Popularmusiker in der provinz


Exkurs: Musiktechnologie und Computer



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Exkurs: Musiktechnologie und Computer


Die Einführung neuer Technologien auf den Musikinstrumentenmarkt hatte stets einen großen Einfluss auf die musikalische Praxis. Die Bereitstellung neuer Instrumentenkonzeptionen und Klangquellen durch die Musikinstrumentenindustrie veränderte - mit gewissen Nachlauf - Moden und Stile der Popularmusik. Verwiesen sei hier nur auf die Markteinführung robuster, handlicher Synthesizer (z.B. Moog, Arp) Anfang der 1970-er Jahre, die dem Musiker den Zugriff auf eine theoretisch unbegrenzte Anzahl von Klangfarben ermöglichte.

Die Einführung der MIDI-Technologie hingegen - MIDI = “Musical Instruments Digital Interface” ist eine Technik der Informationsübermittlung zwischen synthetischen Klangerzeugern, mit deren Hilfe Daten über Tönhöhe, Tondauer, Dynamik, Klangfarbe u.a.m. ausgetauscht werden können - brachte einen völlig neuen Aspekt in die musikalische Praxis. Mit dieser Technologie wurden die starren klanglichen Grenzen der Instrumentengruppen durchlässig. Ein Gitarrist war nun in der Lage, über ein Interface Bläserklänge abzurufen. Ein Keyboarder konnte auf seinen Tasten Schlagzeug spielen. Musik-machen, war jetzt nicht mehr an die Situation geknüpft, sich mit anderen Musikern in einem Raum zu einer bestimmten Zeit zu verabreden und über Form und Inhalt der betreffenden Musik zu kommunizieren.

Stattdessen ermöglichten die neuen Technologien das nahezu autarke Produzieren von jeglicher Art von Musik zu Hause. In diesem Zusammenhang muss allem voran das sogenannte “Sampling” genannt werden, eine Technik, bei der mit Hilfe der “Fourier”-Analyse beliebige Klänge zu Digital-Daten verarbeitet und für authentisches Spielen dem Zugriff durch Keyboards oder Steuer-Computer zur Verfügung stehen - auch die MIDI-Technologie kommt in letzter Zeit dabei immer mehr zum Einsatz. An die Stelle von Mitmusikern und der Auseinandersetzung mit verschiedensten Einflüssen und Meinungen trat jetzt immer mehr die Auseinandersetzung mit Bedienungsanleitungen, und der Umfang der zur Verfügung stehenden Klänge und Instrumente war nicht mehr durch die Anzahl der Ensemblemitglieder beschränkt, sondern inzwischen kaum mehr als ein Software-Aspekt.

Andererseits gibt es für den Aspekt der individuellen instrumentellen und musiktheoretischen Befähigung als Meßlatte auch für die Qualität der mit MIDI-Technologie produzierten Musik eine Art Bedeutungsverlust zu verzeichnen : Da es jetzt sogar Laien möglich war, mit relativ erschwinglicher Ausrüstung Musik zu produzieren ohne an formale Kriterien und erlernte Fähigkeiten gebunden zu sein, entstand eine neue musikalische Ästhetik die sich in den modernen Techno-, Dance- oder auch Hip-Hop-Stilen - um nur einige zu nennen - manifestierte. Die neuen Technologien wurden also nicht nur zur Substitution von menschlichen Musikern eingesetzt, sondern es entwickelten sich dadurch neue Musikstile und Ausdrucksformen. Der Ort der konkreten Handlung verschob sich dabei mit der Zeit immer mehr vom Übungsraum an die Computertastatur 237.

Ein interessanter Aspekt dieser Entwicklung ist, dass Praxis und Ästhetik der Popularmusik im großem Umfang von den Angeboten der Instrumentenindustrie beeinflusst werden kann und wird. Der Einfluss der Industrie kann in diesem Falle sogar so weit gehen, dass sich - wie beschrieben - Gruppenstrukturen auflösen und der Musiker individualisiert wird. Hier liegt nun sicherlich kein Fall von Individualisierung von solcher Tragweite vor, wie er sich den Landflüchtlingen des Frühkapitalismus darstellte. Jedoch ist diese Entwicklung im Kontext eines Individualisierungsschubes zu betrachten wie er von Ulrich Beck als allgemeines Modell beschrieben wird 238.
Die Durchmarktung immer größerer Bereiche des alltäglichen Lebens hat schon vor Dekaden die Sphäre der Popularmusik erreicht. Bei dem hier beschriebenen Prozess mag es sich sicherlich nicht das erste Phänomen dieser Art gehandelt haben, jedoch hat die betreffende Technologie den sozialen Aspekt der musikalischen Praxis nachhaltig beeinflusst. Die Substituierbarkeit von Musikern durch Maschinen, die Computer-genau für wenige hundert Mark Funktionen übernehmen, hat nicht ausschließlich die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten bereichert, sondern bewirkt bisweilen auch gegenteilige Effekte : Durch Ausnutzung der neuen Individualisierungschancen verlieren die Akteure ein gewisses Maß ihrer Individualität, indem sie sich in industrieller Massenfertigung hergestellter Technologie bedienen, die Inhalt und Form ihrer Produkte standarisiert.

Die hier beschriebenen Effekte technologischer Entwicklungen auf die Popularmusik stellen sicherlich nur einen Teilaspekt dessen dar, was auch die popularmusikalische Tätigkeit in der interessierenden “Szene” beeinflusst und bewegt. Anderen Einflussgrößen - wie etwa den Massenmedien - wird noch an anderer Stelle Beachtung geschenkt werden (siehe Kap. V)).


Mit dem Beginn der 1970-er Jahre in immer weiterem Ausmaß in der Popularmusik und auch in einigen Jazz-Genres zur Anwendung gebrachte synthetische Klangerzeuger wurden von dreien der vier “Vorstudien”-Gruppen in der “Live”-Situation benutzt, von allen jedoch im Zusammenhang von Studioproduktionen. Aus teilnehmender Beobachtung ergibt sich, dass von anderen seinerzeit in die untersuchte “Szene” involvierte Musikgruppen Keyboard-Synthesizer in noch weit größerem Umfang zum Einsatz kamen. Wenigstens zwei der Akteure aus der “Vorstudie 81/82” begannen schließlich, sich der seit Anfang der 1980-er Jahre immer mehr verbreitenden MIDI- und Musik-Computer-Technologie zu bedienen.

