dem der Einsatz im Verhältnis zum Gewinn minimal war.
Viele von uns waren dankbar, daß die Franzosen so rasch ver- spielten und daß der Krieg nicht das Land verwüstete. Zwischen dem Sieg und dem Genuß des Gewonnenen stand nicht das Grauen. Es gibt viele Arten des Genusses. Die einen tranken den Wein und die Mädchen und hatten damit genug. Die andern sahen das Land in seiner Schönheit. Glauben Sie nicht, ich sei ein kritik- loser Verehrer alles Französischen. Worin die Franzosen uns der- art über sind, daß ich glaube, wir werden sie nie erreichen, ist ihre 316
Fähigkeit, menschlich zu sein und menschlich zu leben. Es ist mei- nes Erachtens auch politisch ein Unglück, daß die Deutschen da- von gar nichts verstehen, wir machen uns damit bei Gott und der Welt verhaßt. Nicht »Vorliebe auf Kosten des eigenen Volkes«, sondern Kritik am eigenen Volk – hier schaut der pädagogische Zeigefinger heraus. Der Augenblick ist gewiß ungeeignet, ich wiederhole es, zu öffentlicher Selbstkritik; später aber, unter anderen Umständen, ist es vielleicht nicht wertlos, zu wissen, daß wir nicht alle ganz blind geworden waren.
Ich verstehe gut, daß Ihnen diese Betrachtungsweise gegen den Strich gehen muß. Ihr Verhältnis zu Ihrer Arbeit, die Art, wie Sie den Auftrag Ihres Talentes ausführen, sind nur bei einem Deutschen möglich. Sie sind, wenn ich's nicht falsch sehe, in jeder Faser Ihres Wesens von jener Deutschheit (Verzeihung für das Wortl), die uns ebensoviel Bewunderung wie Haß in der Welt eingebracht hat, sobald sie über unsere Grenzen hinweg wirkte.
Sie haben, was ich seit langem mit einem respektlosen Ausdruck den »tierischen Ernst« der Deutschen nenne. Menschen dieser Art haben nicht nur ein tiefes Mißtrauen gegen liberale Gesten, son- dern auch gegen das Glück schlechthin. Sie glauben, glückliche Menschen seien nicht ernsthaft. Es ist schwer, Sie davon zu über- zeugen, daß Ernsthaftigkeit ein Zustand ist wie Kurzsichtigkeit oder Musikalität, kein moralischer. Auch haben Sie ein ehrfürch- tiges Verhaltnis zur Politik. Letzteres erweist sich klar aus Ihrer Bemerkung: »Man darf den Feind nicht lieben« - gesagt in bezug auf die Franzosen von 1939/40! Liebe Frau Fleißer, aus man- cherlei Gründen könnte ich an dieser Stelle die Diskussion über das Manuskript nur mündlich fortsetzen; ich sage nur, hier gehen wir allerdings auf sehr verschiedenen Wegen! Wenn ich es mir recht überlege, so sagt mir gerade Ihr Brief wieder, warum der französische Teil meinem Herzen näher steht als der russische.
Es bleibt ein wesentlicher Punkt Ihrer Kritik, der wichtigste vielleicht. Sie meinen, ich hatte, indem ich über den Krieg schrieb, mich unter das »verpflichtende Gesetz des Krieges« stellen müs- sen. In der Tat, die Distanz zum Kriege ist die eigentliche Ur- sache, warum dieser Teil bei hohen Militärs nıißfallen hat. Ich halte jedoch, nachdem ich allmählich einen Begriff meines An- dersseins gewonnen habe, diese nicht affektierte, sondern natür- liche Möglichkeit zur Distanzierung für meine wichtigste Eigen- 317
schaft, ohne die ich nicht mehr wäre als ein ganz leidlicher Stilist.
