gebacken und vom Zahn der Zeit zerbissen ist. Im ersten Stockwerk ein freigelassener
Raum als Veranda, zu ebener Erde Nischen, darin ein Hufschmied hantiert, ein Raseur,
53
Siehe dazu: Saltykov-Ščedrin et al. 1953.
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ein Sattler oder ein Brezelbäcker. Die Moscheen fraßen alle Architektur, für den
Profanbau blieb nicht einmal ein Ornamentchen, nicht ein Ziegelchen übrig.
“
(Kisch 1932, S. 22-23)
Kisch gibt eine kurze, aber umfassende Beschreibung für Taschkent als „
eine
räumliche Durchdringung von alt und neu, von Grau und Rot, von Orient und Okzident,
von Primitivwirtschaft und Sozialismus, von Mohammed und Marx
...“ (ebd.: S. 34),
wobei das für ihn so typische Wortspiel mit der Antithese zu erkennen ist.
Zum Abschied von der Stadt personifiziert er diese erneut:
„
Eine Zeitlang läuft die Taschkenter Oase neben uns her, wirft Jasminduft und der
Pappeln Grün als Abschiedsgruß in das Abteil. Dann aber bleibt sie zurück, und alles
ist öde.
“
(Kisch 1932, S. 35)
Auch Hans Werner Richter kam nach Taschkent, er besuchte die Ortschaften, die
Kisch seinerzeit besucht hatte. Er umschreibt Taschkent, ähnlich wie Kisch, mit
Hyperbel und Metapher: „
ein riesenhafter Park, eine Oase, ein grüner Fleck in der
braunen Steppe
“ (Richter 1966, S. 12). Richter idealisiert nicht das russische
Taschkent und umschreibt sein Hotel eher sarkastisch mit „
stalinistischer Prunkbau
“
(ebd.: S. 15), auch das Opernhaus ist für ihn „
nicht weniger prunkvoll
“ als das Hotel.
Er meint, Taschkent sei so groß wie München, und kommt immer wieder auf Kisch
zurück, zitiert ihn und vergleicht, was sich hier wohl geändert habe. Er sieht keine
Moscheen mehr, anders als in der Behauptung von Kisch („
Die Moscheen fraßen alle
Architektur“
(Kisch 1932, S. 23)), die moderne Architektur habe sie gefressen (vgl.
ebd.: S. 13). Nur in seinem Reisebericht kommt die dreifache Aufteilung der Stadt
Taschkent vor:
„
Er führt uns durch Taschkent, eine Stadt mit vielen Gesichtern. Sie besteht in
Wirklichkeit aus drei Städten: einem Eingeborenenviertel, in dem sich weißgetünchte
Häuser mit flachen Dächern in engen Gassen zusammendrängen, einem
Europäerviertel mit breiten, schattigen Straßen und ein- und zweistöckigen Häusern,
kleinen Palästen, im viktorianischen Stil erbaut, und einer Neustadt, die nach der
Revolution entstand und sich immer mehr erweitert. Die drei Stadtviertel kennzeichnen
drei Epochen: die Altstadt die Zeit der Emire, das Europäerviertel die Zeit der
Zarenherrschaft, die Neustadt die Zeit der Sowjets.
“
(Richter 1966, S. 15)
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In Gedanken bleibt er immer in Verbindung mit Egon Erwin Kisch und versucht, sich
seine Reaktion auf das heutige Taschkent vorzustellen („
Kisch wäre überrascht, käme
er heute nach Taschkent
“ (ebd.: S. 16)).