Grundsätzlich wurden die von Akteuren aus der untersuchten “Szene” benutzten Musik-Computer jedoch - anders als im Tanzmusikbereich239 - weitestgehend für Arbeiten im Aufnahmestudio und/oder für das Ausarbeiten von Kompositionen oder Arrangements eingesetzt, kaum aber in der “Live”-Situation. Das kann u.a. darauf zurückgeführt werden, dass der interessierenden “Szene” angehörende Musikgruppen - anders als viele Tanzkapellen - i.d.R. nicht über eigene Beschallungssysteme (PA) verfügen und/oder über einen exklusiv für die jeweilige Gruppe arbeitenden Tontechniker, der auch für das Abmischverhältnis der synthetischen Klangerzeuger zur restlichen Musik sowie für die technische Beschaffenheit des benutzten Musik-Computersystems zuständig wäre.

Die Fülle von mit Musik-Computern erstellten Popularmusikstücken löste im weiteren Verlauf der 1980-er und zu Beginn der 1990-er Jahre auch im Bereich der massenmedial verbreiteten und professionell verwerteten Popularmusik eine Art Gegenbewegung aus. So zumindest stellten es gelegentlich die einschlägigen Massenmedien selbst dar, indem vermittels entsprechender Aufkleber oder Tonträger-Aufdrucke auf das - nicht selten vermeintliche - Nicht-Vorkommen von Musik-Computern in der jeweiligen Musik hingewiesen wurde oder indem man Akteure, die computerisierte Tasteninstrumente spielten, zeitweise aus dem Bühnenerscheinungsbild von Musikgruppen verbannte. Diese Entwicklung bildete sich in Statements einiger jüngerer Interviewter insofern mit einer gewissen ideologischen Einfärbung ab, als dass für sie “kreative” und “innovative” popularmusikalische Tätigkeit und die Benutzung von Musik-Computern sich quasi gegenseitig ausschlossen (Independent) 240.

4) Kulturpolitik

Mit Beginn der 1970-er Jahre findet nicht nur ein deutlich wahrnehmbares Liebäugeln verschiedener “progressiver” Genres der Rockmusik mit sog. “größeren Formen” statt. Es entstehen in diesem Zusammenhang auch immer mehr sog. “Konzept-Werke”, und darüber hinaus dehnen sich viele aktuelle Popularmusik-Kompositionen auf LP-Seitenlänge aus u.ä. . Ebenso können häufig Experimente mit Anleihen an andere Musikarten - vor allem an Jazz und klassische Musik - sowie bisweilen starke Einflüsse auf andere Genres - etwa den Jazz - beobachtet werden, was sich u.U. mit großem Publikumsinteresse sowie nachhaltigem kommerziellem Erfolg für Urheber und/oder Ausführende des “progressiven” Popularmusik-Lagers verbindet.

Auf der anderen Seite wächst die Bereitschaft “etablierter” Kunstbetrachter, wenigstens einzelnen Werken/Genres der Rock-/Popmusik eine Art “Kunstrang” zuzugestehen : Bereits in “The Times” vom 27.12.1963 wurden z.B. Kompositionen der “Beatles” von dem englischen Musikkritiker William Mann mit Werken G. Mahlers verglichen (Sandner (Hg.) 1977), wofür J. Lennon den Mann in seinen Erinnerungen später als “Bullshitter” bezeichnete 241.

Im Jahr 1971 findet dieser Umstand zumindest insofern Widerhall, als dass die “progressiver” Lokalmatadorencombo, in der Spaß damals mitwirkte, ein öffentliches Konzert zusammen mit dem städtischen Jugendkammerorchester gibt. Spaß sagt, man hätte für diesen Anlas eigentlich gar nicht richtig geprobt und bei der Aufführung seien viele Pannen passiert, dem Publikum hätte das Ganze aber trotzdem gut gefallen.

Ob es in Folge der in nahezu allen westlichen Gesellschaften stattgefundenen Jugendrevolten der späten 1960-er Jahre zu einer Art allgemeinerem, zumindest die Kunst betreffenden Werte- und Vorliebenwandel gekommen war, oder ob mittlerweile Angehörige der sog. “68-er Generation” allmählich Positionen des “gesellschaftlichen Mittelbaus”, der Verwaltung und der Kulturpflege zu besetzen und von da aus ihre kulturellen Vorlieben in der Gesellschaft zu etablieren begannen, kann an dieser Stelle nicht entschieden werden. Die Beantwortung dieser Fragen würde eine eigene Studie erforderlich machen. Zumindest Jazzmusik ist seit den frühen 70-er Jahren Gegenstand der Hochschulausbildung 242.

Neben Angeboten durch privatwirtschaftlich betriebene Lehrinstitute, die in mehr oder weniger schneller Folge entstehen und eingehen, widmen sich allmählich auch immer mehr öffentliche Musikschulen dem Gegenstandsbereich des Jazz und der Popularmusik 243. Die Angebotspalette erstreckt sich in diesem Zusammenhang von der Installierung von Jazz- und Rock-Workshops, Jazz-Big-Bands bis hin zur Einrichtung ganzer Abteilungen mit spezialisierten Lehrkräften, die zunächst manchmal aus den Reihen “nicht-studierter” Jazz- und Rock-/Popmusiker rekrutiert werden müssen : Im Zusammenhang der gemäß “Kulturentwicklungsplan der Stadt Osnabrück 1976-1986” (Osnabrück 1979, S. 59 und S. 62) erfolgten Schaffung einer Jazz/ Rock/Pop-Abteilung am Städt. Konservatorium Osnabrück in der zweiten Hälfte der 1970-er Jahre gehörten zu den Lehrenden in dieser Abteilung - von ihren jeweiligen “offiziellen” Ausbildungsständen her - zunächst ein examinierter Architekt, ein abgebrochener Jura-Student und ein ordentlich am Städt. Konservatorium ausgebildeter SMP-ler als Lehrkräfte an. (SMP = staatliche Musiklehrerprüfung). Später kamen u.a. noch ein in Rumänien ausgebildeter Musiker sowie ein sich derzeit noch in der Ausbildung befindlicher Jazzstudent hinzu. Mit dieser Aufzählung soll in keiner Weise die fachliche popularmusikalische Kompetenz der seinerzeit in der Popularmusik-Abteilung des Konservatoriums der Stadt Osnabrück als Lehrer eingestellten Personen in Zweifel gezogen werden. Vielmehr ist dies als Hinweis darauf zu verstehen, dass auf dem in Frage kommenden Teil des Arbeitsmarktes seinerzeit offensichtlich keine bzw. nur wenige - eventuell sogar noch nicht genug - “offiziell examinierte” und spezifisch ausgebildete Kräfte vorhanden gewesen waren, dass auf diese Weise schnell einer offensichtlichen Nachfrage entsprochen werden konnte und dass solches Prozedere im Hinblick auf entsprechende Veränderungen im “kulturpolitischen Klima” der Zeit interpretiert werden können.


