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Wir zählen die Wochen nicht mehr. Es war Winter, als ich ankam, und bei
den Einschlägen der Granaten wurden die gefrorenen Erdklumpen fast ebenso
gefährlich wie die Splitter. Jetzt sind die Bäume wieder grün. Unser Leben
wechselt zwischen Front und Baracken. Wir sind es teilweise schon gewohnt,
der Krieg ist eine Todesursache wie Krebs und Tuberkulose, wie Grippe und
Ruhr. Die Todesfälle sind nur viel häufiger, verschiedenartiger und grausamer.
Unsere Gedanken sind Lehm, sie werden geknetet vom Wechsel der Tage –
sie
sind gut, wenn wir Ruhe haben, und tot, wenn wir im Feuer liegen.
Trichterfelder draußen und drinnen.
Alle sind so, nicht wir hier allein – was früher war, gilt nicht, und man weiß
es auch wirklich nicht mehr. Die Unterschiede, die Bildung und Erziehung
schufen, sind fast verwischt und kaum noch zu erkennen. Sie geben manchmal
Vorteile im Ausnutzen einer Situation; aber sie bringen auch Nachteile mit sich,
indem sie Hemmungen wachrufen, die erst überwunden werden müssen. Es ist,
als ob wir früher einmal Geldstücke verschiedener Länder gewesen wären; man
hat sie eingeschmolzen, und alle haben jetzt denselben Prägestempel. Will man
Unterschiede erkennen, dann muss man schon genau das Material prüfen. Wir
sind Soldaten und erst später auf eine sonderbare und verschämte
Weise noch
Einzelmenschen.
Es ist eine große Brüderschaft, die ein Schimmer von dem Kameradentum
der Volkslieder, dem Solidaritätsgefühl von Sträflingen und dem verzweifelten
Einanderbeistehen von zum Tode Verurteilten seltsam vereinigt zu einer Stufe
von Leben, das mitten in der Gefahr, aus der Anspannung und Verlassenheit des
Todes sich abhebt und zu einem flüchtigen Mitnehmen der gewonnenen Stunden
wird, auf gänzlich unpathetische Weise. Es ist heroisch und banal, wenn man es
werten wollte – doch wer will das?
Es ist darin enthalten, wenn Tjaden bei einem gemeldeten feindlichen
Angriff in rasender Hast seine Erbsensuppe mit Speck auslöffelt, weil er ja nicht
weiß, ob er in einer Stunde noch lebt. Wir haben lange darüber diskutiert, ob es
richtig sei oder nicht.
Kat verwirft es, weil er sagt, man müsse mit einem
Bauchschuss rechnen, der bei vollem Magen gefährlicher sei als bei leerem.
Solche Dinge sind Probleme für uns, sie sind uns ernst, und es kann auch
nicht anders sein. Das Leben hier an der Grenze des Todes hat eine ungeheuer
einfache Linie, es beschränkt
sich auf das Notwendigste, alles andere liegt in
dumpfem Schlaf; – das ist unsere Primitivität und unsere Rettung. Wären wir
differenzierter, wir wären längst irrsinnig, desertiert oder gefallen. Es ist wie
eine Expedition im hohen Eise; – jede Lebensäußerung darf nur der
Daseinserhaltung dienen und ist zwangsläufig darauf eingestellt. Alles andere ist
verbannt, weil es unnötig Kraft verzehren würde. Das ist die einzige Art, uns zu
retten, und oft sitze ich vor mir
selber wie vor einem Fremden, wenn der
rätselhafte Widerschein des Früher in stillen Stunden wie ein matter Spiegel die
Umrisse meines jetzigen Daseins außer mich stellt, und ich wundere mich dann
darüber, wie das unnennbare Aktive, das sich Leben nennt, sich angepasst hat
selbst an diese Form. Alle anderen Äußerungen liegen im Winterschlaf, das
Leben ist nur auf einer ständigen Lauer gegen die Bedrohung des Todes, – es hat
uns zu denkenden Tieren gemacht, um uns die Waffe des Instinktes zu geben, –
es hat
uns mit Stumpfheit durchsetzt, damit wir nicht zerbrechen vor dem
Grauen, das uns bei klarem, bewusstem Denken überfallen würde, – es hat in uns
den Kameradschaftssinn geweckt, damit wir dem Abgrund der Verlassenheit
entgehen, – es hat uns die Gleichgültigkeit von Wilden verliehen, damit wir trotz
allem jeden Moment des Positiven empfinden und als Reserve aufspeichern
gegen den Ansturm des Nichts. So leben wir ein geschlossenes,
hartes Dasein
äußerster Oberfläche, und nur manchmal wirft ein Ereignis Funken. Dann aber
schlägt überraschend eine Flamme schwerer und furchtbarer Sehnsucht durch.
Das sind die gefährlichen Augenblicke, die uns zeigen, dass die Anpassung
doch nur künstlich ist, dass sie nicht einfach Ruhe ist, sondern schärfste
Anspannung zur Ruhe. Wir unterscheiden uns äußerlich in der Lebensform
kaum von Buschnegern; aber während diese stets so sein können, weil sie eben
so sind und sich durch Anspannung ihrer Geisteskräfte höchstens fortentwickeln,
ist es bei uns umgekehrt: unsere inneren Kräfte sind nicht auf Weiter-, sondern
auf Zurückentwicklung angespannt. Jene sind entspannt und selbstverständlich
so, wir sind es äußerst angespannt und künstlich. Und mit Schrecken empfindet
man nachts, aus einem Traum aufwachend, überwältigt und preisgegeben der
Bezauberung heranflutender Gesichte, wie dünn der Hak und die Grenze ist, die
uns von der Dunkelheit trennt –
wir sind kleine Flammen, notdürftig geschützt
durch schwache Wände vor dem Sturm der Auflösung und der Sinnlosigkeit, in
dem wir flackern und manchmal fast ertrinken. Dann wird das gedämpfte
Brausen der Schlacht zu einem Ring, der uns einschließt, wir kriechen in uns
zusammen und starren mit großen Augen in die Nacht. Tröstlich fühlen wir nun
den Schlafatem der Kameraden, und so warten wir auf den Morgen.
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