In eben dieser Eigenschaft liegt auch die Gefährdung meiner geisti- gen Existenz. Später einmal aber wird der Wert dessen, was ich hervorbringe, darin liegen, daß in dieser eminent politischen, zer- spaltenen Zeit eine künstlerische Intelligenz vorhanden war, wel- che die wirkenden Kräfte der aufgeführten Massen zwar begriff, aber unbeirrbar bei einer privaten, d. h. menschlichen Betrach- tungsweise blieb, die Zerspaltung nicht mitmachte und damit ein gesteigertes Beispiel liefert für die Unzerstörbarkeit der mensch- lichen Natur, sofern diese nur der Vernunft unterworfen ist. Wir werden in Zeiten hineingeraten, wir sind schon fast darin, in de- nen die Menschen Grauen und Ekel darüber empfinden werden, daß sie unentrinnbar Teil einer politisierten Masse sind und allein durch ihre Existenz, durch die Notwendigkeit, sich kleiden und ernähren zu müssen, zu einer politisch-militärischen Kraftentfal- tung beitragen ¬ Zeiten, in denen sie mit der Laterne nach einem menschlichen Wort suchen werden. Was heißt denn totaler Krieg andres als totale Politisierung der Massen? Davor erschrecken die Menschen bereits und machen sich deshalb vor, es handle sich um eine Art Notstandsmaßnahme, um das äußerste Mittel, den Krieg zu gewinnen, und nachher würde, so oder so, Frieden, und sie würden wieder Privatleute. Diese einfältigen Narren! Die Massen haben doch gerade erst begonnen, die gcschichtsfor- mende Kraft schlechthin zu werden, und wir werden erleben, wessen sie fähig sind, auch ohne Krieg. Wir Gebildeten hausieren immer noch mit Begriffen des vorigen Jahrhunderts: Volk, Ehre, Vaterland, Stand, Tradition, und merken gar nicht, wie lacher- lich wir uns damit machen. Wir haben eine – verständliche – Neigung, die modernen Kräfte zu verharmlosen, wir glauben, sie würden von der Vergangenheit, der bürgerlichen, noch ge- gängelt – und sehen nicht, daß dieser ganze Traditionsrummel mit Vaterland und dergleichen von der Führung nur gemacht Wird, um den großen Schock zu vermeiden; ganz neue Inhalte werden zur Tarnung mit alten Namen genannt, und das hat mit dem Nationalsozialismus zwar insofern zu tun, als er eine Mas- senschmiede ist, doch werden die ihm nachfolgenden Systeme das gleiche nur eleganter machen und den Leuten ihre Illusionen noch geschickter lassen.
Ich mußte Ihnen andeuten, welchen Begriff ich von der Gegen- 318
wart habe, um Ihnen zu erklären, warum ich Ihre wichtigsten Einwände gegen meine Frankreichnotizen nicht annehmen /eann.
Sie sprechen davon, der Franzose sei unser Feind gewesen. Er war unser Gegner, mein Feind war er nicht. Fiir eine politische Masse ist nur eine politische Masse ein Feind – auch das beweist der Krieg, und die Franzosen sind keine Masse, waren es bis 1940 jedenfalls nicht. Vier Massen sind im Kriege, die deutsche, die russische, die amerikanische und die japanische – eine jede im Impuls und in der Machtstruktur grundverschieden von der andern, aber gleich darin, daß die Moleküle, aus denen sie sich zusammensetzen, den Namen >›Mensch« kaum noch verdienen.
Auch darin allerdings, ich korrigiere mich, gibt es Unterschiede, und was die Russen angeht, denen man doch nachsagt, sie seien Masse schlechthin, so stimmt gerade das nicht. Ich weiß, wovon ich rede: einfacher Soldat sein in einem fremden Volk verbindet trotz der Uniform mit ihm.
Den andern Feind, die amerikanische Masse, werden wir erst kennenlernen. Sie sprechen über diesen Krieg, als wäre er der von 1870 oder 1914. Es ist jedoch ein gänzlich anderer Krieg.
Ich bin seit Freitag abend hier. Die Kaserne, in einem der Land- schaft angepaßten Stil, liegt beherrschend auf einem Hügel zehn Minuten vor der Stadt. Ohne diesmal Zeit zu verlieren, habe ich mir sofort neben der Kaserne eine einfache Stube als Rück- zugs- und Schreibplatz gemietet. Auch Krieg lernt sich. Meine Adresse ist: Kempten, Allgäu, Kaufbeurer Straße 64a bei Beche- rer. Die Meinen sind gut nach Überlingen gekommen und freuen sich sehr ihres schönen Nestes, das bei solchem Frühjahrswetter seine unendlichen Vorzüge in der Sonne spielen laßt.