Vor dem Hintergrund, dass in den 1970-er Jahren der Ruf nach öffentlicher Förderung aus vielen freien Jazz- und Popularmusikszenen immer deutlicher zu vernehmen war - welcher im übrigen nicht nur in Metropolen, sondern nun auch in Städten der Größenordnung Osnabrücks durch die Kulturbehörden allmählich Gehör geschenkt wird -, kommt es auch in Osnabrück zu Konsolidierungsversuchen einzelner “Szenenteile” in Form von Initiativenbildungen, später zur Gründungen diverser “e.V.´s”. Durch diesen Schritt eröffnete sich für die lokale Musikerinitiative zumindest die Möglichkeit, unter die von der lokalen Kulturbehörde seinerzeit praktizierte “institutionelle Förderung” zu fallen, die örtliche im Kulturbereich engagierte Vereine nach dem Gießkannenprinzip mit Zuwendungen bedachte. Inwieweit dabei auch einem Behörden zu unterstellenden “Kontinuitätsbegriff” gegenüber zu fördernden Interessenverbänden entsprochen wurde, kann hier nur spekuliert werden.
Die Osnabrücker Musikerinitiative entstand in den Jahren 1979/80 im Zusammenhang der Organisation und Durchführung mehrerer Großkonzerte durch einen zunächst lockeren Zusammenschluss von Musiker aus der lokalen Jazz- und Popularmusikszene. Eine dieser Veranstaltungen - ein ab dem 30.4.1981 in der “Lagerhalle”/Osnabrück unter dem Motto “Rock gegen Rechts” stattfindendes dreitägiges Ereignis - wurde wesentlich aus Osnabrücker DKP-Kreisen mitinitiiert. Die Frage, ob hier gemäß einer derzeit ausgegebenen Parteidirektive gehandelt wurde oder ob die betreffenden Leute einfach auch Spaß an der Angelegenheit gefunden hatten, muss unbeantwortet bleiben 244. Der nach dem o.g. Ereignis unter der Bezeichnung “Rock gegen Rechts” geführten Musikerinitiative wurde schließlich von der Kulturbehörde die Namensänderung nahegelegt, da so eine weitere Förderung in politischer Hinsicht weniger Angriffspunkte bieten würde. Die Opportunität dieses Vorschlages ergab sich für die Angehörigen des Musikerselbsthilfezusammenschlusses insofern, als dass von der lokalen Kulturbehörde gelegentlich kleinere Ausfallbürgschaften für Veranstaltungen übernommen wurden. Darüber hinaus kam es auch zur Vermittlung von Sponsoren aus der lokalen Wirtschaft anlässlich mehrerer Großkonzerte sowie von potenziellen Partnern für den Fall der eventuellen Übernahme einer brachliegenden Gastronomie durch lokale Musiker und zur Bezuschussung diverser Tonträgerprojekte von derzeitigen Mitgliedern der untersuchten “Szene”.

Anlässlich des ersten Besuches einer Abordnung des genannten Musikerzusammenschlusses bei der Leitung der lokalen Kulturbehörde war bereits großes Interesse an Kontakten zur örtlichen Popularmusik-Szene seitens des damaligen Amtsleiters geäußert worden. Andererseits zeigte sich, dass die dafür zuständigen Mitarbeiter - begründet durch eine Art “Mangel an einschlägiger Information von außen” - solchen Kontakt bislang gar nicht hätten herstellen können 245.



5) Gesellschaftliche Voraussetzungen/Verlängerte Jugend/“Postadoles-zenz”

Popmusik in ihren unterschiedlichen Ausprägungsformen wurde von diversen Autoren gerne als wichtiges musikalisches Medium der Jugend betrachtet (Frith, Hebdige, Zimmer, Dollase et al., u.v.a.m.), und verschiedene Untersuchungen (Baacke, Jost u.a.m.) haben inzwischen nicht nur den konsumtiven sondern auch den psychologischen und sozialen Stellenwert von Popmusik im Leben vieler Jugendlicher beleuchtet. Ferner wird der Popmusik durch die Massenmedien zu einer allgemein starken Präsenz im Alltagsleben der Menschen verholfen. Popmusiker, ihr Leben, ihre Karrieren werden durch eben diese Massenmedien zudem in positivem, wenigstens interessantem Licht geschildert. Da Popmusik-machen zudem in musikpraktischer Hinsicht oft nicht besonders viele Vorkenntnisse erfordert, mittlerweile auch noch immer mehr Ausbildungs- und Unterstützungsangebote durch Kultur- und Jugendpflegebehörden, freie Initiativen sowie durch private Unternehmen zur Verfügung gestellt werden, mag es als nicht unwahrscheinlich erscheinen, dass junge Erwachsene während einer Phase der “verlängerten Adoleszenz” ggf. eine Karriere auf dem Gebiet der Popularmusik ausprobieren könnten.

Dass Popularmusik auf sie bereits im Kindesalter eine gewisse, mitunter erhebliche Faszination ausgeübt und welche Rolle die jeweiligen Spielarten dieser Musik in ihrem weiteren Leben gespielt hätten, schilderten sowohl die in der “Vorstudie 81/ 82” vorkommenden Akteure als auch viele der anderen Interviewten - darunter auch die nicht bzw. nicht mehr musikalisch Aktiven. Viele Interviews enthielten ferner Statements zur Rolle der Massenmedien im Zusammenhang der Verbreitung von Popularmusik sowie zu daraus sich ergebenden Einflüssen auf die Befragten.
Bedingungen für “verlängerte Adoleszenz” sind in Osnabrück in diversen Ausprägungen vorhanden. So existiert u.a. ein Hochschulausbildungsbereich mit Universität und Fachhochschulen mit z.Zt. ca. 17.000 Studenten, ein differenzierter Freizeitbereich mit Möglichkeiten für Gelegenheitsarbeiten, eine um 12 % herumpendelnde Arbeitslosigkeit.

