Kritische Psychologie bezeichnet eine marxistisch orientierte wissenschaftliche Richtung der Psychologie. Sie entstand zeitgleich um 1969, mit unterschiedlichen Schwerpunkten, vor allem in West-Berlin am Psychologischen Institut im Fachbereich 11 der Freien Universität, am Psychologischen Institut der Leibniz-Universität Hannover und an der Universität Bremen, an der es damals noch keinen Psychologie-Studiengang gab.
Die Selbstbezeichnung kritische Psychologie, auch Kritische Psychologie, wird von unterschiedlichen akademischen Richtungen in der Psychologie verwendet. Die Gemeinsamkeit dieser Ansätze, zu denen z. B. der soziale Konstruktivismus in der Psychologie, die phänomenologische Psychologie oder die psychoanalytische Sozialpsychologie zählen, liegt in ihrer Abgrenzung von naturwissenschaftlich orientierten Psychologieschulen, die methodisch experimentell-statistisch vorgehen. Des Weiteren betrachten sich die Vertreter der „Kritischen Psychologie“ skeptisch gegenüber "bürgerlicher, herrschender" Lehre und nehmen für sich in Anspruch, deren Ansätze "prinzipiell" zu hinterfragen.
Mit der Bezeichnung „Kritische Psychologie“ ist ein bestimmter wissenschaftlicher Arbeitszusammenhang gemeint. Ausgehend von marxistischen Positionenin Philosophie und Gesellschaftstheorie wurden hier Grundbegriffe („Kategorien“) erarbeitet, um ein "historisches Paradigma" für die Psychologie zu entwickeln und deren "vorparadigmatischen" Zustand zu überwinden.[1]
Diese Grundbegriffe sollen sogenannter subjektwissenschaftlicher Forschung dienen, d. h. einer Analyse von subjektiven Problemen, die vom Standpunkt der Betroffenen ausgeht und den konkreten Zusammenhang psychischer, sozialer und gesellschaftlicher Momente erfasst. Sie soll eine soziale Selbstverständigung über Handlungsbegründungen ermöglichen, unter der Annahme, dass gesellschaftliche Verhältnisse von Menschen geschaffen und daher veränderbar sind – und entsprechende Handlungsmöglichkeiten eröffnen.[2]
Mit der Entwicklung der Kritischen Psychologie ist die Absicht verbunden, eine völlige Neuorientierung der Psychologie anzustoßen; ihr Anspruch geht also wie bei den meisten anderen "Schulen" auch über den einer wissenschaftlichen Schule hinaus. Die Bezeichnung „Berlin school of critical psychology“ ist daher im Grunde irreführend, international aber dennoch gebräuchlich.
„Kritische Psychologie ist [...], so Klaus Holzkamp, ‚ein nie abgeschlossener Prozess des Erkenntnisgewinns, ... ein dauernder Kampf gegen Borniertheit, Oberflächlichkeit, Scheinwissen, ein permanentes In-Frage-Stellen des scheinbar Selbstverständlichen‘ und ‚ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen, dabei vor allem auch gegen den Strom der eigenen Vorurteile, und [...] gegen die eigene Tendenz zum Sich-Korrumpieren-Lassen und Klein-Beigeben gegenüber den herrschenden Kräften, denen alle Erkenntnisse gegen den Strich gehen, die ihren Herrschaftsanspruch gefährden könnten.‘“
Die Geschichte der kritischen (Kritischen) Psychologie hängt eng mit der Geschichte des Psychologischen Instituts an der Freien Universität Berlin (PI) zusammen: Der Arbeitszusammenhang entstand dort im Zuge der Studentenbewegung etwa 1968 und konnte sich auch nur dort langfristig institutionell verankern (obwohl der Ansatz durchaus auch andernorts in Deutschland – z. B. in Tübingen – und international – z. B. in Kopenhagen – an Universitäten und Fachhochschulen vertreten wird).
