I.5. V
iertes Kapitel: Das Tischgespräch: Die Firma Ratenkamp. Thema
mit Variationen
Le présent est chargé du passé et gros de l'avenir.
35
Leibniz
Das Tischgespräch hat zunächst das neue Haus zum Thema. Die Familie, die vorher
darin gelebt hat, ist verarmt und davongezogen. Es war ebenfalls eine Kaufmannsfamilie,
und in ihrem Schicksal ist bis ins Detail das der Buddenbrooks vorweggenommen.
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Jean läßt sich so weit von der ihn plötzlich überkommenden düsteren Stimmung
hinreißen, daß er sich fast mit Dietrich Ratenkamp identifiziert und versucht, dessen
Gefühle angesichts des Abstiegs nachzuempfinden. "Er war wie gelähmt (...) er fühlte,
daß es nun unaufhaltsam zu Ende ging" (M,I,24), sagt er - und wieder ist dies ein
Vorgriff, denn genauso wird es später Thomas ergehen, wenn er den Höhepunkt seiner
Karriere erreicht haben wird; auch er wird "wie gelähmt" sein.
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Auch hat die
unglückliche Wahl des Kompagnons den Niedergang der Ratenkampschen Firma
beschleunigt, was sich wiederholen wird, wenn Thomas Herrn Marcus zum Associé
macht.
Die Schicksale der beiden Familien und Firmen werden mehrfach mit wörtlich
gleichen Formulierungen geschildert.
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So sagt Jean: "Mit Ratenkamp & Comp. fing es
damals an, aufs glänzendste bergauf zu gehen" (M,I,23). Wenig später heißt es über
die Geschichte der Familie Buddenbrook: "Schon der Gewandschneidermeister zu
Rostock hatte sich sehr gut gestanden, und seit seiner Zeit war es immer glänzender
bergauf gegangen" (M,I,107). Ratenkamps Kompagnon wird der Vorwurf gemacht,
daß er "bitter wenig Kapital hinzubrachte" (M,I,24), und auch die Mittel, die Herr
Marcus in die Firma einbringt, "sind nur allzu geringe" (M,I,255). Ratenkamp, so Jean,
müsse "das Bedürfnis gehabt haben, einen Teil der furchtbaren Verantwortlichkeit
auf irgend jemanden abzuwälzen" (M,I,24), und Thomas dankt Herrn Marcus mit
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Waldtraut Schleifenbaum: Thomas Manns "Buddenbrooks". Ein Beitrag zur Gestaltanalyse von
Dichtwerken, Diss. Bonn 1956, S.36
35
"Die Gegenwart ist beladen mit der Vergangenheit und geht schwanger mit der Zukunft ."
36
Vgl. Vogt: Buddenbrooks, S.21 und Gertrude Michielsen: The preparation of the future.
Techniques of anticipation in the novels of Theodor Fontane and Thomas Mann, Bern, Frankfurt
am Main, Las Vegas 1978, S.15
37
Vgl. M,I,468
38
Vgl. zum folgenden: Uwe Ebel: Welthaftigkeit als Welthaltigkeit. Zum Verhältnis von
mimetischem und poetischem Anspruch in Thomas Manns "Buddenbrooks" , in: Rolf Wiecker
(Hrsg.): Gedenkschrift für Thomas Mann, Kopenhagen 1975, S.9-51, S.22ff.
19
den Worten: "dann danke ich Ihnen herzlich für Ihre Bereitwilligkeit, einen Teil der
großen Verantwortlichkeit zu übernehmen, die für mich vielleicht zu schwer wäre"
(M,I,255). Über die Ratenkamps wird gesagt, daß sie "verarmt, heruntergekommen
davongezogen" seien, "diese Firma hatte abgewirtschaftet, diese alte Familie war
passée" (M,I,24). Als den Buddenbrooks durch den Verkauf des Hauses an
Hagenströms Ähnliches bevorsteht, sagt Tony: "Es würde bedeuten: Buddenbrooks sind
fertig, sie sind endgültig abgetan, sie ziehen ab, und Hagenströms rücken mit
Kling und Klang an ihre Stelle" (M,I,598, alle Hervorhebungen v.d.V.).