Auf der anderen Seite gibt es eine für die Größenordnung der Stadt zahlenmäßig relativ starke Popularmusiker-Szene, für die - zum Zeitpunkt der “Vorstudie 81/82” - ein Durchschnittsalter von etwa 28 Jahren ermittelt worden war 246. Da außerdem eine gewisse Fluktuation zu beobachten war - bedingt durch Heirat, Aufnahme einer “festen” beruflichen Tätigkeit o.ä. -, ist die interessierende “Szene” andererseits auf einen gewissen Zulauf angewiesen. Dieser dürfte z.Zt. durch “Neuzugänge” wegen Aufnahme eines Studiums oder durch den Eintritt Auswärtiger in Zivildienstverhältnisse in Osnabrück gewährleistet sein. Zumindest erfreuen sich Ensembles der untersuchten “Szene” häufig einer Lebensdauer von 5 bis 8 Jahren und länger.


Lehrer, einer der jüngeren Interviewten, der zum Zeitpunkt des Interviews etwa 25 Jahre alt ist und gerade ein Studium absolviert, um Musiklehrer an allgemeinbildenden Schulen werden zu können, möchte z.B. die relativ lange Zeitdauer seiner Ausbildung mehr für sich selbst dazu nutzen und sich in seiner musikalischen Tätigkeit als Gitarrist profilieren. Er übt viel, spielt zwar auch in einigen lokalen Jazz-Combos, andererseits nimmt er jedoch an Wettbewerben in den Genres Jazz und Klassik teil und wirkt auf Landesebene in einer Jugend-Jazz-Bigband mit.

Wie bereits Lehrer - allerdings ca. 8 ½ Jahre früher - gaben die meisten von ihnen (mit Ausnahme eines 35-jährigen “Seniors”) an, es “erst mal mit der Musik versuchen” zu wollen. Lediglich zwei der Befragten gingen einem bürgerlichen Beruf nach : einer noch als Lehrling, der andere (der 35-jährige) als Juniorchef eines angesehenen örtlichen Raumausstattungsunternehmens. Die anderen studierten und/oder verdienten ihren Lebensunterhalt in Wesentlichen über Gelegenheitsarbeiten vorwiegend in Kneipen und/oder als Aufbauhelfer bei Konzert-Großveranstaltungen.

Durchgängig war allen Interviews der “Vorstudie 81/82” die Aussage, dass man z.Zt. bestrebt sei, die Sicherung des Lebensunterhaltes irgendwann einmal durch die “eigene Musik” erreichen zu wollen, was auch im Hinblick auf eine starke Ausprägung eines “Selbstverwirklung-durch-die-Musik”-Motives interpretiert werden kann 247.

Gemeinsames Merkmal der angegebenen Aussagen ist, dass sie überwiegend von Personen gemacht wurden - Lehrer benennt diesen Umstand sogar im Hinblick auf seine musikalische Tätigkeit -, die sich zum Zeitpunkt der Interviews in einer Lebensphase befanden, die in von der Sozialwissenschaft und der Sozialpsychologie gemeinhin als “verlängerte Adoleszenz”, “verlängerte Jugend” (“Shell-Jugendstudie `85” 1985, S. 237 ff.) oder “Postadoleszenz” (Kastner 1985) bezeichnet wird.


Für das Stadium der “Postadoleszenz” bietet Kastner (1985, S. 33) folgende Definition nach Keniston (1977, S. 295) an : “Dieses Stadium wird soziologisch gekennzeichnet durch die Distanzierung der Postadoleszenten von der Gesellschaft der Erwachsenen, entwicklungstheoretisch durch die Fortdauer der Möglichkeiten psychologischen Wachstums, und psychologisch durch das Befassen mit der Beziehung des eigenen Selbst zur Gesellschaft.” 248

Als eine der Bedingungen für “verlängerte Adoleszenz”/“Postadoleszenz” wird häufig die längere Dauer bestimmter Ausbildungen - z.B. akademischer oder künstlerischer - im Vergleich zu Ausbildungen z.B. für handwerkliche Berufe o.ä. genannt, welche den Auszubildenden - wenn überhaupt - einen späteren Eintritt ins Berufsleben aufnötigt. Deswegen bliebe ihnen i.d.R. der Zugriff auf Möglichkeiten der längerfristigen Existenzsicherung für sich selbst und eine zu gründende Familie zunächst verwehrt (Kastner 1985, S. 31, S. 71). Kastner (ebd., S. 71) spricht in diesem Zusammenhang eher allgemein von einer “Expansion der Ausbildung”.

In der “Shell-Jugendstudie `81” (1982, S. 101) wird Arbeitslosigkeit als eine weitere Bedingung für “verlängerte Adoleszenz” genannt. An anderer Stelle findet sich in derselben Studie das empirisch belegte Statement : “Nach wie vor bestimmt die soziale Herkunft über die Dauer der Jugend.” (ebd., S. 100 ff. u. S. 287)

Ebenso wird auf die Möglichkeit hingewiesen, dass Individuen sich während der Phase der Adoleszenz unkonventionellen Orientierungen hinsichtlich zukünftigen Lebensgestaltung zuwenden können (Kastner 1985 ; vergl. Baacke 1972b, S. 108 ff.).

Wenn “Adoleszenz” eine - im Übrigen nur schwer bzw. kaum zeitlich eingrenzbare - Phase der “Normenanvisierung” (Kastner 1985, S. 31 ff.) im Leben eines Individuums darstellt, die “als Zwischenstadium gedacht werden” kann, “das konventionellerweise Übergangscharakter (vom Kind zum Erwachsenen) besitzt (....)” (Kastner 1985, S. 34, er benutzt hierfür den Begriff `Transition´), so bewirken bestimmte Strukturprobleme der Gesellschaft (ebd., S. 70 ff.) u.U. bedeutsame Veränderungen hinsichtlich des Charakters dieser Lebensphase : “Wenn die Adoleszenz nicht mehr unbedingt eine Phase des statusorientierten Übertritts darstellt (gleichwohl sie es bei den meisten Individuen noch sein kann), kommt ein erschwerender Umstand hinzu : Die Ausbildung nonkonformer Orientierungen während der Adoleszenz macht wahrscheinlich, dass Teile der Adoleszenten den konventionellen Übertritt konstant - und nicht nur auf eine bestimmte Lebensphase eingegrenzt - verweigern. Die das bürgerliche System tragenden Basismotive bleiben diesem Individuum äußerlich. Da die Strukturschwierigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft bestehen bleiben bzw. eine Verschärfung erfahren und verlängerte Adoleszenzverläufe (wegen der Expansion der Ausbildung) vorliegen, lassen sich die nonkonformen Orientierungen auch über die Adoleszenz hinaus als `Postadoleszenz´ aufrechterhalten.” (ebd., S. 71)

Eine vergleichbare Position vertritt Baacke bereits in den frühen 1970-er Jahren : “ Im beklagten `Herumgammeln´ verbinden sich Verweigerung und Abwarten : Verweigerung, sich mit Freizeitangeboten, die noch dazu kläglicherweise `gut gemeint´ sind, überhäufen zu lassen ; Abwarten, solange im Horizont der Möglichkeiten keine plausiblen Attraktionen erscheinen.” (Baacke 1972a, S. 71)249


Von Kastner angeführte “Strukturschwierigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft” können in dieser Hinsicht u.U. Ursachen für gewisse Synchronisationsprobleme liefern, dass z.B. im einen Teil der Gesellschaft - etwa im Ausbildungsbereich - Belohnungen für die Teilnahme an bestimmten Sozialisationsverläufen durch andere Teile der Gesellschaft in Aussicht gestellt werden - etwa in Form von guten Jobs -, obwohl die in Frage kommenden gesellschaftlichen Teilbereiche - z.T. bekanntermaßen - nicht bzw. nicht mehr in der Lage sind, die verheißenen Belohnungen auch auszuzahlen.