Die vorbereitenden Arbeiten von Holzkamp, Staeuble und anderen in Berlin wurden in Westdeutschland und Westeuropa früh rezipiert. Studierende, Tutoren und Assistenten an Universitäten wie Bochum, Marburg, Hannover u. v. a. griffen den antibürgerlichen Ansatz auf und veranstalteten nach Kräften entsprechende Seminare und gestalteten Veröffentlichungen. Als Beispiel soll die Arbeit der Bochumer Hermann Buhren, Ali Wacker und Adam Zureck dienen. Sie gaben bereits 1969 einen Reader "Kritische Psychologie" heraus, einen Raubdruck mit Texten von Herbert Marcuse, Jürgen Fijalkowski, Horst Baier, Klaus Holzkamp, Theodor W. Adorno, J.D. Bernal, Irmingard Staeuble, Wilhelm Reich sowie das Krofdorfer Manifest[4], eine "Diskussion mit Peter Brückner" sowie eine Kongress-Resolution aus Hannover. Kurz zuvor hatte nämlich am 15.–16. Mai 1969 in Hannover der Kongress "Kritische und Oppositionelle Psychologie" stattgefunden. Er verlief nicht konstruktiv, da ein nicht lösbarer Streit zwischen Psychologen, die die Organisationsfrage stellten und jenen, die die vorfindbare psychologische Theorie/Praxis in ihren Abläufen zerschlagen wollten alle Aufbauversuche lähmte.
1977 fand der erste „Kongress Kritische Psychologie“ im Kontext "Holzkamp-Schule" mit mehr als 3000 Teilnehmern in Marburg statt[5], dem in jeweils größeren Abständen drei weitere folgten. Der bislang letzte tagte 1997 in Berlin.[6] Zudem wurden seit 1983 unter dem Namen „internationale Ferienuniversität“ bislang neun weitere Konferenzen abgehalten, seit 2010 wieder regelmäßig alle zwei Jahre an der FU-Berlin bzw. der Alice-Salomon-Hochschule Berlin.[7]
1978 wurde die Zeitschrift „Forum Kritische Psychologie“ (FKP) mit dem Ziel gegründet, die wissenschaftliche Entwicklung der kritischen Psychologie zu fördern und zu dokumentieren.[8] Seit der 5. Ausgabe erscheinen im FKP regelmäßig Bibliographien zur kritischen Psychologie. Der jeweils aktuelle Stand (und viele weitere Informationen) finden sich auch online auf der Homepage der „Gesellschaft für subjektwissenschaftliche Forschung und Praxis e. V.“.
Seit Ende der 1980er Jahre verschlechterte sich die institutionelle Situation der kritischen Psychologie zusehends. Exemplarisch verlief die Entwicklung an der FU Berlin: 1995 wurden die beiden psychologischen Institute gegen Proteste der Studierenden wieder zusammengelegt, wodurch sich die Mehrheitsverhältnisse in den hochschulpolitischen Gremien verschoben. Klaus Holzkamps Professur wurde nach dessen Tod 1995 nicht wieder besetzt. Die FU war wie auch die anderen Berliner Universitäten in den folgenden Jahren wiederholt von Mittelkürzungen betroffen und sah sich der Vorgabe gegenüber, Stellen in der Lehre zu streichen. Auch Universitätsstreiks konnten daran nichts ändern. Der politische Wille, die kritische Psychologie gegen den Sparzwang zu verteidigen, war zwar bei einem großen Teil der Studierenden, nicht aber bei den Entscheidungsträgern vorhanden, die hier wie auch an anderen Fachbereichen und Universitäten die Gelegenheit nutzten, den Umbau der Hochschule voranzutreiben.
Trotzdem wird heute, 2013, Kritische Psychologie weiterhin, wenn auch unter wesentlich schlechteren Bedingungen als in den 1970er und 1980er Jahren, gelehrt und weiterentwickelt. Beispielsweise bot die Alice Salomon Hochschule Berlin in den Jahren 2012, 2014, 2016 und 2018 ihre Ferienuni Kritische Psychologie an.[9] Die fünftägige Veranstaltung im September 2018 wurde von mehr als 900 Teilnehmenden besucht.[10]
Besteht der Zweck wissenschaftlicher Arbeit darin, bereits bestehende theoretische Vorstellungen über einen Gegenstandsbereich in Frage zu stellen, zu ergänzen, neu zu ordnen und ggf. zu verwerfen sind, kann Wissenschaft prinzipiell als „kritisch“ bezeichnet werden. Vor diesem Hintergrund entsteht daher häufig die Frage, weshalb in der Bezeichnung „kritische Psychologie“ eine (scheinbare) Selbstverständlichkeit unterstrichen wird. Ihre Vertreter begründen dies mit dem Anspruch, einen zusätzlichen Akzent des „Kritischen“ auf der Herausstellung der gesellschaftlichen Bedingtheit der „bürgerlichen“ Psychologie zu legen: Kritisiert werden gesellschaftliche Zustände, in denen der Mensch nach Marx „ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen“ sei.[11] Kritisiert wird die „institutionelle“ Psychologie, die diese Verhältnisse nicht nur in sich abbilde, sondern auch zu deren Aufrechterhaltung beitrage, und zwar nicht erst dort, wo sie sich instrumentell in Dienst nehmen lasse (z. B. zur Effektivierung von Foltermethoden), sondern schon auf theoretischer Ebene – indem sie Menschen begrifflich und methodisch auf das Niveau geschichtsloser Organismen reduziere, die mit Zwangsläufigkeit auf eine naturförmige Umwelt reagieren.