"Die Ratenkampsche Familiengeschichte, die beim Einweihungsfest mitgeteilt wird,
fungiert als Thema, das der Roman in zweifacher Variation entfaltet",
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und zwar in den
Schicksalen der Buddenbrooks und Hagenströms. Bei genauem Lesen kann der Leser
die einzelnen Stufen von Aufstieg und Verfall bei den Buddenbrooks wiedererkennend
identifizieren mit denen der Ratenkamps. Mit der "teils inhaltlichen, teils wörtlichen
Aufnahme von Einzelheiten des Berichts"
40
über beide Familien setzt der Erzähler
"Signale (...), die das Geschehen deuten, ohne diese Deutung durch
Erzählerkommentare zu vermitteln".
41
Diese Erzähltechnik legt es nahe, früh die
Gesetzmäßigkeit von Aufstieg und Fall in den drei Familien- und Firmenschicksalen zu
erkennen. Der Niedergang der Hagenströms findet zwar nicht mehr im Roman selbst
statt, wird aber durch zuverlässige Vorausdeutungen sicher vorhergesagt.
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Zudem weist
Jeans fatalistische Äußerung über die Notwendigkeit des Niedergangs der Ratenkamps
auf die fatalistische Haltung Thomas' und Hannos voraus, die z.B. in dem Sprichwort
deutlich wird, das Thomas auf seinen Hausbau bezieht: "Wenn das Haus fertig ist, so
kommt der Tod" (M,I,431).
Die Machenschaften des Ratenkampschen Kompagnons, über die ebenfalls
gesprochen wird (M,I,24), werden sich bei Grünlich wiederholen: "Ich weiß es aus
bester Quelle, meine Herrschaften, wie greulich der hinter Ratenkamps Rücken
spekuliert und Wechsel hier und Akzepte dort auf den Namen der Firma gegeben
hat... Schließlich war es aus... Da waren die Banken mißtrauisch, da fehlte die
Deckung" (M,I,24, Hervorhebungen v.d.V.).
43
Im ersten Teil der Buddenbrooks fällt auf, daß immer wieder zahlreiche
Anspielungen auf die Zukunft gemacht werden, diese jedoch jedesmal aufgefangen und
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Ebel: Welthaftigkeit, S.22
40
Ebel: Welthaftigkeit, S.22
41
Ebel: Welthaftigkeit, S.22
42
Vgl. Ebel: Welthaftigkeit, S.23, Ernst Keller: Das Problem "Verfall", in: Ken Moulden und Gero
von Wilpert (Hrsg.): Buddenbrooks-Handbuch, Stuttgart 1988, S.160 und diese Arbeit, Kapitel
III.4., S.81ff.
43
Vgl. M,I,206ff u. 224ff.
20
abgemildert werden.
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Jeans Gespräch mit der Konsulin über Gottholds Brief wurde
vom fröhlichen Essen abgelöst, und seine jetzigen düsteren und seiner Rolle als heiter-
unterhaltsamer Gastgeber nicht entsprechenden Reflexionen werden kurzerhand von
seinem Vater abgebrochen: "Na, assez, Jean (...) Das ist wieder so eine von deinen
idées...". Und Leberecht Kröger meint: "Nein, halten wir es mit der fröhlichen
Gegenwart!" (M,I,25).
Doch das Gespräch wendet sich sofort wieder der Vergangenheit zu, und in Pastor
Wunderlichs warnenden Worten, daß "diese fröhliche Gegenwart (...) immerhin nicht so
ganz selbstverständlich" sei (M,I,25), wobei er den Vergleich mit der Vergangenheit und
nicht mit der Zukunft meint, scheint wieder für den Leser eine Mahnung versteckt, die
Zukunft könne anders aussehen als dieser Abend. Wunderlich erzählt nun, wie er im
Jahre 1806 Madame Antoinette begegnete, als diese gerade in die Trave gehen wollte,
weil Napoleons Truppen im Begriff waren, ihr Silber zu stehlen. Der Pastor konnte
damals das weitere Plündern verhindern. In etwas anderer Form wird es solch eine
Plünderung später noch einmal geben - und dann durch das hauseigene Personal. Nach
dem Tod der Konsulin werden "Waschkörbe voller Kleider und Leinenzeug (...) aus
dem Hause geschafft... das Personal teilt sich (...) die Sachen, denn die Severin hat die
Schlüssel zu den Schränken" (M,I,569f.). Kein Hausfreund der Familie wird dann mehr
eingreifen, und Thomas wird schon nicht mehr die Kraft aufbringen, sich dagegen zur
Wehr zu setzen.
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