“Verlängerte Adoleszenz” ist demnach als eine Art erweiterter Möglichkeitenraum aufzufassen, in dem Individuen Gelegenheit zum Ausprobieren verschiedener Lebensentwürfe haben, wobei sie ihren Lebensunterhalt nicht selten durch staatliche Unterstützung (Bafög), finanzielle Zuwendungen der Eltern und/oder Gelegenheitsarbeiten bestreiten (vergl. Brake 1981, S. 114/115 u. S. 120).


Als “traditionsbedingte Nische” für die Entstehung sozialen musikalischen Außenseitertums könnte “verlängerte Adoleszenz” allenfalls insofern betrachtet werden, als dass dieser Zeitraum gewissermaßen zur Tradition der akademischen Ausbildung gehört und sich somit der “gesellschaftliche Nischeneffekt” quasi als Nebenprodukt ergäbe. “Verlängerte Adoleszenz” wäre demnach gemäß der am Ende von Kap. I) und Kap. II) formulierten Hypothesen als eine Art Phase im Leben von Individuen aufzufassen, die gewisse Nischenbildung bzw. das Aufsuchen bestimmter bereits vorhandener Nischen für zumindest zeitweiliges soziales Außenseitertum auf der Grundlage einer musikalischen Tätigkeit im Popularmusik-Bereich ermöglicht. Solches Außenseitertum kann dann ggf. in einer anderen - tradierten und/oder bereits existierenden - “Nische” fortgesetzt werden, die durch die Bohéme oder bestimmte Subkulturen o.ä. gegeben wäre. Entsprechende Karriereverläufe in Verbindung mit sozialem Außenseitertum - z.B. im Sinne H.S. Beckers - wären für den interessierenden Personenkreis allerdings nachzuweisen, was der weitere Gang der Untersuchung zu liefern hätte.
Aus teilnehmender Beobachtung ergibt sich, dass der Aspekt der “verlängerten Adoleszenz” trivialerweise bei solchen Akteuren aufschien, die gerade ein Studium absolvierten, sowie auch bei Ensembles, die sich ganz oder mehrheitlich aus Studenten zusammensetzten. Vergleichbar der “Strategie” von Lehrer, der sein Studium bewusst so gestaltete, dass ihm ausreichend Gelegenheit für seine popularmusikalischen und gelegentlich auch für klassische Aktivitäten blieb, und der gemäß entsprechender Interview-Statements die Möglichkeit einer Professionalisierung nicht ausschloss, oder einiger Akteure, die dem Dunstkreis der “Vorstudien”-Musiker angehörten und die ihrer popularmusikalischen Tätigkeit vor dem Hintergrund eines “Alibi-Studiums” nachgingen, bemühten sich mitunter auch jüngere Akteure darum, das Ende ihrer “verlängerten Adoleszenz” ein wenig hinauszuschieben 250.

6) Vorliebe für “alternative Kulturangebote”

Für manche Absolventen von Ausbildungszweigen, die an der jungen Osnabrücker Universität zunächst mit einer Art “Modellcharakter” bzw. die aufgrund bestimmter “Bedarfslagen” eingerichtet worden waren 251, stellte sich die Arbeitsmarktsituation für Akademiker etwa seit Beginn der 1980-er Jahre als eher desolat dar. Man kann davon sprechen, dass sich auf diese Weise die “Verlängerte-Adoleszenz”-Phase diverser examinierter Studienabgänger Universität Osnabrück in die Erwerbslosenzeit hinein verlängert hat (vergl. “Shell-Jugendstudie `81” 1982, S. 101), und es ist davon auszugehen, dass sich einige der betreffenden Individuen noch eine Zeitlang im Universitätsumfeld aufhielten. Wie Abschnitt 5 dieses Kapitels zeigte, liefern “verlängerte Adoleszenz” und/oder Erwerbslosigkeit keine “ausschließliche” Erklärung für den Einstieg in eine musikalische Tätigkeit im Popularbereich oder für die Forcierung solch einer Tätigkeit erweisen.


Dass das Wachstum der Osnabrücker Universität und die daraus resultierende Vergrößerung des durch Studenten und Universitätsangestellte gebildeten Bevölkerungsanteiles mit einem steigenden Bedürfnis nach “alternativen Kulturangeboten” zusammengingen, der sich im Anstieg der Anzahl vor Ort zur Verfügung stehender “alternativer” Lokale in den letzten 20 Jahren abbildete, war bereits in Abschnitt 2 dieses Kapitels dargestellt worden. Nicht zuletzt dürften “alternative” Freizeitangebote auch von sog. “Postadoleszenten” in Anspruch genommen werden.
Auf der anderen Seite werden z.B. die vom Städt. Konservatorium im Popularmusikbereich gemachten Lehrangebote nicht selten von Kindern aus Akademiker-Familien - seien es Universitätsbeschäftigte oder Ausübende anderer akademischer Berufe - genutzt, gelegentlich auch von Universitäts-Studenten 252.

Da mit den o.g. Familien vergleichbare sozial eher im Bereich der Oberschicht bzw. der oberen Mittelschicht angesiedelt wären und das Erlernen eines Musikinstrumentes in diesen Kreisen häufig als Bestandteil der Erziehung auftaucht, kann zumindest im Hinblick auf die Musikart - Popularmusik -, in der unterwiesen wird, eine gewisse “Wertigkeitsverschiebung” unterstellt werden. Nicht selten liefern die Eltern auch die finanzielle Unterstützung für musikalische Tätigkeit außerhalb des Unterrichts in einer Band. Den letztendlichen Beleg dieser Behauptung hätten jedoch Daten über Instrumenten- und Verstärkeranlagenverkäufe u.ä. zu liefern, eventuell auch Datenmaterial über die soziale Herkunft solcher Konservatoriums-Schüler, die in der Jazz-/Rock-/Pop-Abteilung bestehende Angebote wahrnehmen. Derartiges Datenmaterial steht aber nicht zur Verfügung.