Christ benutzt gleich bei der Betitelung des Abschnittes über Taschkent das Wortspiel
„
Taschkent, die trostreiche Stadt
“ (Christ 1976, S. 195), eine Andeutung auf Neverovs
Erzählung „Taschkent, brotreiche Stadt“ (Neverov 1927). Die Umschreibung
„
trostreiche Stadt
“ verwendet er jedoch in Verbindung mit dem Erdbeben, das sich am
26. April 1966 in Taschkent ereignete, wodurch die Stadt zum größten Teil zerstört
wurde. Seinen Gedankengang formuliert der Reiseautor, wobei er die Stilmittel
Antiklimax („
einen Tag, eine Stunde, eine Sekunde
“) zur Steigerung der Emotionalität
und Personifikation von Taschkent verbildlichend einsetzt:
„
Die stärksten Erinnerungen umgreifen gewöhnlich sehr kurze Zeiträume, einen Tag,
eine Stunde, eine Sekunde. An den Augenblick in der Teestube zu den blauen Kuppeln
muss ich denken jedesmal, wenn ich des zerstörten und wiedererstehenden
Taschkents gedenke, einer Stadt, die uns als brotreich beschrieben war und die um
nichts weniger als trostreich ist, weil sie gezeigt hat, was Menschen in der Not
vermögen.
“
(Ebd.: S. 208)
In seinem zweiten Reisebuch über Usbekistan beschreibt Christ die Hauptstadt mit
vielen elliptischen Sätzen, er schafft auf diese Weise unzählige Bilder von der Stadt:
von Wasserkanälen („
kein Gäßchen ohne Wasser
“ (Christ/Kállay 1979, S. 10)) und
vielen Plakaten, welche die eingefahrene Baumwollernte loben (
„Andere Plakate: 5
300 000! Nichts als diese Zahl
.“) (ebd.), von Gebräuchen („
Ein Friseurladen: für die
Wartenden die Teekanne, Teeschale, ein Schachspiel
.“ (ebd.)), von Straßen, Häusern
und Menschen u. v. a. Er reiht mithilfe von elliptischen Sätzen viele Bilder von
Taschkent aneinander:
„
Die prächtige Nawoi-Straße. Sehr lang. Plötzlich bricht sie auseinander: rechts ziehen
sich weiter die hohen wuchtigen Gebäude, links sind keine Häuser mehr, der Blick geht
ungehindert in ein Lehmhüttenviertel, über Abbruchreifes.
“
(Ebd.: S. 10)
Er fragt sich anschließend, ob es schon einen Eindruck von Taschkent gebe, und
antwortet darauf:
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„
Vielleicht soviel fürs erste: Eine Stadt halb modern, halb Mittelalter. Teils Europa, teils
Orient. Zentrum asiatischer Politik. Internationale Begegnungsstätte der Kultur.
Lebhafte, nicht laute Stadt.
Letzter erster Eindruck vor eintretender Dämmerung, die hier kürzer ist als daheim:
Taschkent, eine blaue Stadt. Oder blaugrüne Stadt. Die Fassaden neuer Häuser haben
fast durchweg einen Farbton wie Wasser in gepflegten Schwimmbecken: Blau,
Blaugrün, Blaugrau, Türkis. Es vermittelt den Eindruck von Kühle und Erfrischung.
Offenbar haben hier, glückliches Taschkent, Leute gebaut, nachdem sie sich
Gedanken übers Bauen gemacht haben.
“
(Ebd.: S. 11)
In obigem Beispiel kontrastiert er Gegensätze mit einem Parallelismus („
Eine Stadt
halb modern, halb Mittelalter. Teils Europa, teils Orient
.“) und verleiht der Stadt
symbolhaft die Farbe
blau
, die auf die vielen Springbrunnen in der Stadt hindeutet. Er
personifiziert Taschkent („
glückliches Taschkent
“), setzt die Floskel als Stilmittel des
Humors ein („
[…] gebaut, nachdem sie sich Gedanken übers Bauen gemacht haben
.“)
und lobt damit indirekt neue sowjetische Architektur.
An anderer Stelle spricht Christ vom „
Geist von Taschkent, der die Stadt zum Symbol
der Solidarität, zur Metropole des sowjetischen Orients wie auch zur interkontinentalen
Begegnungsstätte in Politik und Kultur werden ließ
“ (ebd.: S. 20-21).
Am Beispiel der Beschreibungen von Taschkent sieht man den kolonialistisch und
imperialistisch geprägten Blick der Reisenden besonders deutlich. Die Altstadt von
Taschkent wird als Gegenpol zum russischen Teil, somit zu Europa gestellt (siehe Tab.
12).
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