Ausgangspunkt kritisch-psychologischer Forschung war die Kritik an Konzepten der traditionellen Psychologie, die allerdings schon früh zur Arbeit an neuen, dem Anspruch nach adäquateren, psychologischen Grundbegriffen führte.[13] Grundbegriffe oder „Kategorien“ sind diejenigen Bestandteile einer wissenschaftlichen Aussage, die „aktualempirisch“ (d. h. durch die Beschreibung und Auslegung aktuell beobachtbarer Geschehnisse) weder bestätigt noch widerlegt werden können, sondern vorab bestimmen, welcher Ausschnitt der Realität mit einer Wissenschaftssprache erfasst werden kann. Nach dem behavioristischen Theorem der „operanten Konditionierung“ zeigen Organismen bspw. spontane Verhaltensweisen häufiger, wenn diese „positiv verstärkt“ werden (ihnen also eine Belohnung folgt). Bei der Realisierung dieses Theorems (z. B. im Tierexperiment) kann zwar die Zusammenhangsannahme empirisch geprüft werden, die mit diesem Begriff formuliert wurde, nicht aber der Begriff der „Verstärkung“ selbst. Alle möglichen Ergebnisse können (und müssen) im begrifflichen Rahmen der „operanten Konditionierung“ interpretiert werden, der selbst dadurch unberührt bleibt: Tritt der Zusammenhang wie erwartet auf, wäre dies z. B. so zu interpretieren, dass eine „positive Verstärkung“ stattgefunden hat; ist dies nicht der Fall, müsste die Interpretation lauten, dass irrtümlich eine Maßnahme gewählt wurde, die für den Organismus keine „positiv verstärkende“ Wirkung hat.
In der kritischen Psychologie wird (ausgehend von Leontjew [1973]) mit der „funktional-historischen Analyse des Psychischen“ der Versuch unternommen, psychologische Kategorien auf historisch-empirischer Grundlage zu entwickeln, und diesen Vorgang so darzustellen, dass er wissenschaftlich diskutiert und kritisch geprüft werden kann. Historische Empirie befasst sich (im Gegensatz zur Aktualempirie, s. u.) mit der naturgeschichtlichen Herausbildung des Psychischen bis zur Anthropogenese, also mit der evolutionären Entwicklung, deren (vorläufiges) Ergebnis der heute lebende Mensch ist. Ziel ist es, Konzepte zu entwickeln, die den psychischen Besonderheiten der menschlichen Gattung gerecht werden. Insbesondere geht es um diejenigen humanspezifischen Fähigkeiten, die im Tier-Mensch-Übergangsfeld evolutionär entstanden und die besondere, gesellschaftliche, Lebensweise der menschlichen Art möglich machten. Damit soll u. a. die Behauptung zurückgewiesen werden, dass die Gesellschaft notwendigerweise im Gegensatz zur menschlichen Natur stehen und die Befriedigung individueller Bedürfnisse versagen müsse – eine Denkfigur, die z. B. für die Psychoanalyse von zentraler Bedeutung ist.[14] Angestrebt ist auch eine biologisch begründete Zurückweisung biologistischer, z. B. sozialdarwinistischer, Argumentationen.
Dazu wird im funktional-historischen Verfahren die naturhistorische Entwicklungslinie rekonstruiert, die zum Menschen führt. Im Einzelnen werden jeweils die konkreten Verhältnisse der Organismen zu ihrer Umwelt und (wo sich Sozialverhalten entwickelt hat) zu den Artgenossen betrachtet. Damit wird gezeigt, dass bestimmte Lebensbedingungen die Entwicklung neuer psychischer Fähigkeiten (durch Mutation) funktional werden ließen, also zu einem Selektionsvorteil führten. Da sich im realen historischen Prozess die Erscheinungsformen des Psychischen immer weiter ausdifferenzierten, wird im funktional-historischen Verfahren ein entsprechend differenziertes Begriffssystem entwickelt, das jeweils den phylogenetisch früher aufgetretenen Phänomenen die allgemeineren Begriffe zuweist – Ausgangspunkt der Analyse ist die allgemeine „Sensibilität“, die bereits Protozoen zukommt, Endpunkt die besondere „gesellschaftlichen Natur“ des Menschen.