Die - gestiegene - Vorliebe für “alternative Kultur” hilft nicht nur in gewisser Weise, die Beschäftigungsverhältnisse der Lehrer der Jazz-/Pop-Abteilung des Städt. Konservatoriums - wenigstens eine Zeitlang - zu sichern, sie begünstigt auch “freie” Unterrichtsangebote, die Bereitstellung von Gelegenheitsarbeitsplätzen sowie das “Live”-Musik-Angebot in der Stadt und in der näheren Region : Ende der 1980-er/zu Beginn der -90-er Jahre gab es in Osnabrück und im näheren Umland ca. 5 Lokale mit einem Fassungsvermögen bis ca. 200 Personen, die regelmäßig - z.T. mehrmals in der Woche - “Live”-Musik-Veranstaltungen durchführten. Etwa 10 bis 12 ähnliche Lokale präsentierten darüber hinaus im Schnitt 1- bis 20-mal pro Jahr “Live”-Musik. Parallel führte diese Entwicklung zu einer Zunahme von Ensembles, deren Repertoires überwiegend aus bekannten Rockmusikstücken aus den 1970-er Jahren bestand, da derzeit gerade dieses Popularmusikgenre bei Publikum und/oder Wirten vieler der betreffenden Lokale gut ankam 253.
Inwieweit auch hinsichtlich der von lokalen Jazz-/Rock-/Popgruppen gemachten Musikangebote von solch einer gestiegenen Vorliebe für “alternative Kultur” gesprochen werden kann, sei hier dahingestellt : Viele von Osnabrücker Musikern dieses Bereiches Ende der 1970-er/zu Beginn der -80-er Jahre selbstorganisierte Großveranstaltungen erfreuten sich zunächst regen Publikumszulaufes. So waren bei den jeweils am 26.12. in der Osnabrücker “Halle Gartlage” stattfindenden “Christmas on the Rock´s”-Konzerten der Jahre 1979 - 1982 durchschnittlich 1.500 zahlende Besucher zu verzeichnen gewesen. Dieses ging in den Jahren 1980 und 1981 auch mit der finanziellen Beteiligung seitens einer örtlichen Bierbrauerei zusammen, die durch das Kulturamt der Stadt vermittelt worden war und deren Beteiligung in 1981 eine Ausdehnung der Veranstaltung auf zwei Tage ermöglichte 254.

Ähnliche Publikumsresonanz erzielten auch eine Reihe anderer Veranstaltungen, die in dem genannten Zeitraum von den Osnabrücker Musikern in Eigenregie durchgeführt wurden 255.

Ein spürbarer Rückgang des Publikumsinteresses an derartigen Konzertereignissen war jedoch gegen Mitte der 1980-er Jahre zu verzeichnen, als zu dem 1983-er Weihnachtskonzert nur noch knapp 800 zahlende Besucher erschienen, was dazu führte, dass den auftretenden Musikern keine Gagen ausbezahlt werden konnten. In den folgenden Jahren unter dem Motto “Christmas on the Rock´s” für den zweiten Weihnachtsfeiertag anberaumte Konzerte mit lokalen Vertretern diverser Popularmusikgenres hatten z.T. unter weit drastischerem Desinteresse seitens des Publikums zu leiden. Darüber, ob sich diese Entwicklung bereits bei früher zu datierenden “Konzertflops” andeutete 256, oder ob hierfür eher schlechte Veranstaltungsorganisation, eventuelle Übersättigung des Publikums sowie der Umstand, dass sich - zur wahrscheinlich gelegentlichen Langeweile des Publikums - die Auftrittsplätze bei derartigen “Events” oft über Jahre hinweg jeweils nur eine Handvoll Lokalmatadoren-Combos teilte, verantwortlich gemacht werden können, soll hier - um ein Abgleiten ins Spekulative zu vermeiden - nicht weiter diskutiert werden.

Möglicherweise können im Zusammenhang der abnehmenden Publikumsresonanz hinsichtlich solcher Konzert-Großveranstaltungen, die von den untersuchten Musikern selbst organisiert wurden, auch sich allmählich vollziehende Veränderungen in der Publikumsstruktur zur Erklärung herangezogen werden. Diesem Sachverhalt gewidmete empirische Untersuchungen an der Osnabrücker “Szene” sind jedoch nie durchgeführt worden 257.


7) “peer-groups”

In Interviews aus der “Vorstudie 81/82” enthaltene Aussagen sowie Statements aus später mit einigen der “Vorstudien”-TeilnehmerInnen erstelltem ergänzendem Material wird immer wieder die Rolle beschreiben, die Popularmusik im Zusammenhang der Aktivitäten von jugendlichen Gleichaltrigengruppen - “peer-groups” - gespielt hatte : Lehrer bezeichnet z.B. die Vorliebe seiner Clique für Jazz-Musik z.B. als eine Art Abgrenzungsinstrument gegenüber anderen Cliquen, der bevorzugte Musikstil hat hierbei eine wichtige Bedeutung. Für Spaß bot die Gleichaltrigengruppe die Möglichkeit, sich eine Art Refugium schaffen zu können, wo er in dem gemeinsam eingerichteten “Club” in der Freizeit “seine Musik” hören konnte.