[An die Mutter, die zusammen mit der Schwester die Berliner Wohnung innehat, die nun geräumt werden soll]
1. März 43. Ich möchte gern wissen, wie Eure Pläne sind, aber ich bitte Dich, aus dieser Frage nicht schon gleich den Schluß zu ziehen, wir wollten Dich und Lisl aus der Ruhlaerstraße vertrei- ben. Die Entwicklung hat nun aber einen Punkt erreicht, in dem wir nichts falsch machen dürfen. Wir haben Möbel in der Ruh- laerstraße, vieles auf dem Fichteberg, noch mehr bei Knauer und den Rest in Überlingen. Von diesen vier Platzen hat nur Über- lingen die richtige geographische Lage. Den zweiten Flügel, der bei 319
Knauer steht, will ich verkaufen und damit einen Teil der Um- zugskosten decken. Der Flügel in der Ruhlaerstraße soll mit um- ziehen. Knauer-Magazin, Fichteberg: kein Problem. Aber wie sind Eure Pläne?, an die unsere insofern gebunden sind, als wir die Wohnung nicht ausleeren können, solange Ihr sie be- wohnt. Wir werden den Berliner Mietvertrag nicht kündigen, sondern die leere Wohnung an Freunde geben, wobei wir im Augenblick an S. denken. Sie will auf alle Fälle in Berlin blei- ben. Das ist zwar nicht zu verstehen – von niemandem, der blei- ben will -, aber es ist ihre Sache, und sie wurde gern unsere Woh- nung übernehmen (ich setze hinzu: solange sie noch steht). Selbst wenn wir dann durch irgendwelche Behörden-Machenschaften das Anrecht auf die Berliner Wohnung verliiren, würden wir nicht von der Absicht abgehen, unser ganzes Zeug und das von W.s entweder nach Weilheim oder an den Bodensee zu bringen – was sich leichter sagt, als durchführen läßt, aber durchgeführt werden muß.
Ich müßte in der Weilheimer Scheune einen großen Lagerraum bauen lassen. Das ist heutzutage auch ein Unternehmen besonde- rer Art, aber ich neige zu der Weilheimer Lösung, weil ich voraus- sehe, daß wir uns dort eines Tages alle zusammenfinden und den Boden umgraben werden, um zu essen zu haben. Hühner und Ka- ninchen werden unsere teilnahmsvolle Fürsorge genießen, und dann wird die Last, dic Du Dir durch die Jahrzehnte mit dem Weilheimer Besitz aufgeladen hattest aus (verzeihl) im wesent- lichen irrationalen Gründen, auf die denkbar überzeugendste Art ihre rationale Rechtfertigung finden. Mein Streben ist, einen Zu- stand vorzubereiten, der uns erlaubt, an einem Ort, der den hauptsächlichen Ereignissen möglichst entrückt ist, durch große Einfachheit der Lebensführung die größte Unabhängigkeit zu er- reichen. Ich weiß, daß Deine Perspektive von der mutmaßlichen Entwicklung mit meiner nicht zusammenfällt. Es liegt in der Na- tur der Sache, daß ich Dir den Beweis für die Richtigkeit meiner Auffassung nur liefern kann, wenn es zu spät wäre, erhebliche Korrekturen in dem, was wir jetzt tun, vorzunehmen. Ich werde Dich nicht bedrangen, uns den Raum in Weilheim zur Verfügung zu stellen, den wir für eine sorgsame Lagerung der Sachen benö- tigen. Der Bodensee ist für die Lagerung eine brauchbare Alter- native. Aber ein Belassen des gegenwärtigen Zustandes ist keine.