Ein wichtiger Zwischenschritt der Entwicklung des Psychischen auf dem Weg zur spezifisch menschlichen gesellschaftlichen Lebensweise liegt z. B. in der Fähigkeit, sogenannte „Mittelbedeutungen“ zu erfassen, also zu begreifen, dass bestimmte Gegenstände nicht bloß in einer bestimmten Situation zufällig verwendbar sind, sondern, da sie zu diesem Zweck hergestellt wurden, allgemein von Menschen zur Lösung einer bestimmten Art von Problemen gebraucht werden können. (Vorausgesetzt ist dabei natürlich die Fähigkeit, situationsangepasst Werkzeuge oder andere Gegenstände herstellen zu können; über diese Fähigkeit verfügen aber nicht nur Menschen, sondern z. B. auch Menschenaffen.) In der Fähigkeit, „Mittelbedeutungen“ zu erfassen, wird die Grundlage der kognitiven Verallgemeinerungsfähigkeit des Menschen gesehen, aber auch einer neuen Form von Erfahrungsweitergabe und Lernfähigkeit, die nicht über soziale Nachahmung, sondern über Gegenstände bzw. deren Bedeutung vermittelt ist.
Mit dem historischen Übergang zur gesellschaftlichen Form der Lebensgewinnung („Dominanzumschlag“) gelangt das funktional-historische Verfahren an seine Grenzen, denn Menschen sehen sich nun nicht mehr unmittelbar einer natürlichen Umwelt gegenüber, sondern ihre individuelle Existenz ist „gesamtgesellschaftlich vermittelt“. Bestimmte Tätigkeiten, die für die Erhaltung der Gesellschaft notwendig sind (z. B. die Nahrungsmittelproduktion), müssen nicht von jedem einzelnen Menschen ausgeübt werden, sondern nur von einem (ausreichend großen) Teil der Menschen, die in einer Gesellschaft organisiert sind. Individuelles Handeln wird daher nicht unmittelbar durch gegebene Lebensumstände „bedingt“, Menschen handeln aber auch nicht willkürlich und in einem idealistisch verklärten Sinne „frei“, d. h. ohne Rücksicht auf ihre Lebensbedingungen nehmen zu müssen. Angemessener ist es, von der „subjektiven Begründetheit“ menschlichen Handelns zu sprechen: Für das Individuum stellen gesellschaftliche Handlungsnotwendigkeiten lediglich Handlungsmöglichkeiten dar, zu denen es sich bewusst verhalten kann. Hierin liegt seine relative Freiheit: Es kann vorhandene Möglichkeiten zu Prämissen seiner Handlungsintentionen machen und versuchen, sie zu verwirklichen, muss dies aber nicht tun.
Dabei gilt der (von Klaus Holzkamp als „materiales Apriori der Individualwissenschaft“ gefasste) Grundsatz, dass sich kein Mensch bewusst schaden kann.[15] Versuche, die Geltung dieses Satzes durch Gegenbeispiele zu widerlegen, sind, da es sich um einen apriorischen Satz handelt, sinnlos und lassen sich im Wesentlichen durch zwei Argumente entkräften: Erstens kann, was vom Außenstandpunkt als Selbstschädigung erscheint, vom Subjektstandpunkt durchaus einen positiven Sinn haben – z. B. das Hungern einer Anorektikerin; zweitens ist es unbenommen, dass sich Menschen unbewusst schaden können – z. B. der Psychologe, dem es nicht gelingt, seiner Klientel zu helfen, seine Frustration aber so lange nicht auf seine schlechten Arbeitsbedingungen zurückführen und diese daher nicht verändern kann, wie er sie den Klienten als deren „Beratungsresistenz“ in die Schuhe schiebt.
Mit der geschilderten Möglichkeitsbeziehung zur Welt geht die menschliche Potenz einher, eine „gnostische“ Distanz zur Welt einzunehmen und sich auf Mitmenschen „intersubjektiv“ zu beziehen, also die Begründetheit ihrer Sichtweisen und Intentionen zu erkennen und anzuerkennen.