Andererseits wird von Lüdtke das “Freizeitsystem” moderner “zivilisierter” Gesellschaften westlichen Typs als in seinem Angebotsbereich von zunehmender Ausdifferenzierung und Fluktuation gekennzeichnet begriffen. Hinsichtlich der Möglichkeiten nicht nur Popularmusik-bezogener Freizeitgestaltung stünden demnach der Sozialisationsagentur der Gleichaltrigengruppe bzw. “peer-group” immer neue/andere, häufig durch die Massenmedien vermittelte Angebote gegenüber, die ganz, teilweise, gar nicht, vom einzelnen Individuum oder von einer entsprechenden Gruppe wahrzunehmen freigestellt ist (vergl. Schilling 1977, S. 97 ; vergl. auch Luhmann 1996).
Auch der Popularmusikbereich als Bestandteil des Freizeitangebots moderner Gesellschaften “westlichen Typs” ist hinsichtlich der Ausprägung z.T. kurzlebiger Musikstile und -moden einem ständigen Wandel unterworfen - nicht zuletzt wegen der spezifischen Dynamik des sich mit diesem Bereich befassenden Wirtschaftszweiges und einer entsprechenden “Forcierung” solchen Wandels durch die Massenmedien.
Einen konkreten Hintergrund für die Aktivitäten jugendlicher “peer-groups” in der Osnabrücker Situation liefert zunächst die seit 1970 gestiegene Kapazitätsvergrößerung im Bereich der Gymnasien : Durch die Einrichtung der “Gesamtschule Schinkel” in den 1970-er Jahren kam zu den bereits bestehenden 8 Osnabrücker Gymnasien, die seitdem ihre Schülerzahlen - bedingt u.a. durch Umbaumaßnahmen, Ortsverlagerungen, die Einführung der Koedukation - mehr oder weniger konstant hielten, wenn nicht sogar erhöhten, eine weitere allgemeinbildende Schule hinzu, die den “Sek I”-Abschluß ermöglichte. Ebenso sind seit dieser Zeit auch in größeren Nachbargemeinden 258 Neueinrichtungen von Gymnasien zu verzeichnen. Allerdings kommt es in Osnabrück parallel zu dieser Entwicklung auch zu Auflösungen im Bereich der sog. “Realschulen” bzw. zu Zusammenlegungen mit Gymnasialschulen 259.

Außer der mit Unterstützung der Stadtverwaltung zustande gekommenen Einrichtung des “alternativen” - allerdings auch städtisch subventionierten - Kommunikationszentrums “Lagerhalle”, das allerdings mehr Angebote für ein “älteres” Publikum, Studenten, Angehörige des “akademischen Mittelbaus” u.ä. zur Verfügung stellt, entstehen seit Mitte der 1970-er Jahre eine Reihe von Stadtteilzentren (Ziegenbrink, Gemeinschaftszentrum Lerchenstraße) bzw. werden bereits bestehende Einrichtungen vergleichbarer Art wiederbelebt (HdJ = “Haus der Jugend”). Großer Wert wird dabei auch auf die Anvisierung der anrainernden Jugendlichen als Zielgruppe dieser Einrichtungen gelegt - nicht zuletzt wegen der bisweilen prekären sozialen Verhältnisse in den näheren Umgebungen der jeweiligen Stadtteilzentren.

Ferner werden - z.T. in Zusammenarbeit mit kommerziellen Ausrichtern - seit Anfang der 1980-er Jahre konkrete Sonderangebote an Jugendliche gerichtet :

- Mit der Zeit hatte sich das bei vielen Osnabrücker Schülern beliebte Prozedere, sich am Rosenmontag in der Osnabrücker Innenstadt öffentlich zu betrinken und dabei die Spirituosenbestände der anrainernden Geschäfte zu plündern - natürlich ohne zu bezahlen - schließlich zu einem starken Ärgernis sowohl der in der Osnabrücker Fußgängerzone ansässigen Geschäftsleute als auch von deren Kundschaft entwickelt. Vor allem aus diesem Grund wurden durch eine Kooperationsmaßnahme, an der sich zwei lokale Großdiscotheken, das Kulturamt sowie das Jugendamt der Stadt beteiligten, Popkonzerte organisiert. Durchgeführt wurden die Konzerte ab 1984/85 an den Rosenmontagen zunächst in einem Zelt, das auf einem Parkplatz in der Innenstadt errichtet worden war, später in der Osnabrücker “Halle Gartlage”. Der beabsichtigte Effekt war, die sich weiterhin betrinkenden Jugendlichen aus der Fußgängerzone der Innenstadt heraus zu bekommen 260.

- In den 1990-er Jahren pflegten Osnabrücker Großdiscotheken zeitweilig - in der Regel in Kooperation mit dem “Stadtschülerrat” und/oder dem “Stadtjugendring” - sog. “School´s out”-Parties zu veranstalten, mit denen die Schüler den Beginn der Sommerferien einläuteten. Ebenso richten solche Veranstalter - inzwischen ebenfalls seit mehreren Jahren - schulübergreifende Abiturienten-Parties aus.

- Hinsichtlich der Pflege der musikalischen Tätigkeit im Popularmusikbereich bieten die unterschiedlichen Stadtteilzentren sowie das “HdJ” mehr oder weniger regelmäßig Rock- und Jazz-Sessions an, die interessierten jungen Nachwuchsmusikern Gelegenheit zum spontanen Miteinandermusizieren geben sollen. Auch werden in diesen Einrichtungen - vor allem im “HdJ” - häufiger Konzerte mit Nachwuchsbands sowie Veranstaltungsreihen durchgeführt, die speziell dem lokalen popularmusikalischen Nachwuchs als Präsentationsforum zur Verfügung stehen. Dabei erfreuten sich besonders die in Wettbewerbsform durchgeführten Veranstaltungen (“Newcomer-Rock-Festivals” u.ä.) beim Publikum zeitweilig großer Beliebtheit 261.

Funktion und Rolle der “peer-groups” in der Entwicklung Jugendlicher sind in der soziologischen und sozialpsychologischen Literatur bereits ausführlich beleuchtet worden, ebenso auch der Stellenwert der “peer-groups” in der jugendlichen Freizeitgestaltung 262.

Wollte man demnach “Adoleszenz” als eine “transitorische” Phase im Leben eines Individuums betrachten, die u.a. durch “Normenanvisierung” gekennzeichnet wäre (Kastner 1985), so dürfte diese Auffassung vor dem Hintergrund, dass Individuen sog. “nichtkonventionellen Orientierungen” in das Stadium der “Postadoleszenz” hinein verlängern können (Kastner 1985), zumindest die Annahme von Wahlmöglichkeiten zwischen “konventionellen” und “nichtkonventionellen” Orientierungen implizieren. Andererseits wird als bekannt vorausgesetzt, dass Jugendliche nicht selten an mehreren “Gleichaltrigengruppen” teilnehmen - Freundeskreis, Sportverein, politische Gruppierungen u.v.a.m. (vergl. Schilling 1977 ; vergl. auch “Shell-Jugendstudie `81” 1982) -, so dass Adoleszens als eine Art Probierfeld für die mit dem Erwachsenen-Status zusammengehende Rollenvielfalt zu betrachten ist .