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Von den paar hundert Leuten, die Soldaten eingeschlossen, mit denen ich lebe oder in beständiger Verbindung bin, hier, am Bo- densee, in München, in Kempten und an anderen Orten, bin ich bei Weitem in der gelassensten Verfassung. Ich sorge mich nicht um unsere Zukunft, und ich Würde es auch dann nicht tun, wenn uns morgen die Nachricht erreichte, daß wir in Berlin alles ver- loren hätten. Ich sehe nur nicht ein, warum man nicht vernünftig handeln soll. Das Rezept: irgendwie Wird›s schon werden, ist nicht das meine. Die Leute, die danach leben, werden sich wun- dern, in Welcher Weise nicht Wird, was sie nebelhaft sicl1 vorstel- len. Das ist keine Zeit für planlose Emotionen.
I1. März 43. In München hatte ich mich für 9 Uhr früh mit Hei- meran verabredet, »damit wir<<, wie er sagte, »eine ruhige Stunde hätten«. Wir hatten dann eine ruhige Stunde bis halb eins, da ging ich, weills mir übergenug schien und mich hungerte. Er ist ein selbstbewußter Franke, dem alles, auch das Gespräch, in die Form gerät, die seinen Verlag bekannt gemacht hat: ein lässig- kluges Hinwischen über Pointen, aus deren jeder sich notfalls ein I-Ieimeran-Buch machen ließe. Er und sein Unternehmen leben vom Hunger nach Harmlosigkeit, die so tut, als wäre sie Tarnung von Tiefsinn und Zeitkritik. Zu einem gemeinsamen Plan Wollte es uns nicht geraten, und das ist nur natürlich. Schon mein Ingol- städter Liebesbrief-Projekt wäre in der Ausführung viel böser geworden, als es Heimeran verträgt. Ich meine jetzt sein Pro- gramm, nicht den Mann, mit dem ziemlich offen zu reden War.
Offener fast als mit beiden Hausensteins, die ich auch sah. Sein erstes Wort war: Wie geht es Ihrer schönen Frau – verzeihen Sie, daß ich das so unumwunden sage, aber sie ist Wirklich schön. Da hast Du den ganzen Hausenstein. Er übertreibt die angelernte französische Form, die I-Ierzenskultur. Das ist Selbststilisierung.
Da kommt eigentlich kein direktes Wort mehr – bei ihr viel eher, sie ist ja im Vergleich zu ihm eine resolute Person, die zwar – Ko- pie von ihm oder er von ihr? ¬ auch so ziseliert redet, aber mir käme viel leichter bei, ihr auf die Schulter zu schlagen als ihm und zu sagen: nun laß mal 7 wobei ich gar nicht sicher bin, ob, den richtigen Augenblick vorausgesetzt und ein entsprechendes Inter- esse an ihrer Frauensperson, der Effekt nicht höchst überraschend (und positiv) wäre. Indes ich nicht daran zweifle, daß, derartiges §21
ihm gegenüber versucht, die Wirkung katastrophal wäre und man es für immer mit ihm verdorben hätte. Auch das spricht für sie.
Aber wenn ich sage, daß ich mit Heimeran geradliniger reden konnte als mit I-Iausenstein, dann heißt das nicht, daß ich den Verleger für die innerlich entschlossenere Persönlichkeit hielte.
Das Gegenteil trifft zu. Der innere Jammer I-Iausensteins über die Zeit ist echt, er ist tief, tief verstört. Das Zutrauen, das er mir zeigt, beruht darauf, daß er begriffen hat, in diesem Punkt einen Partner zu haben, und ich glaube, er kommt aus der Verwunderung darüber nicht ganz heraus, weil ich so gar nicht sein Typ bin. Er stilisiert und formalisiert auch seine Moral, seinen Ernst, und es will ihm nicht ins Gefühl, daß ein Mensch so ungebildet und non- chalant sein kann, wie ich es bin ¬ und doch unerbittlich. Er würde die Bekanntschaft zwischen uns nicht suchen und sichtlich fördern, wenn er nicht neugierig wäre, herauszufinden, wie's mit uns steht. Gierig auf Neues – diese Eigenschaft ließ ihn Klee früh- zeitig riechen, sie macht ihn im Geistigen so unbefangen, daß er eine Gestalt wie Karl Valentin ganz (und großartig) begreifen konnte, und wenn ich auch nicht Klee und Valentin bin, so scheine ich doch für ihn, seitdem er die Manuskripte kennt, so etwas wie ein Insekt zu sein, dessen Lebens- und Seinsbedingungen ihn interessieren just aus dem gleichen Grunde: Sein offener Geist will sich in seiner Offenheit bestätigen – vielleicht, Weil er sich der Gefahr bewußt ist, daß die französische Maske ihrn aufs Ge- sicht wachsen und er damit ein klein bißchen lächerlich werden könnte.