Der Übergang zur gesellschaftlichen Lebensweise verändert auch das Verhältnis der Menschen zu den eigenen Bedürfnissen und Befindlichkeiten: Das Individuum kann nun über die Bedingungen seiner eigenen Lebensgewinnung nur noch in dem Maße verfügen, wie es an der Verfügung über den gesellschaftlichen Prozess ihrer Produktion teilhat. Diese nach dem Dominanzumschlag entstehende Form der Verfügung wird als „personale Handlungsfähigkeit“ bezeichnet.
Prinzipiell stehen Menschen in jeder historischen Situation vor der Alternative, entweder die Handlungsmöglichkeiten, die ihnen in ihrer besonderen gesellschaftlichen Lage zur Verfügung stehen, zu nutzen und sich mit deren Beschränktheit abzufinden, oder zu versuchen, die allgemeine Verfügung über die Möglichkeiten individuellen Handelns (gemeinsam mit Anderen) zu erweitern, d. h. gesellschaftliche Bedingungen zu verändern. Zur Analyse der Widersprüche, die dabei zwischen dem Interesse an der Absicherung des einmal erreichten Niveaus an Handlungsfähigkeit und der riskanten Möglichkeit seiner Erweiterung auftreten, dient das Begriffspaar „verallgemeinerte“ versus „restriktive Handlungsfähigkeit“.
Besonders relevant wird diese Analyse in der bürgerlichen Klassengesellschaft, die Holzkamp in ihren allgemeinsten Zügen analysiert und durch einen Antagonismus von Allgemeininteresse und Verwertungsinteresse des Kapitals geprägt sieht: So müssen Lohnabhängige, um leben zu können, sich mit fremdbestimmten Arbeitsbedingungen arrangieren und ihre Arbeitskraft an produktionsmittelbesitzende Kapitalisten verkaufen, die sich den in der Arbeit produzierten Mehrwert aneignen. Gleichzeitig ist es ideologisch nahegelegt, dieses historisch bestimmte Ausbeutungsverhältnis als unveränderliches Naturverhältnis zu deuten. Macht- und Herrschaftsverhältnisse führen somit in der kapitalistischen Gesellschaft dazu, dass die meisten Menschen von der Verfügung über die eigenen Angelegenheiten weitgehend ausgeschlossen sind. Unter diesen Umständen ist die Absicherung der eigenen Position häufig (wenn nicht immer) gleichbedeutend damit, die Bedingungen der eigenen Unterdrückung, aber auch der Unterdrückung anderer, zu reproduzieren.
Die sozialen Implikationen von Handlungsbegründungen im Sinne „verallgemeinerter“ bzw. „restriktiver Handlungsfähigkeit“ werden mit den Begriffen „intersubjektive Beziehungen“ bzw. „Instrumentalbeziehungen“ analysiert: Dadurch wird z. B. die Frage behandelbar, wieweit in einer Beziehung allgemeine Interessen gegen die herrschenden Partialinteressen kooperativ verfolgt werden (können), oder ob Beziehungen durch die wechselseitige Indienstnahme des jeweils anderen für die eigenen Partialinteressen gekennzeichnet sind.
Die Implikationen für die psychischen Funktionsaspekte der Handlungsfähigkeit, Kognition, Emotion und Motivation, werden durch weitere begriffliche Differenzierungen berücksichtigt. Mit dem Begriffspaar „Begreifen“ versus „Deuten“ ist u. a. die Frage angesprochen, ob die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz im eigenen Denken aufgehoben oder eliminiert, und damit die unmittelbare Erfahrung der individuellen Lebenslage als Grenze möglicher Erkenntnis akzeptiert wird. Mit Hilfe der Begriffe „verallgemeinerte“ und „restriktive Emotionalität“ lässt sich u. a. klären, wieweit emotionales Unbehagen, das restriktiv funktionale Handlungsbegründungen begleitet, so aufgeschlüsselt werden kann, dass real einschränkende Bedingungen erkennbar werden. Die Alternative besteht darin, unliebsame Emotionen (dem Anschein nach) von den realen Lebensbedingungen zu trennen und als Momente von „Innerlichkeit“ aufzufassen. Der Begriff „innerer Zwang“ schließlich ermöglicht die Analyse der Frage, wieweit man fremdgesetzte Anforderungen so „verinnerlicht“, dass ihr Ursprung in Herrschaftsverhältnissen nicht mehr erkennbar wird, und sie subjektiv nicht mehr ohne Weiteres von „motiviert“, d. h. auch im eigenen Interesse, verfolgbaren Anforderungen unterschieden werden können.
Do'stlaringiz bilan baham: |