Für Parsons ist solcher Rollenpluralismus nicht nur Grundlage jeder Gesellschaftstheorie, er sieht auch einen Zusammenhang zwischen dem Grad seiner Ausdifferenzierung und dem Entwicklungsniveau der jeweiligen Gesellschaft : “Mitglied eines Kollektivs, auch des gesellschaftlichen Gemeinwesens, ist stets die Person in ihrer Rolle, und nicht das konkrete Individuum. (....) Dass eine Person eine Vielzahl von Rollen übernehmen kann, ist eine der wichtigsten Grundlagen soziologischer Theorie und muss ständig in Erinnerung behalten werden. In dem Maße, wie sich eine Gesellschaft entwickelt, nimmt zwar der Rollenpluralismus zu, er besteht jedoch in jeder Gesellschaft.” (Parsons 1976, S. 142) 263

Sich aus dem Kulturbereich ergebende Hilfestellungen, Wandel in den Anschauungen und/oder im Bereich bestimmter Traditionen - z.B. solche, die die musische Erziehung betreffen - können ferner als begünstigende Faktoren dafür auftreten, dass Jugendliche mit musikalischen Fähigkeit und/oder Interessen in eine gemeinschaftliche popularmusikalische Tätigkeit einsteigen und ggf. auch versuchen, ihren jeweils favorisierten gemeinsamen “Gruppenstil” in konkrete Musik umzusetzen 264.


Die Ausführungen von Spaß ermöglichen zumindest eine Interpretation in der Richtung, er hätte seine popularmusikalische Tätigkeit zunächst in Ermangelung eines besseren zur Verfügung stehenden Freizeitangebotes aufgenommen. Aus teilnehmender Beobachtung ergibt sich, dass vor dem Hintergrund zunehmender Ausdifferenzierung im Bereich der an Jugendliche im Pubertätsalter adressierten Freizeitangeboten die popularmusikalischen Aktivitäten in der betreffenden Lebensphase seit den 1960-er Jahren wenigstens nicht zurückgegangen sind.

Der z.B. von Lehrer konstatierte Umstand, dass bestimmte Popularmusikpräferenzen bisweilen dazu instrumentalisiert wurden, die eigene Gleichaltrigengruppe von anderen absetzen zu können, wird in vergleichbarer Weise noch von weiteren Interviewten - sowohl von älteren, “mittleren” als auch von jüngeren - referiert. Ebenso finden sich auch entsprechende Statements, die sich auf die Aufnahme einer popularmusikalischen Tätigkeit vor dem genannten Hintergrund beziehen 265.

In den Interviews eher in der Minderzahl befinden sich Ausführungen, die in der Hinsicht interpretiert werden können, die jeweilige Aufnahme popularmusikalischer Tätigkeit im Pubertätsalter sei auf eine Art “Protesthaltung” zurückführbar, die einzelne Akteure z.B. gegenüber dem ihnen bisweilen von den Eltern verordneten klassischen Musikunterricht eingenommen hätten.

Auch eine Interpretation, die die Aufnahme einer popularmusikalischen Tätigkeit als Ausdruck eines aufkeimenden Generationskonfliktes darstellt, würde zu kurz greifen : Wenn auch bei älteren Interviewten (Spaß II.) bzw. bei einigen mittleren (Humor) von den Eltern die Aufnahme dieser Tätigkeit zunächst nicht unbedingt gutgeheißen und schon gar nicht gefördert, später jedoch toleriert wurde, so konnten doch die jüngeren Interviewten fast durchweg mit der diesbezüglichen Aufgeschlossenheit und Unterstützung seitens ihrer Eltern rechnen 266.


Wenn in oben dargestellten Ausführungen über die in jeweiligen Gleichaltrigengruppen gepflegten Popularmusikpräferenzen gewissermaßen Implikationen über die entsprechenden - zumindest “musikalischen” - “peer-group”-Stile enthalten sein mögen, so ist demgegenüber Statements von Akteuren aller “Altersstufen” zu entnehmen, dass der “musikstilistischen Ausrichtung” erster Aktivitäten im Popularbereich während der Pubertät zunächst keine bzw. eine eher untergeordnete Bedeutung zukam. Gespielt wurde, was sich irgendwie spielen ließ (Lehrer ; Harley ; Lederjacke II.), was einem jemand zeigte (Paradiddle), wozu sich irgendwelche Noten auftreiben ließen (Hobby ; Paradiddle).

Dieses deckt sich auch insofern mit Befunden aus teilnehmender Beobachtung, dass sich anlässlich solcher “erster” Musikgruppen mitunter Akteure zusammenfanden, die verschiedene bis gar keine “äußerliche Insignien” solcher jugendkultureller Gruppierungen trugen, die durch bestimmte Popularmusikstile repräsentiert wurden, und/oder die zumindest unterschiedliche musikalische Präferenzen hatten 267.

Ebenso unterlagen zunächst eingegangene “stilistische Festlegungen” während des weiteren Bestehens solcher “Pubertäts-Combos” bisweilen einem relativ starken und schnellen Wandel - wenigstens in der Einstellung einzelner Mitglieder der betreffenden Musikgruppe (Hard-rock ; Paradiddle). Diese wurde von den jeweiligen Akteuren nicht selten damit begründet, sie hätten am Festhalten der gewählten Stilistik “keinen Spaß” mehr gehabt. “Erst mal gemeinsam Musikmachen”, “zusammen `Krach machen´”, “durch die gemeinschaftliche popularmusikalische Tätigkeit Spaß haben wollen” war andererseits von Interviewten aller Altersstufen im Rückblick als eines der wesentlichen Momente für die Aufnahme erster Musikgruppentätigkeit während der Pubertät genannt worden.

Dass darüber hinaus von vielen “Vorstudien”-AkteurenInnen der Wunsch geäußert wurde, mit gemeinschaftlicher popularmusikalischer Tätigkeit, an der man Spaß hat, auch einmal den Lebensunterhalt sicherstellen zu können, andere wieder des mangelnden Spaßes wegen aus Formen professioneller Popularmusikpraxis wieder ausstiegen (Spaß), aber trotzdem weiterhin musikalisch tätig blieben, und einige jüngere Interviewte Spaß an popularmusikalischer Tätigkeit und deren Professionalisierung sogar als nicht bzw. nur schwer miteinander vereinbar betrachteten (Independent), kann nicht nur im Hinblick auf ein besonderes Interesse der interessierenden Personengruppe an einem etwaigen “hedonistischen Aspekt” popularmusikalischer Tätigkeit interpretiert werden. Ebenso mag hier eine besondere Affinität zu popularmusikalischer Praxis gemäß den eigenen Präferenzen aufscheinen, da ältere Akteure mitunter die Erfahrung machen konnten, dass professionelle popularmusikalische Tätigkeit von gewissen “Entfremdungsmomenten” behaftet sein kann (Beat ; Spaß).




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