Wahrend sich mir keine »Idee I-Ieimeran« gebildet hat, sondern nur der Mann und das Gespräch in ihrer Konkretheit mir erfreu- lich waren, geht es mir mit Hausenstein umgekehrt: wenn wir miteinander reden, stelle ich mich auf ihn ein, mache gleichsam einen spitzen Mund, gebe leidlich Bedeutendes von mir und denke dabei: ZumTeufel,Was soll der Quatsch. Aber ich habe eine »Idee I-Iausenstein« in mir, trage diese Tüte voll Trauer, Verletztheit und Abscheu mit mir herum, die er letztlich darstellt, und es ist mir wichtig zu wissen, daß auch in einem so bürgerlich reputier- lichen Kopf das absolute NEIN!! seinen zentralen Platz haben kann. Auf deutsch, was uns wirklich verbindet, darüber reden wir eigentlich gar nicht.
Ich bemerkte zu meiner Überraschung, daß mir die Zerstörungen 312
in der Stadt [München] überhaupt nichts ausmachen. Verglichen mit dem verkommenen Menschenpack, mit dem ich umgehen muß, ist ein zerstörtes Haus eine harmlose Angelegenheit, man kann es ja wieder aufbauen. Aber aus solchen Leuten, zu denen ich ohne Zögern auch den Ingolstädter Hauptmann rechnen würde (wor- aus Du siehst, daß Intelligenz mir keinen Maßstab liefert bei der Unterscheidung von Gesindel und Menschen), wird sich keine ver- nünftige Gesellschaft bauen lassen, unter welchen politischen Be- dingungen auch immer. Sie werden so tun als ob . . . aber ich habe sie begriffen. Nein, wenn der Krieg aus ist, wird nichts mehr senkrecht stehen in den großen Städten, aber es wird mir völlig gleichgültig sein. So argumentieren die Herren auch: alles wird schöner und moderner gebaut werden, und tatsächlich ist ja et- was Wahres dran. Wenn sie in München den elenden Haupt- bahnhof ganz zerschmeißen, wird es leichter sein, eine vernünf- tige Planung auszuführen. Aber so weit denke ich nicht; von so was kommt so was – mit diesem Leibspruch schaue ich mir eine zerbombte Straße an und finde die Welt in Ordnung.
Ich fand die Welt auch in Ordnung, als ich am Sonntag die h- moll-Messe hörte, dirigiert von einem Regensburger Domherrn.
Er hatte ein schönes Verhältnis zu seinen Knabensängern; wenn ihnen ein fortissimo recht strahlend gelungen war, lachte er ihnen zu, und sie lachten zurück und waren ganz in seiner Hand.Es war befriedigend, einmal eine Kinderschar etwas Friedliches tun zu sehen: tun zu hören, besser gesagt.
[An Helene Flohr]
I 1. März 43. Ich habe vor einer Stunde von Deinem zertrümmer- ten Laden erfahren. Es wird Sommer! Ich würde an derselben Stelle am Prager Platz einen Stand errichten, darüber eine rote Sonnenmarkise mit blauen Punkten.
Sei nicht down. Freu Dich mit uns, daß nur Deine Bücher hin sind und Du lebendig bist von oben bis unten. Überleben ist alles. Das hat auch Hitler gesagt, es muß wahr sein. Es ist wahr! Ich war drei Tage in München und mit ein paar gescheiten Leuten zu- sammen, die Gespräche gipfelten alle in der Feststellung: Über- leben ist alles.
Meine heroische Familie ist, wie Du, in Berlin, aber sie muß nicht, während Du mußt. Mußt Du? Ich will nicht noch einmal sagen: 323
Do'stlaringiz bilan baham: |